Das Kinderrechte-die-nichts-ändern-(sollen)-Gesetz: Sprache und Standort

von MIRIAM LEMMERT

Am 11. Januar wurde bekannt, was bereits vor Weihnachten erzielt worden war: Eine Einigung der GroKo über die explizite Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz. Nachdem der auf den Ergebnissen einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe beruhende Gesetzentwurf des SPD-geführten Justizministeriums bereits seit November 2019 vorlag, war hiermit fast schon nicht mehr zu rechnen.

Allerdings erscheint fraglich, ob sich im Bundestag eine Zweidrittel-Mehrheit (473 Stimmen) hierfür finden wird – Linke und Grüne halten den Entwurf für unzureichend, nachdem sie seit Jahren immer wieder wesentlich weitergehende Gesetzentwürfe hierzu vorgelegt hatten. Einfacher und auch ausreichend wäre es wohl, die FDP zu überzeugen (zusammen 478 Sitze). Diese hatte in der Vergangenheit vor einer Entwertung des Elternrechts gewarnt – angesichts des vorliegenden Entwurfs scheint diese Sorge jedoch unbegründet.

Wie wir nämlich im Folgenden sehen werden, ist der angesichts der Differenzen zum BMJV-Entwurf namentlich von der Union verantwortete „Kompromiss“ genau das, was die Union hier wie auch in anderen Verfassungsänderungs- bzw. Emanzipationsdebatten immer gern bemängelt(e): Symbolpolitik. Und noch dazu keine schöne. Im Stile jüngerer Gesetzesnamen könnte es eigentlich „Kinderrechte-die-nichts-ändern-(sollen)-Gesetz“ heißen. Obwohl dies auch von der SPD kritisiert wurde, ändert sich sprachlich nichts an der Objektstellung des Kindes im GG; allgemein macht die gewählte Sprache stutzig und vermag nicht so recht zu (sonstigen) Grundrechten zu passen. Die Symbolkraft der symbolpolitischen Formulierung lässt zu wünschen übrig, die Bürokratie lässt grüßen. Zudem erscheint der Charakter der Regelung (Grundrecht oder Staatsziel) höchst fraglich.

Insgesamt erstaunt, dass sich in einem Vorschlag, dem immerhin knapp 1,5 Jahre Beratungen in einer 25-köpfigen, aus Bund- und Ländervertretern zusammengesetzten Arbeitsgruppe, vorausgegangen sind, kaum Anleihen an deren Überlegungen und Ergebnisse finden lassen.

Ziel dieses Beitrags ist die Analyse des Koalitionsentwurfs, insb. ein Abgleich mit dem Entwurf des BMJV. Um der Frage nach dem „Warum“ des GroKo-Regelungsmodus auf den Grund zu gehen, erfolgt hierbei eine Auseinandersetzung mit dem Abschlussbericht erwähnter Arbeitsgruppe sowie im Zuge dessen auch die Herstellung von Bezügen zu Forderungen und Befürchtungen bzgl. der Schaffung einer entsprechenden Regelung.

Der erste Teil des Beitrags widmet sich schwerpunktmäßig Sprache und Standort der entworfenen Regelung, der zweite Teil beschäftigt sich mit ihrem Inhalt.

Die Entwürfe

BMJV:

Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.

GroKo:

Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.

Der Standort

Während der BMJV-Entwurf einen neu zu schaffenden Art. 6 Abs. 1a GG vorsieht, ist der genaue Standort des GroKo-Entwurfs noch nicht bekannt; Medienberichten ist übereinstimmend nur eine Änderung des Art. 6 GG zu entnehmen.

Angesichts von S. 4 böte sich ein Standort hinter dem Elterngrundrecht in Abs. 2 (ggf. auch 3) an, um ein Vorgreifen zu verhindern. Diese Reihenfolge wurde im Rahmen der Arbeitsgruppe aber insofern kritisch gesehen, dass das Einzufügende im Sinne einer Konkretisierung ausgelegt werden und damit als stärkere Prägung von Elternverantwortung oder Wächteramt angesehen werden könnte. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr einer Relativierung des Anliegens – nach dem Motto: Kinderrechte second.

Aus dem Standort in Art. 6 GG allgemein lässt sich ableiten, dass Kinder weiterhin im Kontext der Familie gesehen werden bzw. ihre natürliche Verankerung hier rechtlich perpetuiert wird. Dies kann man als bloße Verdeutlichung der Kinderrechte bei mangelnder Änderung des Status quo auffassen, darüber hinaus aber auch als Zeichen dafür sehen, dass Kinder weiterhin als „Anhängsel“ der Eltern (und entgegen des formulierten Persönlichkeitsrechts nicht als eigenständige Persönlichkeit) betrachtet werden. Um eine grundrechtliche Gleichstellung von Kindern von Grund auf zu verdeutlichen, wäre ein eigenständiger Art. 2a GG zwischen dem Recht auf Persönlichkeitsentfaltung in Art. 2 Abs. 1 und dem Gleichheitsrecht des Art. 3 Abs. 1 GG (dessen Schutz vor Altersdiskriminierung viel zu häufig nur in Bezug auf ältere Menschen zum Tragen kommt) wohl am geeignetsten, scheint aber derzeit nicht in Rede zu stehen.

Die Sprache

Die grammatikalische Betrachtung der Sätze 1-3 des GroKo-Entwurfs zeigt, dass Kinder – anders als im BMJV-Entwurf – nicht im Zentrum des Satzes stehen: Das grammatikalische Subjekt sind in S. 1 die Rechte, in S. 2 das Wohl und in S. 3 der Anspruch. Schon in der Arbeitsgruppe war diskutiert worden, ob eine kindzentrierte (= subjektive Berechtigung), oder bloß kindbezogene (= objektive Verpflichtung) Formulierung angebracht sei; als Argument für letzteres und auch für die Streichung des Begriffs der „Förderung“ wurde insb. die Furcht vor Auslegungen angeführt, die Kostenfolgen verursachen (vgl. AG-Bericht, S. 35, 40 f.).

Hinzu tritt die gegenüber bisherigen Entwürfen beispiellose Passivumschreibung sein+zu+Infinitiv („sind zu“). Ihre passivische Bedeutung nimmt die Verantwortung des Staates zurück, was bei einer befürchteten Balanceverschiebung zulasten des Elternrechts charmant wirken könnte, aber sie lässt den Entwurf nicht nur unglaublich bürokratisch und wenig nach pathetischer Verfassung klingen – sondern zunehmend nach Staatszielbestimmung und wenig nach subjektivem Recht („hat das Recht“). Denkbar wäre zwar, dass diese Konstruktion bloß dem Voraussetzen bereits bestehender Rechte geschuldet ist und dadurch bloß deren Bekräftigung erfolgen soll; hierzu würde auch das andauernde Bestreiten des Bestehens einer Regelungslücke bzgl. Kinderrechten im GG passen. Bei S. 1 und 3 wird dieses Voraussetzen jedoch schon durch die Formulierung „verfassungsmäßige“ bzw. „verfassungsrechtliche“ deutlich, eine weitere Betonung braucht es nicht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwar eine deklaratorische Inbezugnahme mit Warn- und Erinnerungsfunktion vorgelegt wurde, diese es aber versäumt, die Stellung des Kindes als Rechtssubjekt auch sprachlich hervorzuheben, wodurch ihr Gehalt geschmälert wird. Dies ist zugleich Zeichen für die Intention, nichts zu ändern, sowie deren logische Folge.

In den Sätzen 1 und 3 findet sich gegenüber dem BMJV-Entwurf zudem eine Umstellung vom Singular auf den Plural („jedes Kind“ vs. „der Kinder“). „Jedes“ enthält neben einer Gleichheitskomponente auch eine Subjektivierung; der Plural im GroKo-Entwurf deutet hingegen auf eine Betrachtung der Gesamtheit der Kinder als Bevölkerungsgruppe hin und unterstützt die vorgenannten Indizien für eine Deutung als bloßes Staatsziel. Eine Auslegung als Betonung dahingehend, dass der einheitliche Freiheitsschutz auch für Kinder als solche gelte und die neue Regelung dies nur klarstellen solle, stünde im Kontrast zu sonstigen individuell formulierten Grundrechten.

Grundrecht oder Staatsziel?

Der Auftrag des Koalitionsvertrags ist klar formuliert: „Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen.“ Die Verankerung eines Staatsziels, welches keine einklagbaren Rechte enthält, wäre zur Erfüllung dieses Versprechens nicht in der Lage. Wie steht es also um den Charakter des vorgelegten Regelungsentwurfs?

Der Standort verrät nicht viel: Zwar wären die Kinderrechte, anders als das Staatsziel des Art. 20a GG, eingereiht in den mit „Die Grundrechte“ überschriebenen ersten Abschnitt des GG. Das allein heißt aber noch nichts, denn hier findet sich auch die als Staatsziel interpretierte tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung in Art. 3 Abs. 2 GG. Diese Verortung könnte wiederum der Tatsache Rechnung tragen, dass es bei Kindern und Frauen immerhin um Menschen geht, eine Nähe zu den Grundrechten daher gegeben ist.

Gegen eine damit in Rede stehende strukturelle Vergleichbarkeit mit Art. 3 Abs. 2 GG könnte allerdings sprechen, dass dieser immerhin als eigenständiger Absatz zusätzlich zu Art. 3 Abs. 3 GG formuliert ist – wie der genaue Standort des GroKo-Entwurfs aussieht, bleibt abzuwarten.

Für ein bloßes Staatsziel spricht das abstrakte In-den-Blick-nehmen der Gesamtheit der Kinder, nicht des Individuums. Im Gegensatz zu Art. 20a und Art. 3 Abs. 2 GG ist der Entwurf jedoch passivisch formuliert, es heißt nicht „der Staat…“. Dass er hierdurch etwas schwächer wirkt, dient aber wohl vor allem der Vermeidung einer Überbetonung der staatlichen Eingriffsrechte und ist im Zusammenhang mit S. 4 zu sehen (s.o.).

Grundsätzlich sollte ein Staatsziel von einem Grundrecht möglichst klar abgegrenzt werden können, auch um klarzustellen, was der/die Bürger*in vom Staat erwarten kann. Andererseits stellt sich hier die Frage, ob dies überhaupt etwas ändern würde, da mit der expliziten Ausformulierung von Kinderrechten keine Änderung des Status quo herbeigeführt werden soll und Kinder weiterhin Träger der in Bezug genommenen Rechte sind. Für die Qualität des Entwurfs spricht es jedenfalls nicht.

Zitiervorschlag: Miriam Lemmert, Das Kinderrechte-die-nichts-ändern-(sollen)-Gesetz: Sprache und Standort, JuWissBlog Nr. 6/2021 v. 18.01.2021, https://www.juwiss.de/06-2021/.

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