von NICO SCHRÖTER
Vor zwei Wochen wurde Josef Christ vom Deutschen Bundestag zum 107. Richter am Bundesverfassungsgericht gewählt – erstmalig nicht durch den Wahlausschuss, sondern das Plenum des Bundestages. Dies gibt Anlass zur Reflexion über die Geschichte des Wahlprozesses und die tatsächliche Wahlpraxis. Zudem lässt sich überlegen, welche Rückschlüsse sich aus dem Wahlergebnis ziehen lassen und welche Folgen der geänderte Wahlprozess für die zukünftige Besetzung des Gerichts haben mag.
Die letzte Sitzungswoche des 18. Deutschen Bundestages bot neben einer vielbeachteten Rede des scheidenden Bundestagspräsidenten auch die Wahl eines zukünftigen Richters am Bundesverfassungsgericht. Unter deutlich geringerer medialer Aufmerksamkeit wurde Josef Christ zum Nachfolger von Wilhelm Schluckebier bestimmt. Als erster der vom Bundestag gewählten Verfassungsrichter wurde Christ nicht im Wahlausschuss, sondern durch das Plenum des Bundestages gewählt.
Segensreiche Intransparenz
Gem. Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG werden die BundesverfassungsrichterInnen „je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt.“ Im Bundesrat geschieht dies durch Plenumsentscheidung. Der Bundestag hingegen delegierte die Richterwahl bislang an einen 12-köpfigen Wahlausschuss, dessen Mitglieder nach den Regeln der Verhältniswahl bestimmt werden. So besteht der jetzige Wahlausschuss aus sechs Abgeordneten der CDU/CSU, vier Abgeordneten der SPD und jeweils einem/r Abgeordneten der Oppositionsparteien. Für die Wahl war nach § 6 BVerfGG a.F. die qualifizierte Mehrheitsentscheidung dieses geheim tagenden Ausschusses erforderlich. Über die Verfassungsmäßigkeit der indirekten Richterwahl – namentlich, ob es sich noch um eine Wahl „vom Bundestage“ handelt – wird seit jeher gestritten. Zwar ist der Wahlausschuss paritätisch besetzt; die große Mehrzahl der Abgeordneten wird durch dieses Verfahren dennoch von einer direkten Mitwirkung ausgeschlossen.
Allerdings wird einer möglichst „geräuschlosen“ Bestimmung der zukünftigen RichterInnen ein hoher Eigenwert beigemessen. So ist der Wahlprozess bisher nicht öffentlich politisiert. Diskussionen über die politische Einstellung künftiger VerfassungsrichterInnen finden allenfalls in Fachkreisen statt. Dies fördert das Image des Bundesverfassungsgerichts als unpolitisches Expertengremium, was oftmals als eine seiner wesentlichen Autoritätsressourcen gesehen wird. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat die indirekte Wahl im Jahre 2012 für verfassungsgemäß erklärt. In seiner bemerkenswert kurzen Begründung verwies es dann auch maßgeblich darauf, dass ein entpolitisiertes Wahlverfahren geeignet sei, die Autorität und Funktionsfähigkeit des Gerichts zu sichern. Eine andere Entscheidung hätte freilich bedeutet, eine über Jahre hinweg fehlerhafte eigene Besetzung anzuerkennen.
Die Wahl der VerfassungsrichterInnen ist angesichts ihres erheblichen Einflusses freilich auch ohne öffentliche Diskussion ein politischer Prozess. Da jedoch stets eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, sind die politischen Parteien auf Kooperation angewiesen. Daher entwickelte sich die Konvention, nach der den beiden großen Parteien für jeweils die Hälfte der Senatsmitglieder ein Vorschlagsrecht zukommt, welches sie beizeiten an ihre „kleinen“ Koalitionspartner oder nahestehenden Parteien abtreten. Eine wesentliche Rolle beim „Aushandeln“ von für alle Parteien akzeptablen KandidatInnen kommt dabei den Obleuten der Fraktionen („Richtermachern“) zu. Die eigentliche Wahl erfolgt dann oftmals einstimmig. Dass die Wahl der vom Bundestag zu bestimmenden RichterInnen nicht hunderten ParlamentarierInnen mit freiem Mandat, sondern einer Handvoll PolitikerInnen überlassen war, dürfte die Herausbildung und Aufrechterhaltung dieser Konvention erheblich erleichtert haben.
Die Reform und ihre Vorgeschichte
Nach der „Absegnung“ des Wahlverfahrens durch das Bundesverfassungsgericht selbst bestand (verfassungs-)politisch eigentlich keine Notwendigkeit, das Verfahren zu reformieren. Dennoch beschloss der Bundestag im Juni 2015, dass BVerfGG zu ändern. Nach § 6 BVerfGG n.F. erfolgt die Wahl der vom Bundestag zu bestimmenden RichterInnen nunmehr durch qualifizierte Mehrheitsentscheidung im Plenum, allerdings geheim und ohne vorherige Aussprache. Hierbei stimmen die Abgeordneten über einen zuvor vom Wahlausschuss mit ebenfalls qualifizierter Mehrheit bestimmten Wahlvorschlag ab. Ausweislich der Gesetzesbegründung reagiert der Gesetzgeber hiermit auf die anhaltende Kritik im verfassungsrechtlichen Schrifttum und behält gleichzeitig die Vorteile des bisherigen Verfahrens – u.a. die nicht offensichtliche Politisierung – bei.
Tatsächlich dürfte die Reform nicht bloß der Sorge um eine unzureichende verfassungsrechtliche Legitimation der einzelnen RichterInnen geschuldet gewesen sein. Entstanden war der von allen Fraktionen gemeinsam eingebrachte Gesetzesentwurf nach einer Phase anhaltender Unzufriedenheit insbesondere konservativer PolitikerInnen mit dem als zu aktivistisch empfundenen Bundesverfassungsgericht. So sah sich das Gericht in den Jahren 2012 bis 2014 für heutige Verhältnisse ungewöhnlich scharf formulierter Kritik ausgesetzt, die sich etwa an Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung, zur Gleichstellung homosexueller Paare und zur 3%-Hürde bei Europawahlen entzündete. In der Folge wurden weitreichende Reformen angedacht, um das Bundesverfassungsgericht zu disziplinieren (hierzu auf JuWiss bereits Anna von Notz). Von allen – zum Teil wohl als bloße Warnung an das Gericht zu verstehenden – Überlegungen wurde letztendlich nur die schon zuvor angeregte Reform des Richterwahlprozesses weiterverfolgt. Angesichts dieser Vorgeschichte wäre es naiv, anzunehmen, dass die Reform nicht wenigstens auch von der Hoffnung getragen war, eine Plenumswahl werde die Wahl solcher KandidatInnen bewirken, von denen weniger richterlicher „Aktivismus“ zu erwarten ist.
Abschied von der Einstimmigkeit
Ob sich eine solche Hoffnung bewahrheitet, muss sich erst zeigen. Interessant ist jedoch schon jetzt ein Blick auf das Ergebnis der Wahl. Von 586 abstimmenden Abgeordneten unterstützten 455 den Vorschlag des Wahlausschusses, stimmten 57 mit Nein und enthielten sich 74 der Stimme. Insgesamt 131 Abgeordnete haben den von der CDU/CSU vorgeschlagenen Kandidaten daher nicht ausdrücklich unterstützt. Aufgrund der geheimen Abstimmung lässt sich nur spekulieren, wo dieser Widerstand wurzelt. Da die Opposition jedoch aus nur 128 Abgeordneten besteht, ist es den Spitzen der Regierungskoalition jedenfalls nicht gelungen, alle ihre Abgeordneten hinter dem vorgeschlagenen Kandidaten zu versammeln. Ob dies lediglich der nachlassenden Koalitions- und Fraktionsdisziplin in einer geheimen Wahl am Ende der Legislaturperiode geschuldet oder Ausdruck grundsätzlicherer Unstimmigkeiten ist, kann wiederum nur gemutmaßt werden. Deutlich wird jedenfalls, dass es nunmehr auch fraktionsinternen oder -übergreifenden Parlamentariergruppen leichter möglich ist, Widerstand gegen eine Richterwahl zu organisieren – gerade wenn in Zukunft wieder mehr Parteien im Bundestag vertreten sein werden.
Noch mehr Konsens?
Im Hinblick auf die Repräsentationsfunktion des Bundestages ist die Reform grundsätzlich zu begrüßen. Sie birgt jedoch auch Risiken. Wenn kleineren Parteien und Parlamentariergruppen bei der Richterwahl künftig ein größeres Gewicht zukommt, können sie dieses auch in die Waagschale werfen, um ihre politischen Interessen durchzusetzen. Sie besitzen eine Veto-Position jetzt nicht mehr nur dann, wenn eine Änderung des politischen Status Quo beabsichtigt ist (wie etwa bei einer Grundgesetzänderung oder der Zurückweisung von qualifizierten Einsprüchen des Bundesrates), sondern auch bei der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des ohnehin überlasteten Bundesverfassungsgerichts. In der Folge könnten zukünftig politische Tauschhandel notwendig werden, um einen Gridlock bei der Nachbesetzung des Gerichts zu vermeiden. Dass dies kein bloßes Gedankenspiel ist, zeigt ein Blick in die Anfangsjahre des Bundesverfassungsgerichts. Das anfängliche Erfordernis einer 3/4-Mehrheit im Wahlausschuss wurde erst 1956 durch die nun geltende 2/3‑Mehrheit ersetzt, nachdem man sich zuvor zwei Jahre lang nicht einigen konnte. Schlimmstenfalls müssen sich die Parteien zwischen politischen Kompromissen und der Aufrechterhaltung der vollen Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts entscheiden. Wenn dann die Übereinkunft, dass eine effektive verfassungsrechtliche Kontrolle im Interesse aller politischen Kräfte ist, in Frage gestellt wird, läge hierin der wahre Schaden für das Bundesverfassungsgericht.
Aktuell ist dies freilich Schwarzmalerei. Seine bisher aufgebaute Reputation wird das Bundesverfassungsgericht nicht über Nacht verlieren. Auch lässt sich das Verfassungs- und Amtsverständnis, welches die RichterInnen an den Tag legen, nicht zweifelsfrei vorhersagen. Hierfür ist schließlich auch die Sozialisation am Bundesverfassungsgericht selbst entscheidend. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Wahlausschuss in Zukunft größere (polittaktische) Umsicht bei der Vorauswahl der KandidatInnen walten lassen wird, um möglichen Widerstand im Plenum zu vermeiden. Dies wird wohl zu einer Besetzung des Bundesverfassungsgerichts mit noch „konsensfähigeren“ Richtern führen, als dies bereits der Fall ist. Ob sich hierdurch in letzter Konsequenz die Hoffnungen mancher PolitikerInnen auf „zurückhaltendere“ Entscheidungen des Gerichts bewahrheiten, wird sich zeigen.
4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Lieber Herr Kollege Schröter,
ob die „nicht offensichtliche Politisierung“ der Richterwahl ein „Vorteil“ des Verfahrens ist, wie Sie als Prämisse zugrunde legen, wird man kritisch hinterfragen dürfen. Immerhin gehen auch Sie – mehr oder weniger explizit – davon aus, dass das BVerfG (auch) ein politischer Akteur ist und dass die Richterwahl (selbstverständlich) ein politischer Akt ist. Welcher Vorteil soll sich also daraus ergeben,, dies nicht „offensichtlich“ zu machen? Ein (in seiner Legitimität zweifelhafter) Vorzug kann ja nur darin bestehen, den Mythos (um nicht zu sagen: die Scharade) des apolitischen Gerichts aufrechtzuerhalten, der (ganz offenbar) in Deutschland großen Anklang findet.
Viele Grüße aus Münster
FM
Lieber Herr Michl,
dass die „nicht offensichtliche Politisierung“ ein „Vorteil“ des bisherigen Verfahrens sei, ist nicht meine eigene Prämisse, sondern eine Wiedergabe der verlinkten Gesetzesbegründung. Auch wenn ich am Ende davon spreche, dass mit der Reform „Risiken“ verbunden sind, ist damit nicht gesagt, dass das bisherigen Verfahren unbedingt vorzugswürdig sei. Die von mir aufgezeigten Folgen ergeben sich ja primär nicht bereits aus der bloßen Öffentlichkeit der Wahl (die ja auch jetzt nur bedingt gewährleistet ist), sondern aus der Sperrminorität.
Stattdessen habe ich versucht, mich einer Stellungnahme dazu, welchen Eigenwert die Intransparenz der Richterwahl tatsächlich hat, zu enthalten. Auch noch diese Diskussion zu führen, schiene mir in einem so kurzen Blogbeitrag nicht sinnvoll möglich. Denn eine solche Prämisse dürfte man in der Tat kritisch hinterfragen.
Viele Grüße aus Hamburg
NS
[…] NICO SCHRÖTER takes the recent election of the future constitutional judge Josef Christ – the first to take place according to new rules in the plenary and not in the secrecy of the electoral committee – as an occasion for a delve into constitutional history (in German). […]
[…] auf. Die Bestellung der acht vom Bundestag zu wählenden Richter erfolgt dabei seit einer Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahr 2015 nun auch durch das Parlamentsplenum – wie in allen Bundesländern mit Ausnahme von […]