Heute beginnt in Leipzig die 64. JTÖR 2024 zum Thema „Zukunftsverfassungsrecht“. Im Vorfeld hatte das Organisationsteam die Gelegenheit, vier Professor:inn:en Fragen rund um das Tagungsthema zu stellen. Stehen dabei materielle Aspekte wie die natürliche Lebensgrundlage im Vordergrund oder sollte der Fokus auf dem organisationsrechtlichen Rahmen der Demokratie liegen? Welche anderen Rechtsgebiete und Querschnittsthemen wie etwa die Digitalisierung hätten sich die Professor*innen noch auf der JTÖR gewünscht? Antworten auf diese und weitere Fragen finden sich im folgenden Interview.
Hinweis: Die Antworten auf die Fragen wurden an den gekennzeichneten Stellen aus Platzgründen teilweise gekürzt.
Was verbinden Sie mit der JTÖR? Wie oft waren Sie selbst auf einer JTÖR?
Cornelia Manger-Nestler: Ich habe an zwei JTÖR […] (oder auch gern kleine Staatsrechtslehrertagung) teilgenommen: in Berlin (2007) sowie in Wien (2006). Ich verbinde damit wertvolle Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen, die ich teilweise bis heute sehr aktiv nutze, eine anspruchsvolle, kritische Diskussionskultur […] und jeweils ein tolles Rahmenprogramm, bei dem auch gemeinsames Feiern nicht zu kurz kam.
Dana-Sophia Valentiner: Die JTÖR ist ein Muss für alle Doktorand:innen und PostDocs im Öffentlichen Recht. Hier werden hochaktuelle Forschungsfragen präsentiert und diskutiert. Die JTÖR bietet die wunderbare Gelegenheit, sich mit anderen Forschenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu vernetzen, um gemeinsam an eigenen oder neuen Themen zu arbeiten. […]
Johannes Eichenhofer: Die JTÖR habe ich als das zentrale Forum für den fakultätsübergreifenden Austausch der öffentlich-rechtlichen Nachwuchswissenschaft wahrgenommen. Sowohl die Vielzahl der hier zusammenkommenden, mehr oder weniger gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen als auch die Vielfalt der Themen und methodischen Herangehensweisen haben mich beeindruckt, inspiriert und mir zugleich geholfen, meine eigene Forschung besser einordnen zu können. […]
Wir haben Zukunftsverfassungsrecht in drei Blöcke unterteilt: Ökologie, Partizipation und Wehrhaftigkeit. Natürlich finden sich noch viele weitere Themen, die unter das „Zukunftsverfassungsrecht“ fallen. Welche Subthemen des Zukunftsverfassungsrechts verdienen Ihrer Meinung nach mehr Aufmerksamkeit?
Fabian Michl: Zukunftsverfassungsrecht hat dafür zu sorgen, dass eine Verfassung nicht zu der Tyrannei der Toten über die Lebenden wird, die die amerikanischen Revolutionäre befürchtet haben (und Recht behalten sollten). Es muss die Verfassung also offenhalten für den demokratischen Prozess, der allein gewährleisten kann, dass politische Entscheidungen nicht als Tyrannei empfunden werden. Zukunftsverfassungsrecht muss daher von vornherein auf die Ermöglichung von Demokratie gerichtet sein, der gegenwärtigen und der künftigen.
Dana-Sophia Valentiner: Das Programm versammelt wieder einmal höchst aktuelle und spannende Themen. Für mich gehören zu den Gegenständen eines Zukunftsverfassungsrechts auch die großen „Wenden“, die derzeit gesellschaftlich verhandelt werden: Energiewende, Wärmewende, Verkehrswende, Digitalwende.
Johannes Eichenhofer: Das Thema lädt natürlich dazu ein, die jeweils eigenen Forschungsinteressen hineinzulesen – denn wir alle glauben selbstredend, Themen zu bearbeiten, die für die künftige Entwicklung von Gesellschaft, Staat, EU und der Welt insgesamt besonders bedeutsam sind. In meinem Falle wären dies die zwei großen Zukunftsthemen Digitalisierung und Migration. Aber ich halte die vom diesjährigen Organisationsteam getroffene Auswahl für gleichermaßen nachvollziehbar wie geschickt […].
Das Thema der diesjährigen JTÖR ist „Zukunftsverfassungsrecht“. Wofür steht das Thema für Sie?
Cornelia Manger-Nestler: Mit dem Begriff Zukunftsverfassungsrecht verbinde ich eine maßgebliche Funktionalität von konstitutionellem Recht, unabhängig davon, ob auf gliedstaatlicher, nationaler oder supranationaler Ebene. Mit anderen Worten: Verfassungsrecht soll(te) funktional geeignet sein, einen zukunftstauglichen Rahmen zu geben, der gewisse (Grund-)Rechte stetig zu garantieren vermag und gleichzeitig flexibel genug ist, um Entwicklungen zu ermöglichen, deren rechtliche und sozioökonomische Tragweite wir heute nicht vollumfänglich abschätzen können.
Dana-Sophia Valentiner: Moderne Verfassungen sind für die Zukunft gemacht. Sie stellen grundlegende Bedingungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Gleichheit sicher. Verfassungen geben nicht nur Handlungsspielräume und Grenzen, sondern auch die Richtung für staatliches Handeln vor – besonders deutlich durch Staatszielbestimmungen. Eine spannende Aufgabe für ein Zukunftsverfassungsrecht besteht darin, die Weichen für sozial-ökologische Transformationen zu stellen.
Fabian Michl: In meiner Definition erstreckt sich Zukunftsverfassungsrecht auf alle Politikfelder („Themen“), vor allem aber auf das Organisationsrecht. Denn in materieller Hinsicht kann die Verfassung nur eine Rahmenordnung sein, in organisatorischer Hinsicht hat sie hingegen zu gewährleisten, dass sich der demokratische Prozess in diesem Rahmen entfalten kann. Beide Dimensionen stehen in einem Wechselverhältnis, denn ist der Rahmen zu eng, ist keine Demokratie mehr möglich, ist der Rahmen zu weit, droht die Demokratie zur Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit zu werden, die es ebenso zu verhindern gilt, wie die Tyrannei der Toten über die Lebenden.
Würden Sie sagen, dass der Ökologie als Grundvoraussetzung bzw. natürliche Lebensgrundlage des Menschen eine besondere Stellung oder sogar ein Vorrang im Vergleich zu den anderen Themen zukommt?
Cornelia Manger-Nestler: Der fortschreitende Klimawandel, der einen Transformationsprozess bisher ungekannten Ausmaßes von uns fordert, führt uns unablässig vor Augen, wie begrenzt Ressourcen und verletzlich unsere natürlichen Lebensgrundlagen sind. Bei der Bewältigung von Wandlungsprozessen jeglicher Art kann die normative Rolle von Recht einen wichtigen Beitrag leisten. Speziell für den Klimawandel wirken aus meiner Sicht drei Dimensionen zusammen: erstens, die zeitliche Dimension, die Lösungsansätze erfordert, die über die kurzen Zeiträume von Legislaturperioden hinaus wirken, zweitens, die ökonomische Perspektive, denn der gigantische Investitionsbedarf kann nur durch stärkere Einbeziehung privater Investitionen geschultert werden, und schließlich drittens, die gesamtgesellschaftliche Dimension, der es gelingen muss, Offenheit für Veränderung zu generieren und damit das Bewusstsein, dass Wandel geeignet ist, individuelle Freiheiten nachhaltig zu sichern.
Fabian Michl: In einer Demokratie kann keinem Politikfeld ein abstrakter Vorrang vor den anderen zukommen, da sonst keine Kompromisse mehr gefunden werden können. Kompromisse sind aber die demokratische Entscheidungsform schlechthin, da bei ihnen die widerstreitenden Interessen zum schonendsten Ausgleich kommen und niemand vom anderen „tyrannisiert“ wird. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen, wie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20a GG, bilden wichtige Gesichtspunkte bei der Kompromissfindung, dürfen aber nie absolut verstanden werden. Das Grundgesetz kennt mit der Menschenwürde eine – aus historischen Gründen nachvollziehbare – Ausnahme, auf die man sich aber verfassungspolitisch beschränken sollte.
Die JTÖR wird von Mitgliedern der Universitäten Leipzig, Erfurt und Jena organisiert und findet zum ersten Mal in Leipzig statt. Was verbinden Sie mit Leipzig als Stadt?
Dana-Sophia Valentiner: Als Forschende und Lehrende an einer ostdeutschen Universität freue ich mich sehr über den Ausrichtungsort und die Arbeit des hochschulübergreifenden Teams. Mit Leipzig verbinde ich das Bundesverwaltungsgericht, den 40. & 46. Feministischen Juristinnentag und das Juridicum in der Einkaufspassage. Louise Otto-Peters hat in Leipzig 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein mitgegründet, ein Meilenstein der deutschen Frauenbewegung.
Johannes Eichenhofer: Leipzig ist, wie zahlreiche Statistiken belegen, eine überaus lebenswerte Stadt und für mich persönlich seit meiner Berufung an die hiesige Fakultät vor zwei Jahren auch mein Lebensmittelpunkt. Besonders beeindruckt hat mich seither der fast überall vorzufindende liberale, weltoffene und „moderne“ Geist. Man kann wirklich spüren, dass Leipzig schon seit langer Zeit ein kulturell wie wirtschaftlich bedeutender Ort der Begegnung in der Mitte Deutschlands ist.
Nächstes Jahr feiert die JTÖR ihr 65. Jubiläum. Was wünschen Sie sich für die JTÖR?
Dana-Sophia Valentiner: Die JTÖR könnte durchaus auch wieder „kleinere“ Tagungsthemen wagen, die möglicherweise auch zu „kleineren“ Tagungen führen. Bis dahin wünsche ich der JTÖR, dass die vielen Teilnehmenden die zur JTÖR gehörende Publikationsmöglichkeit auf dem JuWissBlog noch stärker nutzen. Hier besteht die Gelegenheit, Ergebnisse der eigenen Forschung das ganze Jahr über einem breiten Publikum zu präsentieren und in der Community zu diskutieren.
Johannes Eichenhofer: Die JTÖR ist als Forum einzigartig. Gäbe es sie nicht, müsste man sie erfinden. Daher kann ich nur hoffen, dass sich auch gerade für die Jubiläumskonferenz im kommenden Jahr wieder ein Organisationsteam bereitfindet. Die Nachwuchswissenschaft im öffentlichen Recht wird es ihm danken.
Fabian Michl: Dass es leichter wird, Organisationsteams zu finden. Denn die Mühe der Organisation zahlt sich in jeder Hinsicht aus, akademisch, beruflich und persönlich.
Und zum Abschluss: Welchen Rat können Sie jungen Nachwuchswissenschaftler:innen mit auf den Weg geben?
Cornelia Manger-Nestler: Tiefer denken und wacher handeln. Heißt: Bewahren Sie sich einen unabhängigen, kritischen Blick für die eigenen Themen, seien Sie offen für Veränderung, umgeben Sie sich mit Gleichgesinnten und Menschen, die Ihnen gut tun und – ganz wichtig – bleiben Sie sich selbst treu.
Dana-Sophia Valentiner: Vernetzt Euch und seid lieb zueinander. Ellenbogen, Exklusion und „Alte weiße Männer“-Haltung brauchen wir auf der JTÖR nicht. Durch ehrliche Neugier an den Interessen und Fragestellungen anderer, konstruktive Diskussionen und gegenseitige Unterstützung kommen alle weiter und Forschung zum Öffentlichen Recht macht so auch noch richtig Spaß.
Johannes Eichenhofer: Folgen Sie bei Ihren wissenschaftlichen Aktivitäten so weit wie möglich Ihren eigenen Interessen. Das sorgt nicht nur dafür, dass Sie sich dafür begeistern, was Sie tun und dass Sie sich damit identifizieren. Und wenn Sie die Wissenschaft zum Beruf machen wollen, wird sich hoffentlich eines Tages einstellen, was schon Konfuzius wusste: „Wenn du eine Aufgabe hast, die du liebst, wirst du nie wieder arbeiten müssen.“
Fabian Michl: Sich nicht von der deprimierten Stimmung verrückt machen zu lassen, die sich in den letzten Jahren in unseren Kohorten breit gemacht hat. Auch wenn die politische Gestaltung der akademischen Karrierewege einiges zu wünschen übrig lässt, bietet die Rechtswissenschaft so hervorragende Möglichkeiten zur selbstbestimmten Forschung und Lehre, dass man ihr zumindest eine Chance geben sollte. Mit zwei vernünftigen Examina hat man die Alternativkarriere ohnehin in der Tasche. Das ist ein großer Vorteil gegenüber vielen anderen Fächern. Und noch eines: Dass Sie das Wort „Nachwuchswissenschaftler:innen“ bekämpfen. Die Universität ist schließlich keine Aufzuchtstation für „Nachwuchs“, sondern ein Ort, an dem man sich aktiv einbringt und seinen eigenen Geist gebraucht – von Anfang an.
Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Zeit!
Prof. Dr. Johannes Eichenhofer, Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Recht der Digitalisierung der Verwaltung, Informations- und Migrationsrecht, Universität Leipzig
Prof. Dr. Cornelia Manger-Nestler, Professur für Deutsches und Internationales Wirtschaftsrecht, Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig
Jun.-Prof. Dr. Fabian Michl, Professur für Öffentliches Recht und das Recht der Politik, Universität Leipzig
Jun.-Prof. Dana-Sophia Valentiner, Juniorprofessur für Öffentliches Recht, Universität Rostock
Zitiervorschlag: Organisationsteam der 64. JTÖR 2024 Leipzig, Wir fragen, sie antworten: Vier Professor:inn:en über die JTÖR und ihr diesjähriges Thema „Zukunftsverfassungsrecht“, Interview v. 13.08.2024, https://www.juwiss.de/junge-tagung-oeffentliches-recht-2024-interview/.
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