Neun Fragen an… Prof. Dr. Matthias Kettemann, LL.M. (Harvard) und Prof. Dr. Simon Heetkamp, LL.M. zu virtuellen Welten und der Steuerungskraft des Rechts

Interview von NIK ROEINGH

Vom 28. bis 29. September 2024 fand in Speyer der JuWissDay zum Thema „Rechtsfragen virtueller Welten“ statt. Prof. Dr. Matthias Kettemann, LL.M. (Harvard) und Prof. Dr. Simon Heetkamp, LL.M. hielten die beiden Keynotes der Tagung beim Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung. Im Interview sprechen Sie über virtuelle Welten und ob das Recht auf sie vorbereitet ist.

 

JuWiss: Virtuelle Welten wie das Metaverse sind längst keine Zukunftsvision mehr, sondern gelten als „The Next Big Thing“. Ist der Hype aus Ihrer Sicht gerechtfertigt und handelt es sich tatsächlich um das „Internet von morgen“?

Heetkamp: Ja, das denke ich schon. Wer etwa „Das Metaverse“ von Matthew Ball gelesen hat, muss in diese Richtung denken.

Kettemann: Ich bin ja Jurist, also: „Das kommt darauf an“. Stand heute kann hierüber keine eindeutige Aussage getroffen werden, da dies von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängt. Das/die Metaverse/n werden weder auf Knopfdruck auftauchen noch verschwinden. Vielmehr werden der Zugang und der Erfolg meiner Ansicht von der Entwicklung der Hardware, der Software und dem „Content“ abhängig sein. Gerade die Hardware, die noch clunky ist, wird eine große Rolle spielen: Die Hardware, also die bis jetzt noch sehr teuren und klobigen virtuellen Brillen, müssen alltagstauglich und erschwinglich werden. Gerade hier ist man noch weit weg von massentauglichen Optionen, wenn man bedenkt, dass die neue Augmented Reality Brille „Orion“ von Meta Produktionskosten von 10.000 EUR mit sich bringen wird.  Die Software muss so ausgestaltet werden, dass sie sicher und störungsfrei ununterbrochen über die Hardware genutzt werden kann. Schließlich wird auch der „Content“ beziehungsweise der tatsächliche Mehrwert, den diese Technologie am Ende des Tages ermöglichen wird, den Erfolg und somit das Überleben der Metaversen bestimmen.

JuWiss: Ihr Vortrag, Professor Kettemann, spricht „die Möglichkeit der Normen“ in virtuellen Welten an. Ist der aktuelle Rechtsrahmen im Mehrebenensystem denn auf Metaversen vorbereitet oder finden diese noch im Normenvakuum statt?

Kettemann: Gerade durch die Entwicklungen des Digitalrechts auf europäischer Ebene, wie dem DSA, kann man davon ausgehen, dass es Ansatzpunkt eines bestehenden rechtlichen Rahmens gibt, der Fragen um das Metaverse herum beantworten kann. In einzelnen Fragen des Zivilrechts und des Strafrechts ist ebenso der bestehende Rechtsrahmen durchaus in der Lage, streitige Fragen zu beantworten. Ein Kauf im Metaverse etwa ist ja kein Kauf im rechtsfreien Raum – war es auch nie! Allerdings bedarf es natürlich einer Feinjustierung. Besonderheiten, die das Metaverse mit sich bringt, gerade Fragen der Verantwortlichkeit für Handlungen von Avataren, müssen im Einzelfall konkret reguliert werden, da sie keine Entsprechung im bestehenden Recht vorsehen. Hier spielen aber zunächst die internen Regeln eine zentrale Rolle.

JuWiss: Setzen also Private die Normen? Oder Staaten?

Kettemann: In diesem Zusammenhang kann die Diskussion, die gerade bei der Rechtssetzung gegenüber sozialen Plattformen geführt wird, übertragen werden. Solange Metaversen parallel zu Plattformen ausgestaltet sein werden, also ein oder mehrere Unternehmen als Betreiber dahinter identifiziert werden können, wird zukünftig das Recht, welches auf Plattformen gilt, neben gesetzlichen Bestimmungen auch weiterhin von den sog. Terms and Conditions, also den Zugangsregelungen der Betreiber abhängig sein. Ein Beispiel: In einem frühen Metaverse konnte man virtuell Avataren „unter den Rock schauen“ oder durch diese durchgehen. Das wurde als übergriffig wahrgenommen. Das Gesetz konnte nicht helfen, aber nach Protesten wurde anbieterseitig eine Schutzzone um die Avatare eingerichtet. Eine Regulierung durch den Gesetzgeber sollte allerdings auch erst dann erfolgen, wenn die Ausgestaltung der Metaversen stärkere Konturen annimmt, da sich eine Regulierung sonst nicht auf die spezifischen Einzelheiten der einzelnen virtuellen Welten fokussieren kann.

JuWiss: Den DSA haben Sie gerade schon angesprochen. Er soll auf Unionsebene eine neue Ära der Plattformregulierung einleiten, die jedoch erst lange nach dem Bedeutungsgewinn von Plattformen vor 20 Jahren Fahrt aufgenommen hat – bspw. auch mit dem DMA. Müssen wir aus diesen Fehlern für die Regulierung von Metaversen lernen und nicht mehr reaktiv, sondern proaktiv regulativ tätig werden?

Kettemann: Ja, das ist sehr wichtig. Solange sich die Metaversen noch im Entwicklungsstadium befinden, können einzelne Gesetzgeber deren Entwicklung versuchen zu steuern, indem sie einen gewissen Rahmen versuchen zu erarbeiten, in welchem sich die Metaversen bewegen dürfen. Hier sei etwa auf die notwendige Achtung von Grund- oder Menschenrechten verwiesen. Doch wie bereits angesprochen, sofern sich Plattformlösungen für die Metaversen durchsetzen werden, sind die Betreiber dieser ebenfalls an das europäische Regelwerk des DSA und des DMA gebunden, wenn sie innerhalb der Union ihre Dienste anbieten.

JuWiss: Besteht also gar keine Regelungslücke und Aspekte und Einzelfragen virtueller Welten sind bereits vollständig miterfasst?

Kettemann: Natürlich sind im Einzelfall Regelungslücken enthalten, die es zu füllen gilt. Hier muss jedoch noch ein wenig länger die Entwicklung abgewartet werden, um konkrete Vorgaben machen zu können. Das bestehende Regelwerk, insbesondere der Unionsrechtsrahmen kann übernommen werden, wenn sich Plattformlösungen mit einem dahinterstehenden Betreiber durchsetzen. Fragen der Verantwortlichkeit und Rechtsdurchsetzung sind insbesondere noch dann zu klären, wenn dezentralisierte Lösungen den größten Marktanteil darstellen werden.

JuWiss: Professor Heetkamp, Sie beschäftigen sich intensiv mit den Potenzialen von Virtual Reality in der Justizpraxis. In diesem Zusammenhang hat die kolumbianische Verwaltungsrichterin María Victoria Quiñones Triana am 15. Februar 2023 breite Aufmerksamkeit erregt, als sie eine der weltweit ersten Gerichtsverhandlungen im sog. Metaverse durchführte. Welche Vorteile bieten virtuelle Gerichtsverhandlungen und welche Hürden stehen ihnen in Deutschland entgegen?

Heetkamp: In Deutschland wäre eine Gerichtsverhandlung „im Metaverse“ wohl prozessual nicht zulässig; eine Ausnahme könnten zivilrechtliche Verfahren nach § 495a ZPO sein, die der Richterschaft großen Spielraum lassen. Letztlich müsste man die Beteiligten von den Vorteilen überzeugen: Hier wäre meines Erachtens insbesondere eine hohe Inklusion der gesamten Gesellschaft zu nennen. So liegt es nahe, dass etwa bettlägerige Personen weder im echten Gerichtssaal noch per Video erscheinen möchten, während eine Teilnahme per Avatar wünschenswert wäre.

JuWiss: Glauben Sie denn, dass virtuelle Welten wie Metaversen langfristig in die Justiz integriert werden könnten, und wenn ja, in welchen Bereichen?

Heetkamp: Die Justiz erlebt gerade einen weiteren Digitalisierungsschub nach eAkte und Videoverhandlungen. Es soll im Zivilrecht die Online-Klage erprobt werden und digitale Rechtsantragsstellen den einfacheren Kontakt zu den Bürger:innen ermöglichen. Ich glaube, dass die Justiz sich schon heute mit dem Metaverse auseinandersetzen sollte. Auch um die Kompetenzen zu schaffen, die Richter:innen brauchen werden, um Streitigkeiten, die ihren Ursprung im Metaverse haben, beurteilen zu können. Mir ist etwa ein Fall bekannt, in dem es zu einer Markenverletzung in einer VR-App kam. Die beauftragte Rechtsanwältin fertigte Screenshots in der VR-Brille an, um sie sodann auszudrucken und der gerichtlichen Papierakte zuzuführen.

JuWiss: Welche Gefahren und Herausforderungen sehen Sie neben den Potenzialen von Virtual Reality und Metaversen für die gerichtliche Praxis?

Heetkamp: Die Herausforderungen werden für die Justiz zum einen technischer Natur sein. Es gibt derzeit kein Gericht in Deutschland, dass über eine funktionstüchtige VR-Brille verfügt. Zum anderen wird bei einem gerichtlichen Einsatz von VR – etwa bei der Inaugenscheinnahme des Tatorts mittels einer VR-Brille im Rahmen der sog. Polizisten-Morde von Kusel – zu beachten sein, ob/wie die gerichtliche Entscheidung dadurch beeinflusst wird. Also etwa, ob ein Richter, der das Mordopfer nicht nur auf einem Foto, sondern in VR sieht, härter urteilt.  

JuWiss: Wo sehen Sie beide aktuell den größten Forschungsbedarf in Bezug auf Virtual Reality, virtuelle Welten und Metaversen, wo liegen ihrer Meinung nach in Zukunft die spannendsten Fragen?

Heetkamp: Forschung fängt häufig mit einer Bestandsaufnahme an. In Deutschland fehlt es an einer umfassenden Übersicht zu Verfahren, in denen VR schon eingesetzt wurde. Mich würde in dieser Hinsicht zum einen die Frage der Beweissicherung in VR bzw. in Metaversen interessieren. Zum anderen, wie diese Beweise dann (rechtlich und technisch) in den Prozess eingeführt werden können.

Kettemann: In tatsächlicher Hinsicht sehe ich den größten Forschungsbedarf bei der Frage, wie die Metaversen allgemeintauglich gemacht werden können und welchen konkreten Mehrwert sie gegenüber dem Internet mit all seinen Funktionen haben werden. In rechtlicher Hinsicht ist der Gesetzgeber angehalten, anders als bei der Entwicklung des Internets, gewisse Verantwortlichkeitsfragen und entstehende Machtstrukturen zu erkennen und frühere Antworten hierfür zu finden. Darüber hinaus ist stets mitzudenken, ob und wie Metaversen auch für sozioökonomisch Abgehängte und gerade den Globalen Süden erschwinglich gemacht werden, um digitale Gräben nicht zu vertiefen. 

 

Zitiervorschlag: Roeingh, Nik, Neun Fragen an… Prof. Dr. Matthias Kettemann, LL.M. (Harvard) und Prof. Dr. Simon Heetkamp, LL.M. zu virtuellen Welten und der Steuerungskraft des Rechts, JuWissBlog Nr. 67/2024 v. 8.10.2024, https://www.juwiss.de/67-2024/

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