Sieben Fragen an… Dr. Sarah Rachut vom AK E-Government-Recht zur Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland

Interview von NIK ROEINGH

Die Digitalisierung der Verwaltung ist seit Jahren ein politisches Dauerthema. Deutschland gilt als rückständig und zu langsam. Der Arbeitskreis E-Government-Recht im Nationalen E-Government-Kompetenzzentrum (NEGZ) widmet sich allen rechtlichen Fragen rund um den notwendigen Transformationsprozess. Wo Deutschland bei der Verwaltungsdigitalisierung im internationalen Vergleich wirklich steht, wo Optimierungspotentiale und spannende rechtliche Fragen liegen, verrät uns Dr. Sarah Rachut, eine der Sprecher:innen, im Interview.

JuWiss: Hi Sarah, Du bist Sprecherin des neu gegründeten AK E-Government-Recht im NEGZ. Unter E-Government versteht man den verstärkten Einsatz moderner IT-Techniken und elektronischer Medien, um Regierungs- und Verwaltungsprozesse effektiver und effizienter zu gestalten. Was macht Euer Arbeitskreis bzw. das NEGZ?

Sarah: Das NEGZ wurde 2013 aus einer Arbeitsgruppe des Nationalen IT-Gipfels (heute Digitalgipfel) heraus gegründet, um als „Treiber, Koordinator und Innovator der Verwaltungsmodernisierung und Transformation in Deutschland“ zu wirken. Hier treffen Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen wie Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft aufeinander, um gemeinsam die Verwaltungsdigitalisierung voranzubringen.

Neben dem Austausch dient das NEGZ der Kompetenzvermittlung und setzt inhaltliche Impulse, etwa durch die NEGZ-Kurzstudien. Ein Format des NEGZ stellt die Arbeitskreise dar, die sich ganz unterschiedlichen Teilbereichen widmen.

In unserem Arbeitskreis stehen zwar die Rechtsthemen im Zuge der Verwaltungsdigitalisierung im Mittelpunkt, nichtsdestotrotz kommen hier nicht nur Jurist:innen zusammen, sondern Personen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Schließlich sind wir alle mit den Auswirkungen des E-Government-Rechts konfrontiert.

Der Arbeitskreis bietet dabei die Gelegenheit zum Austausch und ermöglicht es, Einblicke in andere Facetten des Themas zu gewinnen, mit denen man bisher vielleicht noch nicht in Berührung gekommen ist. Darüber hinaus ist der AK aber ebenso eine Plattform, um selbst aktiv zu werden und sich z.B. durch die Mitarbeit an Stellungnahmen zu aktuellen Gesetzgebungsvorhaben zu beteiligen. Gerade durch den Austausch von Wissenschaft und Praxis wollen wir auch Defizite in der Rechtsumsetzung aufdecken und Lösungsvorschläge erarbeiten.

Außerdem sehen wir uns auch innerhalb des NEGZ, z. B. für die anderen Arbeitskreise, als Ansprechpartner zu Rechtsthemen.

JuWiss: Mit dem Begriff E-Government ist eigentlich ein Optimierungsanspruch verbunden. Dass dieser sich in Deutschland nicht realisiert und die Digitalisierung zu langsam voranschreitet, ist jedoch ein Eindruck, der sich in den letzten Jahren manifestiert hat. Als Vorreiter gelten baltische Staaten wie Estland oder Litauen. Stimmt es, dass die deutsche Verwaltung massiv hinterherhinkt oder ist das typisch deutsche Meckerkultur?

Sarah: Der Blick über die nationalen Grenzen ist definitiv wertvoll, um den eigenen Digitalisierungsstand einzuordnen und vor allem zu vergleichen, was in anderen Ländern bereits alles möglich ist. Der internationale Austausch kann insbesondere dazu dienen, herauszufinden, welche Dienstleistungen besonders gut funktionieren, was man daher vielleicht priorisieren sollte oder welche Fehler man vermeiden kann. Estland wird in diesem Zusammenhang häufig als absolutes Vorzeigeland genannt, und tatsächlich sind dort 99 Prozent der Verwaltungsdienstleistungen digital. Daraus zu schließen, Deutschland würde „massiv hinterherhinken“, ist allerdings zu kurz gedacht. Vergleicht man die beiden Länder, so werden schnell große Unterschiede deutlich, die die Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland zu einer deutlich komplexeren Aufgabe machen. Dazu zählt nicht nur die föderale Struktur; auch in Fläche, Bevölkerungszahl, Infrastruktur oder den Industriezweigen unterscheiden sich die beiden Länder deutlich. Hinzu kommt, dass die baltischen Staaten in den 1990er Jahren nach ihrer Unabhängigkeit einen großen Umbruch erfahren haben – sie mussten, konnten aber auch, von Null starten. Zieht man den Vergleichskreis etwas größer, liegt Deutschland eher im Mittelfeld. Aber natürlich gibt es im Bereich der digitalen Verwaltung noch großes Verbesserungspotential. Gerade wenn Personen digitale Angebote nutzen wollen und dabei negative Erfahrungen machen, sinkt das Vertrauen in die Leistungsbereitschaft von Staat und Verwaltung. Das gilt es zu verhindern.

JuWiss: Woran hakt es denn genau bei der Verwaltungsdigitalisierung? Sind es die föderalen Verwaltungsstrukturen, die den Zentralisierungs- und Standardisierungsbedürfnissen technischer Strukturen entgegenstehen, sind es die fehlenden Haushaltsmittel oder der fehlende Wille?

Sarah: Eine einfache Antwort gibt es auf diese Frage leider nicht. Alle benannten Punkte spielen eine gewisse Rolle. Dabei muss man natürlich ebenso beachten, dass es „die Verwaltung“ nicht gibt, sondern in unserer heterogenen Verwaltungslandschaft an verschiedenen Stellen ganz unterschiedliche Gründe den Ausschlag geben können. So sind die föderalen Strukturen tatsächlich hinderlich, wenn es darum geht, sich schnell auf einen Weg einigen zu wollen; gleichzeitig stellen sie jedoch sicher, dass tatsächlich den verschiedenen Bedürfnissen im ganzen Bundesgebiet Rechnung getragen wird. Punktuell erkennt man auch so etwas wie einen „föderalen Wettbewerb“, der wiederum ein wichtiger Antrieb sein kann. Dass wir es aber auch in Sachen Gremien, Vertretungen und Zirkeln übertreiben können, veranschaulicht das wunderbare Wimmelbild des Normenkontrollrates.

In Netzwerken wie dem NEGZ, zeigt sich jedoch, dass es trotz dieser strukturellen Schwierigkeiten eine ganze Menge an klugen und engagierten Leuten gibt, die sich für eine digitale und bessere Verwaltung einsetzen. Einen pauschal fehlenden Willen, sich den Herausforderungen zu stellen, kann man der Verwaltung daher nicht unterstellen. Vielmehr muss man andersherum wohl sagen, dass vieles in der Verwaltung überhaupt noch (so gut) funktioniert, weil Mitarbeiter:innen Defizite durch ihren persönlichen Einsatz kompensieren.

JuWiss:  Und was tut das NEGZ, um den Prozess der Verwaltungsdigitalisierung zu unterstützen?

Sarah: Gerade weil das Thema Verwaltungsdigitalisierung so komplex ist – auf technischer, organisatorischer und dadurch auch rechtlicher Ebene – ist es wichtig, möglichst alle Perspektiven zu berücksichtigen, kontinuierlich über das Ziel und den Weg dorthin zu kommunizieren und alle mitzunehmen. Mit bloßer Komplexitätsreduktion kommen wir nicht weiter, wir benötigen vor allem eine Art Komplexitätsbefähigung und genau hier setzt das NEGZ in meinen Augen an.

Es finden sich Gleichgesinnte und Mitstreiter:innen, alle Interessierten können sich einbringen, ihre Erkenntnisse teilen und sich weiterbilden. So kann der Prozess der Verwaltungsdigitalisierung nicht nur konstruktiv begleitet, können Forderungen formuliert und Lösungsvorschläge erarbeitet werden, sondern es wächst auch das Verständnis untereinander.

JuWiss: Euer Arbeitskreis trägt den Titel E-Government Recht. Was genau können denn das Recht und die Rechtswissenschaft dazu beitragen, die Transformation erfolgreich zu begleiten?

Sarah: Tatsächlich geht die Verwaltungsdigitalisierung mit vielfältigen Rechtsfragen einher, die bis in das Verfassungs- und Europarecht reichen. Daraus können sich Rechtsunsicherheiten ergeben, die gerade bei einem eher risikoaversen Verhalten den Transformationsprozess aufhalten können. Nur um ein paar Beispiele zu nennen:

Wenn wir standardisierte und einheitliche Prozesse über den Bund und sämtliche Bundesländer anstreben, stellen sich vor allem Kompetenzfragen; und sollen die Kommunen verpflichtet werden, gilt es ihre Selbstverwaltungshoheit zu berücksichtigen. Weiter sind zunehmen unionsrechtliche Vorgaben zu beachten, wie etwa die Regelungen zu elektronischen Identitäten, Signaturen oder Siegeln durch die eIDAS-Verordnung.

Wenn wir zudem über Effizienzsteigerungen und Bürokratieabbau durch digitale Technologien sprechen, setzt dies oftmals die Verarbeitung von personenbezogenen Daten, ihre Verknüpfung und Weiterverarbeitung durch staatliche Stellen voraus. Hier müssen daher die grundrechtlichen Besonderheiten und damit höheren Anforderungen an dem Staat in den Blick genommen werden. Rechtswissenschaftlich muss hier also untersucht werden, auf welchen Rechtfertigungsgrund eine Datenverarbeitung gestützt werden kann, ob z. B. eine freiwillige (!) Einwilligung überhaupt in Betracht kommt oder welche Grenzen der Zweckbindungsgrundsatz setzt.

Darüber hinaus setzt ein digitalisierter Staat auch eine gewisse Infrastruktur, Hard- und Software voraus, die beschafft und entsprechen der rechtlichen Vorgaben eingesetzt werden muss. Auch das ist mit vielfältigen Rechtsfragen verbunden.

Schließlich ist die Digitalisierung die große Hoffnung, um dem bestehenden und sich noch verschärfenden Fachkräftemangel in der Verwaltung entgegenzuwirken. Doch das bestehende Dienstrecht ist unflexibel und für Quereinsteiger:innen oftmals unattraktiv. Daher mehren sich die Stimmen, die eine Reform des Dienstrechts fordern, um die notwendige IT-Kompetenz in Staat und Verwaltung in Zukunft sicherstellen zu können.

Schon diese kleine Aufzählung zeigt, wie vielfältig die rechtlichen Fragestellungen im Kontext der Verwaltungsdigitalisierung sein können; sie reichen vom allgemeinen Verfassungsrecht bis in spezialisierte Bereiche und können sowohl öffentlich-rechtliche, zivilrechtliche oder sogar strafrechtlicher Natur sein.

JuWiss: E-Government und Digitalisierung sind, wie du sagst, Querschnittsmaterien, die viele unterschiedliche Bereiche betreffen, z. B. das Verwaltungskommunikationsrecht, also die Informations- und Kommunikationsbeziehungen zwischen Verwaltung und Bürger:innen, aber auch das Datenschutzrecht, das Verwaltungsorganisationsrecht oder die IT-Sicherheit. Wo liegen die Zielkonflikte, die am schwierigsten zu lösen sind. Wo müssen wir anders denken, als bisher?

Sarah: In meinen Augen liegt diesen Konflikten die zentrale Frage zugrunde, wie wir das Verhältnis von Staat und Bürgerinnen und Bürgern künftig ausgestalten wollen. Im Bereich der staatlichen Datenverarbeitung, die Grundvoraussetzung für eine digitale Verwaltung ist, stützen wir uns weiterhin auf den Wortlaut des Volkszählungsurteils. Damit hat das Bundesverfassungsgericht 1983 eine wichtige Grundlage für den Schutz des Persönlichkeitsrechts gelegt, jedoch müssen wir anerkennen, dass sich unsere Lebensrealität seitdem deutlich verändert hat. Wir leben zunehmend in einer datengetriebenen Gesellschaft, für die meisten Bürgerinnen und Bürger stellt das Teilen ihrer personenbezogenen Daten eine Selbstverständlichkeit dar. Damit hat sich auch die Rolle des Staates im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewandelt. Während sich das Volkszählungsurteil stark auf die Gefahr für die Grundrechte durch eine staatliche Datenverarbeitung fokussiert, ist der Staat heutzutage auch oder vor allem als Garant der grundrechtlichen Freiheiten gefragt. Ich schlussfolgere daraus nicht, dass wir leichtfertig unsere bisherigen Grundsätze über Bord werfen sollen und staatlichen Stellen freie Hand bei der Datenverarbeitung lassen sollten. Wir müssen aber dafür sensibilisiert sein, dass die Grundwerte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens einen handlungsfähigen und souveränen Staat mit einer leistungsfähigen Verwaltung erfordern. Dies wiederum setzt einen gewissen Digitalisierungsgrad voraus. Im Ergebnis bedeutet dies, dass wir uns auch über die absehbaren grundrechtlichen Konsequenzen einer Nicht-Datenverarbeitung und damit Nicht-Digitalisierung des Staates bewusst sein müssen. Noch sind wir in der Position, diesen Prozess gestalten zu können. Das sollten wir nun auch tun.

JuWiss: Und zum Abschluss: Wo hast Du zuletzt Verwaltungsdigitalisierung beispielhaft erlebt und wo erwartest Du in der nahen Zukunft die größten Entwicklungssprünge?  

Sarah: Die meisten positiven Verwaltungserfahrungen hatte ich persönlich tatsächlich in den Jahren der Corona-Pandemie. Trotz der widrigen Umstände wurde überall nach Lösungen gesucht und ich war von der Einsatzbereitschaft und Kreativität ganz begeistert. Leider habe ich das Gefühl, dass dieser Schwung etwas verloren gegangen ist und wir nicht auf die vielfach gesammelten Erfahrungswerte aufbauen, sondern stattdessen in den vorpandemischen Zustand zurückfallen.

Für die Zukunft setzte ich auf die Registermodernisierung. Wenn es uns gelingt, die staatlichen Register zu digitalisieren und zu verknüpfen, ist ein wesentlicher Grundstein für einen modernen und digitalen Staat gelegt. Mein Wunsch ist es, dass es gelingt, möglichst bald viele positive Erfahrungen mit digitalen Verwaltungsleistungen zu schaffen. Das führt dann nicht nur zu höheren Nutzungszahlen, sondern schafft Vertrauen, gibt neuen Schwung und wäre eine Bestätigung für all diejenigen, die sich tatkräftig für eine digitale Verwaltung einsetzen.

Langfristig träume ich von einer möglichst antragslosen Verwaltung.

 

Zitiervorschlag: Roeingh, Nik, Sieben Fragen an… Dr. Sarah Rachut vom AK E-Government-Recht zur Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland, JuWissBlog Nr. 70/2024 v. 17.10.2024, https://www.juwiss.de/70-2024/

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E-Government, NEGZ, SARAH RACHUT, Verwaltungsdigitalisierung, Verwaltungsorganisation
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