Estland, der digitale Musterstaat

von KATHARINA GOLDBERG

Katharina_Goldberg

Die Digitalisierung ist überall Thema, aber Estland hat diesen Prozess bereits vor über 20 Jahren in Gang gesetzt. Hier lässt sich die Zukunft des E-Government schon heute beobachten. Der folgende Beitrag soll eine kleine Einführung in die e-ID, X-Road, die e-residency und Server Embassies gegeben.

Estland ist ein relativ kleiner Staat im Baltikum mit ca. 1,3 Millionen Einwohnern und einer Fläche, die kaum größer ist als die Fläche Niedersachsens. Estland hat, außer viel Wald, kaum natürliche Ressourcen und eine starke Skepsis gegenüber dem großen Nachbarn Russland, von dem es sich erst 1991 unabhängig erklärte. 2004 wurde Estland Mitglied der EU und der NATO, 2010 folgte der Beitritt zur OECD. In der zweiten Jahreshälfte 2017 hat Estland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union nach dem Brexit-Votum ein halbes Jahr eher übernommen, da die Rotation Großbritannien als nächstes vorgesehen hätte. Eine der vier Prioritäten der estnischen Ratspräsidentschaft ist die Digitalisierung Europas und des freien Datenverkehrs, oder: Die Förderung des digital single markets.

E-Government und e-ID

Estland ist weltweit der Vorreiter im Bereich E-Government. Bereits 1997 hat Estland dafür die ersten Weichen gestellt. Estnische Bürger können alle staatlichen Leistungen online in Anspruch nehmen. Die einzigen Ausnahmen sind Heirat, Scheidung und der Erwerb und Verkauf von Grundstücken. Insbesondere können Esten online wählen, sie haben eine elektronische Krankenakte und können ihre Steuererklärung online erledigen. Rund 30 % der Esten wählen beispielsweise online. Bei der letzten Wahl gaben estnische Bürger ihre Stimmen aus 116 verschiedenen Ländern ab. Aber auch einfachere Behördengänge wie die Meldung über die Geburt eines Kindes oder die Beantragung eines Rezeptes für die Krankenkasse können online vorgenommen werden. Dafür verwendet wird die e-ID, die 2001 eingeführt wurde. Mit ihr können Esten alle Arten von Verträgen digital unterzeichnen und auch digitale Angebote des Staates nutzen.

Blockchain und x-Road

Technisch ermöglicht wird diese Digitalisierung des Alltags durch die Verwendung einer Blockchain und durch das X-Road-System des Unternehmens „Cybernetica“. X-Road ermöglicht Behörden, die jeweils bei ihnen gespeicherten Informationen auszutauschen, ohne dass an einer Stelle alle Informationen über einen Bürger gespeichert werden. So können Behörden untereinander Anfragen versenden, über die nur die Antworten abgefragt werden können, die zur Behandlung des aktuellen Problems notwendig sind. Auch Private können bestimmte Berechtigungen haben. So können Ärzte Krankenakten-Daten abfragen. Dies ist insbesondere in Notfällen sehr praktisch, da alle Informationen mit wenigen Klicks verfügbar sind und nicht mühevoll (physische) Akten über den generellen Gesundheitszustand von Patienten hin und her gesendet werden müssen.

Natürlich kann ein solches System aber auch missbraucht werden. Um dieses Risiko zu minimieren, kann jeder Bürger in seinem eigenen Online-Bereich einsehen, wer zu welchem Zeitpunkt Zugriff auf seine Daten genommen hat. Bei dem Verdacht auf unautorisierte Zugriffe gibt es zunächst eine Beschwerdestelle und nach Aufdeckung des Sachverhalts die Möglichkeit, zu klagen. Estland hat dafür einen starken gesetzlichen Rahmen geschaffen. Ein weiterer Faktor, der die Nutzung von digital services vereinfacht, ist das Once-only-Prinzip. Daten, die eine estnische Behörde einmal von einem Bürger abgefragt hat, darf eine andere öffentliche Stelle nicht noch einmal abfragen. Dieses System erleichtert und vereinfacht den Alltag estnischer Bürger. Überhaupt ist die Vereinfachung vieler Prozesse ein entscheidender Faktor, warum die Digitalisierung der Verwaltung von den Esten so gut angenommen wird. Zeitgleich mit der Einführung der e-ID wurden diverse Möglichkeiten zur Nutzung von online-Services geschaffen. Die Esten konnten diese sofort nutzen und von der Zeitersparnis durch ihre Nutzung profitieren, sodass alle Services sofort als nützlich anerkannt wurden.

E-residency und Server Embassies

Für die Zukunft plant Estland, die Digitalisierung weiter voran zu treiben. 2014 führte Estland die e-residency ein, die Unternehmern die Möglichkeit bietet, virtuell estnischer Staatsbürger zu werden. Damit kann die digitale Infrastruktur Estlands genutzt werden und zugleich wird ein Zugang zum EU-Binnenmarkt geschaffen. Die e-residency bedeutet allerdings nicht, dass Unternehmer physisch in die EU einreisen dürfen, sondern auschließlich einen digitalen Zutritt erhalten. Die e-residency wird begeistert als erstes weltweites Government-Startup beschrieben. Auch Sicherheitsfragen werden von Estland innovativ beantwortet. Ein Problem ist, dass alle digitalen Inhalte schlussendlich doch auf physischen und dadurch angreifbaren Servern gespeichert sind. Im Bewusstsein dessen haben die Esten und allen voran das „International Center for Defence and Security“ das Programm der Server Embassies erdacht. Zukünftig wird der Staat Luxemburg Server beherbergen, die eine Sicherung der estnischen Blockchain ermöglichen sollen. Auf diese Weise wird eine Kopie des digitalen Staates erzeugt, die bei einer Naturkatastrophe oder einer militärischen Intervention die Fortführung der Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte ermöglicht.

Mindset und trust

Der ganze Digitalisierungsprozess Estlands beruht im Kern jedoch auf dem besonderen mindset der Esten. Die Einführung der e-ID und der damit verbundenen Services konnte nur gelingen, weil die estnische Bevölkerung bereit war, diese Veränderungen auch anzunehmen. Dies mag an der kleinen Größe des Landes und der Ressourcenarmut Estlands liegen. Zugleich liegt es aber auch an dem trust, den die Esten ineinander, in den Staat und in die Digitalisierung haben. Als X-Road eingeführt wurde hat sich der Gesetzgeber nicht in den Weg gestellt. Vielmehr haben die Legislative und Cybernetica gemeinsam erarbeitet, wie der rechtliche Rahmen ausgestaltet werden muss, um X-Road möglich zu machen. Im Fall einer Krise wird nicht mit Verschluss, sondern mit Transparenz reagiert. Vor kurzem kam heraus, dass es technisch nicht unmöglich ist, eine bestimmte Charge der e-IDs zu entschlüsseln. Die estnische Regierung hat nach kurzer Sondierung der Lage die Bevölkerung über dieses Problem informiert, sucht derzeit nach einer Lösung und wird dann entscheiden, ob die betroffenen Ausweise ausgetauscht werden. So wird die Begeisterung für den digitalen Staat durch transparentes Handeln der Regierung noch weiter verstärkt.

Die Erfahrungen, die Estland mit der Digitalisierung des Staates gesammelt hat, versucht es, jetzt an Europa weiter zu geben. Der digitale Wandel ist bereits da und es ist gut, dass nun ein Land den Vorsitz im Rat der Europäischen Union hat, das diesen Wandel positiv bewertet und bereits gemeistert hat. Kein anderes Land könnte die Einführung eines digital single markets glaubwürdiger vertreten.

Digitalisierung, E-Government, e-residency, Estland, Katharina Goldberg
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