von ROMAN KOLLENBERG
Am 2. September 2024 veröffentlichte das Bayerische Innenministerium auf der Plattform „X“ (ehemals Twitter) ein Video, das vor den Gefahren des Salafismus warnen sollte. Die Darstellung in dem Video führte zu erheblichen kritischen Reaktionen; einige Betrachter zogen gar Parallelen zu den antisemitischen Darstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Infolge dieser Kritik wurde das Video bereits am folgenden Tag von der Kampagnenseite des Ministeriums entfernt. Gleichwohl ist das Video nicht als Verstoß gegen die staatliche Neutralitätspflicht zu bewerten, interpretiert man die Leitlinien des BVerfG zu den Grenzen staatlichen Informationshandelns im Lichte moderner Kommunikationsweisen.
1. Keine Frage des Geschmacks, sondern des Rechts
Bevor die Rechtmäßigkeit der Informationsmaßnahme des Bayerischen Innenministeriums beurteilt wird, ist es unerlässlich, den Aspekt des persönlichen Geschmacks klar von der rechtlichen Bewertung zu trennen. Auch wenn das Video „Die Salafismusfalle“ möglicherweise nicht jedermanns – einschließlich des Verfassers – stilistischen oder inhaltlichen Präferenzen entspricht, muss es dennoch nicht die Grenzen der staatlichen glaubens- bzw. religionsbezogenen Neutralitätspflicht überschreiten.
2. Staatliches Informationshandeln und seine Grenzen: Die Leitlinien des BVerfG
2.1 Zur Notwendigkeit staatlichen Informationshandelns
Das staatliche Informationshandeln ist ein grundlegendes Element der Regierungsführung und hat die zentrale Aufgabe, die Bevölkerung über wesentliche gesellschaftliche Fragestellungen zu informieren. Entsprechend stellte das Bundesverfassungsgericht wiederholt klar, dass es nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern sogar notwendig ist, die Bevölkerung zu informieren, um ein ausgewogenes und umfassendes Informationsbild zu gewährleisten – insbesondere in Situationen, in denen private Akteure allein nicht in der Lage sind, eine solche Informationslage zu sichern (vgl. hierzu BVerfGE 44, 125 <147>; 105, 252 <269>; 105, 279 <302>). Das staatliche Informationshandeln gewinnt insbesondere in Fällen an Bedeutung, in denen die Bevölkerung aus Sicht des Staates bzw. seiner Akteure konkreten bzw. potenziellen Gefahren ausgesetzt ist. Verfassungsgerichtlich wurde es bisher etwa bei durch mit Glykol versetzten Weinen (BVerfGE 105, 252), religiösen Gruppierungen (BVerfGE 105, 279) oder politischen Parteien (BVerfGE 154, 320) diskutiert.
2.2. Die Grenze: Die staatliche Neutralitätspflicht
Das Informationshandeln des Staates ist jedoch keineswegs schrankenlos. So gehört dem BVerfG zur Folge, die Sachgerechtigkeit und Objektivität zu den allgemeinen Kriterien staatlicher Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (BVerfGE 20, 56 <100>; 44, 125 <147>; 63, 230 <243>; 105, 252 <269>; 105, 279 <302>, 154 <336 f.>).
Darüber hinaus ist der Staat speziell in religiösen und weltanschaulichen Fragen – wie sie auch im vorliegenden Fall betroffen sind – verpflichtet, eine neutrale Haltung einzunehmen und weder eine Gruppe zu bevorzugen noch zu benachteiligen (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV) (BVerfGE 105, 279 <294>). Ein Verstoß gegen eben jene Neutralitätspflicht läge vor, wenn eine religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaft diffamierend, diskriminierend oder verfälschend dargestellt würde. Unzulässig wäre es insbesondere, eine Religionsgemeinschaft pauschal mit negativ besetzten Attributen zu belegen, die keinen weiteren Sinngehalt besitzen (BVerfGE 105, 279 <294 f.>). Es besteht jedoch kein Schutz dagegen, dass sich der Staat und seine Organe öffentlich – auch kritisch – mit den Trägern der Religionsfreiheit sowie ihren Zielen und Aktivitäten auseinandersetzen (BVerfGE 105, 279, <294>). Letztlich richtet sich das Maß der Zurückhaltung, das der Staat im Umgang mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu beachten hat, nach den Umständen des Einzelfalls (BVerfGE 105, 279 <295>).
3. Die Leitlinien im Lichte moderner Kommunikationsweisen
Diese Leitlinien des BVerfG wurden vor dem Hintergrund schriftlicher Äußerungen staatlicher Stellen entwickelt. Sie basieren auf der Annahme, dass staatliche Kommunikation vor allem in Textform und in einem eher statischen Umfeld stattfindet. Doch die Medienlandschaft hat sich durch die wachsende Bedeutung audiovisueller Formate und sozialer Netzwerke erheblich gewandelt. Wenn der Staat heute nicht nur schriftlich, sondern mit Bewegtbildern und Ton kommuniziert – und dies vor allem in den dynamischen sozialen Netzwerken – sind die Osho-Kriterien entsprechend im Lichte dieser neuen Realität zu interpretieren, um ihr gerecht werden zu können. Die dynamische Medienlandschaft verlangt nach neuen Ansätzen, um die Aufmerksamkeit der Zielgruppen zu gewinnen und gleichzeitig eine präzise Informationsvermittlung zu gewährleisten. Audiovisuelle Formate können insoweit eine zentrale Rolle spielen, als sie es dem Staat ermöglichen, Botschaften in einer Weise zu transportieren, die den heutigen Seh- und Informationsgewohnheiten der (jungen) Nutzer entspricht. Die Nutzung dieser Formate ist daher nicht nur legitim, sondern angesichts der zunehmenden Nutzung sozialer Netzwerke als primäre Informationsquelle vieler Menschen geradezu notwendig.
Die besonderen Charakteristika sozialer Netzwerke – wie die schnelle Verbreitung von Inhalten, deren Verkürzung sowie die starke Emotionalisierung der Diskurse – machen eine gezielte Anpassung staatlicher Kommunikationsstrategien unumgänglich. Der Staat muss sich den „Regeln“ dieser Plattformen in gewissem Maße anpassen, um sicherzustellen, dass seine Botschaften nicht in der Flut von trivialen Inhalten, wie etwa „süßen Katzenvideos“, untergehen. In diesem dynamischen Umfeld wird eine rein sachlich-neutrale Darstellung komplexer Themen oft nicht ausreichen, um die notwendige Aufmerksamkeit der Nutzer zu gewinnen. Eine gewisse Zuspitzung, visuelle Überhöhung oder Dramatisierung muss mithin als zulässiges Mittel der staatlichen Informationsvermittlung betrachtet werden, solange dabei keine Falschinformationen verbreitet werden. Diese emotionale und visuelle Zuspitzung darf somit keinen Selbstzweck verfolgen, sondern muss der Steigerung der Effektivität staatlicher Botschaften in sozialen Netzwerken dienen. In einer von Informationsüberflutung und polarisierten Inhalten geprägten Medienlandschaft ist der Staat gezwungen, Kommunikationsformen zu wählen, die die erforderliche Aufmerksamkeit auf sich lenken, um komplexe oder gesellschaftlich bedeutsame Themen – wie etwa die reale Gefahr durch religiösen Extremismus – erfolgreich zu vermitteln. Hubig vertritt hingegen die Auffassung, dass „[s]taatliche Öffentlichkeitsarbeit […] nicht mit einem Medienmarkt gleichgesetzt ist, der Adressat:Innen immer wieder ‚in den Bann‘ ziehen muss.“ Diese Sichtweise bezieht sich jedoch auf die allgemeine staatliche Öffentlichkeitsarbeit und nicht auf das – speziellere –gefahrbezogene staatliche Informationshandeln.
4. Analyse des Videos: „Die Salafismusfalle“
Angesichts dieser Vorüberlegungen wenden wir uns nun dem auf „X“ veröffentlichten Video „Die Salafismusfalle“ des Bayerischen Innenministeriums zu. Zeit Online beschreibt es folgendermaßen: „In dem etwa 30-sekündigen animierten Video ist zu sehen, wie eine junge Frau mit Hidschab das Video eines Predigers mit Gebetskappe anschaut, in dem es um die Frage geht, ob sich Musliminnen schminken dürfen. Zu hören sind düstere Klänge, zu sehen boshaftes Lachen des Mannes. Die Frau verschwindet in seinem Rachen – dann wird gezeigt, wie die Frau sich mit Personen in schwarzen Nikabs unterhält, mit Predigern chattet und schließlich selbst in schwarzem Nikab wieder aus dem Mund des Predigers fällt. Am Ende putzt sie augenscheinlich eine Küche und weint dabei.“ ‚Die Salafismus-Falle‘ mit dem Untertitel ‚Es geht schneller als Du denkst‘ wird als Schriftzug in Großbuchstaben eingeblendet, gefolgt von einem Link zum Auftritt der Präventionskampagne.“ Der begleitende Text des Ministeriums lautet: „Du denkst, es passiert nur den anderen? Falsch.“
Mit der Veröffentlichung des Videos verfolgt das Ministerium das legitime Ziel, die Bevölkerung – aber vor allem junge Menschen – vor den Gefahren des Salafismus zu warnen, einer radikalen und extremistischen Strömung innerhalb des Islams, die nach Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden (siehe nur Verfassungsschutzbericht 2023, S. 223 ff.) nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands vereinbar ist.
Das Ministerium greift hier auf das – nach hiesiger Auffassung – zulässige Mittel der Überspitzung zurück, indem es durch Mimik, Gestik und Ton eine Drohkulisse aufbaut, die letztlich jedoch sachlich der realen Bedrohungslage junger Menschen entspricht. Die gezielte Dramatisierung und Zuspitzung – durch den Einsatz visueller und auditiver Elemente – ist in sozialen Netzwerken, die von verkürzten und emotional geprägten Inhalten dominiert werden, auch ein notwendiges Mittel, um die Aufmerksamkeit der Zielgruppe zu erlangen und die Dringlichkeit der Botschaft zu verdeutlichen. Diese Strategie erweist sich als deutlich effektiver als herkömmliche Kommunikationsformate, wie etwa das Verteilen von Broschüren in Schulen, und ermöglicht es dem Bayerischen Innenministerium, den Herausforderungen der modernen Informationsgesellschaft wirksam zu begegnen. Das Video ist darüber hinaus als integraler Bestandteil einer umfassenden bayerischen Präventionsstrategie zu begreifen, die darauf abzielt, insbesondere junge Menschen vor den Gefahren der Radikalisierung zu bewahren. In Bayern arbeiten deshalb seit Sommer 2015 das Innen-, Justiz-, Kultus- und Sozialministerium im „Bayerischen Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus“ zusammen. In der abschließenden Sequenz wird entsprechend auf die Website der Kampagne verwiesen. Diese ist auch deutlich weniger pointiert aufbereitet als die Videosequenz als solche, ist aber dennoch gezielt „jugendaffin“ (Verfassungsschutzbericht Bayern 2023, S. 30) gestaltet. Dort besteht die Möglichkeit, sich nicht nur über Vorträge, Workshops und Veranstaltungen zu informieren, sondern auch Unterstützung für Betroffene und Angehörige zu erhalten. Vor diesem Hintergrund kommt dem Video „Die Salafismusfalle“ vor allem die Funktion eines „Eye-Catchers“ zu, der die Aufmerksamkeit des jungen Publikums gezielt auf sich lenken soll, um es zu weiterführenden Informationen zu führen.
Im Hinblick auf das Verbot der Pauschalisierung und somit für die Beurteilung, ob das Video die staatliche Neutralitätspflicht verletzt, ist darüber hinaus die Unterscheidung zwischen dem Islam als Religion und dem Salafismus als extremistische Strömung von entscheidender Bedeutung. Diese Differenzierung erfolgt im Video zwar nicht unmittelbar zu Beginn, aber innerhalb weniger Sekunden (ca. 23. Sekunde!). Am Ende des Videos wird damit unmissverständlich deutlich, dass die Warnung gezielt gegen den Salafismus gerichtet ist und nicht gegen den Islam im Allgemeinen. Auch die Darstellung der Akteure – insb. der salafistischen Prediger – ist in diesem Zusammenhang als unproblematisch zu sehen. Ihre Kleidung und Verhaltensweisen entsprechen weitgehend den tatsächlichen Erscheinungsformen, die in sozialen Netzwerken verbreitet sind. Die Visualisierung im Video orientiert sich insofern an den realen Kommunikationsstrategien extremistischer Akteure, wie sie insbesondere auf Plattformen wie TikTok beobachtet werden können. Diese Authentizität verstärkt die Glaubwürdigkeit des Videos und trägt zur sachgerechten Darstellung der Thematik bei.
5. Fazit
Interpretieren wir die Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen staatlichen Informationshandelns unter Berücksichtigung moderner Kommunikationsmittel, so ergibt sich, dass das Video „Die Salafismusfalle“ des Bayerischen Innenministeriums die staatliche Neutralitätspflicht nicht verletzt. Vielmehr dient es, auch in seiner überspitzten Darstellung, der Aufklärung über die realen Gefahren, die insbesondere für junge Menschen von salafistischen Predigern auf sozialen Plattformen ausgehen, und verfolgt das legitime Ziel der Prävention in Bezug auf islamistische Radikalisierung. Bei näherer Betrachtung wird zudem deutlich, dass das Video zwischen Salafismus und dem Islam als allgemeiner religiöser Strömung differenziert.
Nach der Zurücknahme des Videos kündigte das Ministerium eine Überarbeitung an. Es wäre dabei wohl ratsam, von Beginn an eine explizite Klarstellung einzufügen, dass sich die Botschaft gezielt gegen den Salafismus richtet und nicht gegen den Islam als Religion.
Zitiervorschlag: Kollenberg, Roman, Moderne Medien, alte Pflichten: Zu den Grenzen staatlicher Neutralität im Fall des Videos „Die Salafismusfalle“ , JuWissBlog Nr. 62/2024 v. 10.09.2024, https://www.juwiss.de/62-2024/.
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