A la recherche de la majorité perdue – Zwei Anmerkungen zur Rolle des Wahl- und Verfassungsrechts in der politischen Pattsituation in Frankreich

von JOHANNES MUELLER

Nach den jüngsten französischen Parlamentswahlen im Juli ist immer noch keine neue Premierministerin in das Hôtel Matignon eingezogen. Die politische Situation stellt Prämissen in Frage, die dem aktuellen Rahmen der Fünften Französischen Republik zugrundeliegen und nun wohl überdacht werden müssen. Ich möchte mich auf zwei Anmerkungen konzentrieren: Zum einen erschwert das aktuelle Wahlrecht die Koalitionsbildung, wie wir sie in Deutschland kennen, da es eine besondere zeitliche Dynamik konstruiert. Zum anderen verlangt die aktuelle Situation eine Reinterpretation der Rolle des Präsidenten.

Das Wahlrecht – ein Stabilitätsversprechen mit starker Auswirkung auf die Politik

Die Regierung Frankreichs ist vor der Nationalversammlung (Assemblée Nationale) verantwortlich (Art. 20 Abs. 3 Constitution Française (CF)), von der sie mit einfacher Mehrheit gestürzt werden kann (Art. 49 Abs. 2 CF). Bisher wurde aus dieser Beziehung gefolgert, dass eine Regierung eine Mehrheit in der Assemblée haben muss.

Das führt uns zum Wahlrecht. Im Frankreich der Verfassung der Fünften Republik wird die Nationalversammlung in einer Mehrheitswahl in zwei Runden gewählt (Art. L123 du Code électoral). Dieser „scrutin majoritaire“ wurde als Garant einer „stabilen und kohärenten Mehrheit“ eingeführt. Der französische Verfassungsrat (Conseil Constitutionel) hat diesem Wahlsystem mittlerweile seinen Segen erteilt. Das „Winner takes it all“-Prinzip des Mehrheitswahlrechts führt dabei zu einer anderen Koalitionslogik, als es in Deutschland üblich ist. Koalitionen werden nicht vor, sondern nach der Wahl gebildet. Die Parteien einigen sich auf eine Kandidatur pro Wahlkreis, um dort die Chancen eines politischen Lagers auf den Wahlsieg zu erhöhen. Denn politisch nahe Parteien würden sich ohne Koordinierung gegenseitig klein halten und den Wahlkreis ggf. gegen eine Kandidatin eines anderen Lagers verlieren.

Ein passendes Beispiel für solch eine „Koalition à la française“ ist der „Nouveau Front Populaire“, ein Zusammenschluss verschiedener linker Parteien, der sich, schon vor der Wahl (!), auf ein Regierungsprogramm geeinigt hat, was angesichts der teilweise sehr verschiedenen Positionen der Parteien nicht selbstverständlich war. Insofern kann man den Nouveau Front Populaire durchaus als einen glaubhaften Versuch einer linken Regierungskoalition sehen. Seinen koalitionsartigen Charakter zeigt das Bündnis auch nach der Wahl, denn die Parteien des NFP sitzen in der Assemblée in eigenen, separaten „groupes parlementaires“ (Art. 19 Règlement de l’Assemblée nationale), was in etwa Fraktionen im Bundestag entspricht. Aber auch jenseits der politischen Linken bilden sich solche Koalitionen. Sowohl die Partei Macrons als auch die Partei Marine Le Pens haben sich für die Wahl mit kleineren Parteien zusammengetan, sitzen jedoch als selbständige Gruppen in der Nationalversammlung.

Die Kehrseite der Koalitionsbildung vor der Wahl ist, dass die Beteiligten in der Logik des Mehrheitswahlrechts davon ausgehen, für den Fall einer gewonnenen Wahl eine stabile, absolute Mehrheit zu erreichen. Dieses Stabilitätsversprechen hat das Wahlrecht lange eingehalten. Auch in der ersten Wahl der Assemblée Nationale in Macrons Amtszeit im Frühjahr 2017 war dies noch der Fall. Fünf Jahre später, 2022, in der ersten Wahl unter Macrons Amtszeit, verlor dessen Koalition zwar die absolute Mehrheit und trat in der Folge eine Minderheitsregierung an. Diese konnte sich aber noch mit Rückgriff auf zwei Faktoren über Wasser halten: Einerseits berief sie sich oft auf den umstrittenen Art. 49 Abs. 3 der Verfassung, der erlaubt bestimmte Gesetze mit einer Art Vertrauensfrage zu koppeln, wobei das Gesetz als verabschiedet gilt solange die Regierung nicht gestürzt wird. Außerdem fehlten der Regierung nur ausreichend wenige Stimmen, um mit verhältnismäßig wenig Unterstützung aus dem Lager der Konservativen Gesetze verabschieden zu können.

Nach der Wahl vom Juli 2024 scheint diese Lösung aber nicht mehr tragfähig. Denn die Sitzverteilung ist dreigeteilt: Links, Rechts und die Mitte haben zwar nicht gleich viele Sitze, sind jedoch alle so weit von der Mehrheit entfernt, dass eine nur aus einem Block geformte Minderheitsregierung unwahrscheinlich erscheint. Demnach ist jetzt der Ruf nach einer Koalition laut, die sich nach der Wahl formen soll. Insbesondere Macron setzt darauf, wenn er in einem öffentlichen Brief nach der Wahl fordert, eine „stabile Mehrheit zu bilden“. Eine solche Koalitionsbildung widerspricht jedoch der oben aufgezeigten Temporalität des französischen Wahlmodus, der davon ausgeht, dass vor der Wahl geschlossene Bündnisse entweder die Wahl mit absoluter Mehrheit gewinnen oder eben verlieren. Viele der im Parlament vertretenen Parteien haben sich demnach schon vor der Wahl auf Kompromisse inhaltlicher Art und bzgl. Verteilung der Kandidaten auf die Wahlkreise eingelassen. Das erschwert eine erneute Kompromissbildung nach der Wahl erheblich. Um beim Beispiel des Nouveau Front Populaire zu bleiben: Dessen AnführerInnen betonen seit Wochen, dass ihnen als Gruppe mit den meisten gewonnen Sitzen in der Assemblée Nationale die Regierungsbildung zustünde. Dieser Reflex ist angesichts des Wahlmodus und der politischen Geschichte der Fünften Republik verständlich, denn bisher wurde immer ein Premierminister aus der größten politischen Gruppe in der Assemblée ernannt. Er verkennt jedoch, dass mit der Wahl des Sommers 2024 eine bisher ungekannte politische Situation eingetreten ist: Es ist zwar klar, dass Präsident Macron die Wahl verloren hat, daraus ergibt sich jedoch nicht, dass sie jemand anderes gewonnen hat. Denn wirklich gewonnen in der bisherigen Logik des Mehrheitswahlrechts hat nur, wer eine absolute Mehrheit erreicht hat. Aus dieser Logik herauszukommen, wie nun vielfach gefordert, würde wohl auch bedeuten über den Wahlmodus nachzudenken. Bis dahin steht Frankreich vor der Aufgabe, ein „klassisch“ kontinentales von Koalitionen geprägtes System auf der Basis eines diesem (zeitlich) widersprechenden Wahlrechts zu konstruieren. Bis dahin wird das Land seit langen Wochen von einer geschäftsführenden Regierung regiert – ein weiteres französisches Novum.

Eine Umdeutung der Rolle des Präsidenten?

In der andauernden politischen Pattsituation richten sich die Augen auf den Präsidenten, zu dessen verfassungsrechtlichen Machtfülle die Ernennung des Premierministers gehört (Art. 8 Abs. 1 CF). Bisher wurde in diese Vorschriften eine klare Hierarchie zwischen Präsidenten und Premierminister gelesen, wonach der Präsident die Person des Premierministers frei auswählen kann. Die Asymmetrie zwischen den beiden Köpfen der Exekutive wurde bisher dadurch verstärkt, dass der Präsident meistens, insbesondere nach der Angleichung der Wahlzyklen von Präsidenten und Nationalversammlung durch die Verfassungsänderung von 2000, eine starke Mehrheit hatte. Nur im Fall einer „cohabitation“, wenn die Mehrheit in der Assemblée nicht dieselbe politische Farbe wie der Präsident hat, wurde dieses Recht als eingeschränkt gesehen und der Präsident ernannte dementsprechend einen Premierminister aus den Reihen der Opposition. Da in der momentanen Situation jedoch niemand die absolute Mehrheit erreicht hat und somit eine bisher unbekannte „cohabitation atypique“ eingetreten ist, kommt die bisherige Interpretation der Rolle des Präsidenten an seine Grenzen.

Seit der Wahl im Juli beruft sich Macron daher auf seine „verfassungsmäßige Rolle als Schiedsrichter, der die institutionelle Stabilität und die Unabhängigkeit der Nation garantiert“. Damit verweist er auf Art. 5 Abs. CF, wonach dem Präsidenten die Rolle des „arbitre“, des Schlichters oder Schiedsrichters, zufällt. In der Tat argumentieren auch in der verfassungsrechtlichen Debatte vermehrt Stimmen, dass sich der Präsident nun als neutraler Mediator geben müsse, statt wie bisher politiknah und machtbewusst zu agieren.

Fraglich ist, ob diese Neuinterpretation mit dem aktuellen Präsidenten machbar ist, der bisher eher eine royale Interpretation seines Amtes an den Tag gelegt hat. Das mag einerseits an dessen Person liegen. Auch weiterhin hat Macron starke eigene politische Interessen, was ihn als neutralen Streitschlichter bisher wenig glaubwürdig erscheinen lässt. Andererseits würde eine solche Umdeutung des Präsidentenamts heißen, dass sich die ambitioniertesten und talentiertesten PolitikerInnen Frankreichs das Ziel Matignon statt Elysée setzen. Und dafür muss sich erstmal eine Nachfolgerin Macrons jenseits von Le Pen finden, bei der nicht der „destin élyséen“, der mächtige Traum vom Leben im Elysée-Palast mit all seiner Strahlkraft, überhandnimmt, den die politische Tradition in Frankreich seit De Gaulle in vielen französischen PolitikerInnen tief verankert hat.

Zitiervorschlag: Mueller, Johannes, A la recherche de la majorité perdue – Zwei Anmerkungen zur Rolle des Wahl- und Verfassungsrechts in der politischen Pattsituation in Frankreich, JuWissBlog Nr. 61/2024 v. 05.09.2024, https://www.juwiss.de/61-2024/.

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