von MANUEL BEH
Allein in Rheinland-Pfalz haben mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler, die an der Europawahl teilgenommen haben, ihre Stimme per Brief abgegeben. Im Lichte dieser Entwicklung ist es durch das Interesse an einer hohen Wahlbeteiligung nicht mehr zu rechtfertigen, dass die Freiheit, Geheimheit, Öffentlichkeit und Gleichheit der Wahl in erheblichem Maße eingeschränkt werden. Dieser Beitrag plädiert dafür, dass die Briefwahl wieder zur Ausnahme in Härtefällen werden muss, während die Stimmabgabe im Wahlbüro vor dem eigentlichen Wahltag erhalten bleiben sollte.
Verfassungsrechtliche Defizite der Briefwahl
Wie aus der Zeit gefallen erscheint uns heute die Vorstellung, am Wahlsonntag mit der Familie in die örtliche Grundschule zur Wahl zu gehen. Der Gang zur Wahlurne garantiert indes die Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze. Nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG werden die Volksvertreter von der Bundes- bis hin zur Kommunalebene (mit Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) durch allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen bestimmt. Das BVerfG hat überdies den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl entwickelt, demzufolge die wesentlichen Wahlakte von der Allgemeinheit nachzuverfolgen sein müssen. Bei der Europawahl resultieren jene Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 und 2 GG. Das Institut der Briefwahl steht der Wahrung dieser Prinzipien teilweise entgegen. Es kann nicht kontrolliert werden, ob der Wahlberechtigte sein Kreuz zuhause selbst setzt oder ob der Familienvater die Wahlzettel der Ehefrau, der volljährigen Kinder und der Großeltern mit ausfüllt. Ebenso kann nicht garantiert werden, dass das selbst gesetzte Kreuz aus freien Stücken seinen Platz gefunden hat. Soziale, emotionale und finanzielle Abhängigkeiten sowie räumlich beengte Verhältnisse erschweren es rein tatsächlich, dass die Briefwahl den Maßstäben genügt, die die Verfassung vorgibt. Die unbeeinflusste Wahlentscheidung wird nur dann sicher gewährleistet, wenn die Wahlberechtigten ins Wahllokal gehen, in dem der Wahlvorstand über die geheime Stimmabgabe wacht. Kurzum: Je größer der Anteil der Briefwählenden ist, desto mehr rücken die Geheimheit, Freiheit und Öffentlichkeit sowie die Gleichheit der Wahl in den Hintergrund.
Die Briefwahl und das BVerfG
Diese Erkenntnis ist nicht neu und macht die Briefwahl verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig. Das BVerfG hat 1981 bereits entschieden, dass eine Rechtfertigung gelingt. Denn nur durch die dezentrale Stimmabgabe könnten bettlägerige und kranke Menschen sowie im Ausland lebende oder arbeitende Staatsangehörige an der Wahl teilnehmen. Damit erreiche der demokratische Einfluss auch Bevölkerungsgruppen, die bei einer Stimmabgabe vor Ort benachteiligt wären. Rechtfertigung für die Beeinträchtigungen der genannten Wahlrechtsgrundsätze sei die Allgemeinheit der Wahl. 2013 hat das BVerfG dies sogar für die zwischenzeitlich eingeführte Möglichkeit bestätigt, ohne Angabe von Gründen per Brief zu wählen.
Quantität über Qualität?
Diese Entscheidungen des BVerfG mögen in ihrer Zeit gesehen nachvollziehbar gewesen sein. Sie legen dem Gesetzgeber jedoch auch eine Pflicht auf, die Briefwahl in ihrer tatsächlichen Handhabung ständig zu überprüfen und im Falle auftretender, nicht zu rechtfertigender Missstände für die Geheimheit und Freiheit der Wahl die Regelungen anzupassen.
Dies ist allmählich an der Zeit, wie der drastische, nicht mehr mit pandemischen Gründen zu rechtfertigende Anstieg des Briefwahlanteils bei den jüngsten Europawahlen zeigt. So haben in Rheinland-Pfalz mit 53,1 Prozent mehr als die Hälfte der Wählenden dezentral abgestimmt. Einen Briefwahlanteil von 7,1 Prozent (1965), der als Grundlage für die Briefwahlentscheidung des BVerfG 1967 diente, haben wir heute um ein Vielfaches übertroffen. Das Wahlverfahren wird dadurch anfälliger für Manipulationen und verliert auch im Allgemeinen an Vertrauen. Schwachpunkte sind die Umstände des Ausfüllens im weitesten Sinne und der Weg per Post ins Wahlzentrum.
Selbstredend ist es ein legitimes Ziel, durch die Briefwahl möglichst viele Wahlberechtigte anzusprechen. Doch führt eine größere Wahlbeteiligung nicht zwangsläufig zu einer größeren demokratischen Legitimation. Nach Art. 20 Abs. 2 GG geht alle staatliche Gewalt vom Volke aus, die es insbesondere in Wahlen ausübt. Eine Wahl im Sinne des Grundgesetzes hat indes den Wahlrechtsgrundsätzen zu entsprechen. Das bedeutet, dass eine höhere Anzahl unfreier Wahlentscheidungen den Willen des Volkes nicht in stärkerem Maße abbildet. Die demokratische Legitimation der Wahl entspringt der Freiheit der Wahl, die wiederum durch den geheimen Wahlakt ermöglicht wird. Folglich findet das Ziel, die Wahlbeteiligung zu steigern, in der Art und Weise der Durchführung der Wahl seine Grenzen – und diese rücken näher.
Vorauswahl als Flexibilitätsanker
Zur Auflösung dieser Situation schlägt das BVerfG in einer Wahlprüfungsentscheidung von 1981 dem Wahlberechtigten vor, zunächst andere zu bitten, ihn beim Wahlakt allein zu lassen, und im Zweifel auf die Stimmabgabe im Einzelfall zu verzichten. Diese Ansätze verschieben das strukturelle Problem jedoch von staatlicher Seite aus in die Sphäre des Bürgers und stehen dem eigenen Ziel entgegen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen.
Gegen die Idee, die Stimmabgabe auch schon vor dem Wahlsonntag zuzulassen, spricht unter Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze hingegen nichts. Dies ist schon heute nach § 28 Abs. 5 BWahlO und den entsprechenden Normen auf Landesebene durch die Vorauswahl möglich. Dabei nimmt der Wähler seinen vor Ort im gemeindlichen Wahlbüro beantragten Wahlschein samt Briefwahlunterlagen nicht mit nachhause, sondern gibt seine Stimme direkt vor Ort ab. Ähnlich wie im Wahllokal hat das Wahlamt dabei sicherzustellen, dass die Wahl unbeobachtet erfolgt. Modifiziert man dieses Vorgehen dahingehend, dass ein Wahlschein samt Stimmzettel nur ausgehändigt werden, wenn die Stimmabgabe vor Ort erfolgt, wäre eine freie, geheime und gleiche Wahl gewährleistet. Auf diese Weise könnte in verfassungsmäßiger Art auf individuelle Alltagsgestaltungen (vgl. BT-Drs. 16/7461, 17) Rücksicht genommen werden.
Klassische Briefwahl als Ausnahme
Die Beantragung der Briefwahlunterlagen war auf Bundesebene bis 2009 in § 25 Abs. 1 BWahlO aF nur möglich, wenn man sich am Wahltage aus wichtigem Grund außerhalb des eigenen Wahlbezirks aufhielt, wenn man gerade in einen anderen Wahlbezirk umgezogen war und dort nicht im Wählerverzeichnis stand oder wenn es einem unzumutbar war, aus gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen ins Wahllokal zu gehen. Bequemlichkeit genügte nicht – „Ach was!“, mag man darauf entgegnen. Angesichts der stark steigenden Briefwahlquoten wäre eine Renaissance jener Härtefallregelung zu begrüßen. Dadurch könnte sich das Institut der Briefwahl dorthin entwickeln, wofür es ursprünglich konzipiert war: zu einer Ausnahme (BT-Drs. 16/7461, 17). Und als nützlicher Nebeneffekt wird den Populisten, die in aller Regelmäßigkeit Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Wahlaktes schüren, der Wind aus den Segeln genommen. Im Sinne der Legitimität der Wahl und der Stabilität der staatlichen Strukturen also eine Win-win-Situation!
Zitiervorschlag: Beh, Manuel, Wahlentscheidung vom Wohnzimmertisch, JuWissBlog Nr. 37/2024 v. 14.06.2024, https://www.juwiss.de/37-2024/.
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