Eine Legitimierung durch 43%? – Input-Legitimation durch das EP bei Anwendung eines Halbbeteiligungsgrundsatzes

von CHRISTOPH SMETS

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWährend in Deutschland noch debattiert wird, was die eigentliche Meldung der Wahl zum EU-Parlament ist (Schlappe von FDP oder CSU, Erfolg von SPD oder AfD), steht eines bereits fest: die Wahlbeteiligung. Sie lag europaweit bei lediglich 43,09%, bundesweit zwar immerhin bei 48%, in manchen Wahlkreisen aber auch nur bei 26,4%. Während ein solches Ergebnis bei einer Bundestagswahl besorgte Debatten auslösen würde, scheint es im Rahmen der diesjährigen EU-Wahlen lediglich zu einigen bedauernden Meldungen am Rande zu reichen. Größtenteils wird die, im Vergleich zu 2009, gestiegene Wahlbeteiligung sogar als Erfolg betrachtet.

Legitimationstheorie…

Ausgangspunkt der hiesigen Betrachtungen ist nun das aus der Politikwissenschaft kommende Modell dualer Legitimation von Herrschaft: Die Grundannahme lautet, dass für die EU nicht die gleichen Legitimationskriterien gelten könnten wie für einen Staat. Wahlen und Volksabstimmungen gelten nur noch als eine Form der Legitimation („input-Legitimation“). Die größere Hoffnung wird auf die sog. „output-Legitimation“ gesetzt, auf das „Produzieren“ von für die Betroffenen nützlichen Ergebnissen. Die EU beziehe (Glaser, s. unten Kasten zur weiterführenden Literatur, S. 95)

„einen wesentlichen Teil ihrer Legitimation daraus, dass sie als eine Instanz angesehen wird, die in der Lage ist, Probleme zu lösen, die der einzelne Nationalstaat nicht mehr für sich lösen kann“.

Aus demokratischer Sicht gibt es gegen derartige Konzepte jedoch einen großen Einwand: Nützliche Ergebnisse oder Problemlösungen können auch Oligarchen und absolute Herrscher produzieren. Output mag daher die Legitimität der von der EU ausgeübten Herrschaft steigern, kann sie aber – solange wir eine demokratische Legitimität anstreben – nicht alleine begründen. Klassische input-Legitimierung bleibt also unverzichtbar.

Diese wiederum wird auf zwei Arten angestrebt: durch die ihrerseits legitimierten Regierungen in Europäischem Rat und Rat der EU und durch die unmittelbar gewählten Abgeordneten des EP. Im Herzen dieser Legitimierung steht auf europäischer Ebene die Wahl zum Europäischen Parlament (EP). Je mehr sich die EU in Richtung eines Bundesstaates bewegt, umso mehr gewinnt dieses auch für die Legitimierung von EU-Herrschaft an Bedeutung.

Vor diesem Hintergrund steht die Frage des Beitrags: Welche Auswirkungen hat eine derart niedrige Wahlbeteiligung auf das Legitimierungspotential des Europäischen Parlaments für die EU insgesamt? Dieser Frage kann hier, ebenso wie den diversen, soziologischen, politikwissenschaftlichen, philosophischen und rechtswissenschaftlichen Legitimitätsmodellen selbstverständlich nicht in ihrer Tiefe nachgegangen werden. Auch kann hier nicht einmal ansatzweise der unüberschaubare Komplex „EU und Legitimation“ behandelt werden. Es sollen lediglich einige Aspekte angerissen werden, die für die oben aufgeworfene Frage von Interesse sein können.

Doch ab welcher Wahlbeteiligung beginnt überhaupt eine De-Legitimierung? 65%, 50%, oder noch weniger? Nachdem Konsens in einem Gemeinwesen kaum je zu finden ist, bleibt (bei aller möglichen Kritik) die einfache Mehrheit das Regel-Kriterium demokratischer Entscheidungsfindung (vgl. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Es findet lediglich für besonders schwerwiegende Entscheidung eine Erhöhung statt (vgl. Art. 79 Abs. 2 GG). Damit eine Entscheidung als demokratisch getroffen gelten kann, sollte eine Mehrheit zugestimmt haben.

Aber eine Mehrheit wovon? Ist ein Gremium erst einmal konstituiert, fällt die Antwort leicht; für das Vorfeld der Konstituierung kann aber nichts anderes gelten: Denn wenn mehr als die Hälfte der Herrschaftsberechtigten die Ausübung der Herrschaft verweigern – aus welchem Grund auch immer – kann abseits von unterstellter Zustimmung (die wir auch im bürgerlichen Recht kaum gelten lassen) kein positiver Willensakt der Nicht-Wähler unterstellt werden. Unterhalb einer solchen „Halbbeteiligung“ hat der Wahlakt selbst nicht einmal mehr eine „relative“ (im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wähler) Mehrheit (z.B. Vetter, s. Kasten, S. 788) Ab dieser Beteiligung würde die absolute Minderheit Herrschaft über die Mehrheit ausüben. Im dann konstituierten Gremium könnte nicht einmal mehr eine Allparteienregierung die Mehrheit der Wahlberechtigten, sondern nur noch die Mehrheit der Wähler abbilden (ähnlich Schäfer, s. Kasten, S. 5).

…und ihre Folgen für die Legitimation der EU?

Eine solche Beteiligung wurde bei der Europawahl nun zum dritten Mal seit 1994 klar verfehlt. Was ist aus Legitimations-Sicht die Folge? Solange die Wahlbeteiligung unter 50% liegt, ist die input-Legitimation der EU durch das EP geschwächt. Die Vorbehalte gegen die output-Legitimation bleiben aber dieselben (s. o.). In der Zwischenzeit wird also das Gros der input-Legitimation durch die mitgliedstaatlichen Regierungen vermittelt. Vielleicht liegt hier einer der tieferliegenden Gründe des „Gerangels“ zwischen Europäischem Rat und EP um den Posten des Kommissionspräsidenten. Sollten also nun etwa die Kompetenzen der Regierungen gestärkt werden? Das hieße wohl den Bock zum Gärtner machen. Direktere demokratische Legitimation kann nur das Parlament vermitteln.

Die Antwort muss also lauten, jede Maßnahme zur Erhöhung der Wahlbeteiligung zu treffen. Wie könnte man eine Erhöhung der Wahlbeteiligung erreichen? Wahlpflicht, vorauseilende Stärkung des EP, interessantere Kandidaten, bessere Plakate: Alles das wären Möglichkeiten für eine bessere Wahrnehmung des EP. Alle Maßnahmen bleiben aber Spekulation, solange nicht bei den Ursachen der niedrigen Wahlbeteiligung angesetzt wird. Untersuchungen belegen etwa, dass die EP-Wahlen als sog. Nebenwahlen (‚second-order elections‘) betrachtet werden (Vetter, S. 789). In Anbetracht der Bedeutung der europäischen Ebene müsste also eine Aufwertung zu einer Hauptwahl erfolgen: Neben breiterer und innovativer Berichterstattung über die Arbeit des Parlaments könnte darüber nachgedacht werden, die EP-Wahlen mit der von den Bürgern als Hauptwahl betrachteten Wahl zusammenzulegen: der Bundestagswahl.

Tiefersitzendes Problem?

Vielleicht muss aber noch tiefer gebohrt werden: Wahlbeteiligung wird nach dem sog. „Michigan-Modell“ v. a. durch die „staatsbürgerliche Orientierung“ bestimmt (s. Steinbrecher/Rattinger, s. Kasten, S. 82): Politisches Interesse, Zufriedenheit mit dem System, Identifikation mit einer bestimmten Partei, Glaube an den eigenen Einfluss und an das „Gehörtwerden“ durch die Politik sind demnach die bestimmenden Faktoren für die Wahlbeteiligung. Politisches Interesse muss früh gefördert und kann später nur schlecht „hergestellt“ werden, ebenso wenig wie die Identifikation mit einer bestimmten Partei.

Entscheidend werden wohl die übrigen Faktoren gewesen sein: In krisengeschüttelten Ländern wie Griechenland und Zypern und bedrohten wie Spanien und Portugal oder solchen, die mit „Austerität“ v. a. einen schlechten Arbeitsmarkt verbinden, kann eine EU-Wahl nur wenig Euphorie auslösen. Eng hiermit verbunden ist der Glaube an die politische Wirksamkeit: Ein ausgeprägtes „Die machen doch eh, was die wollen“-Gefühl lässt Wahlverweigerung zum letzten, trotzigen Zeichen der Unzufriedenheit werden.

Die Antwort wird am Ende wohl folgende sein müssen: Die EU und das Parlament müssen eine bessere Politik machen, Bürger gehört und Sorgen ernstgenommen werden. Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, Rettungspolitik unter Verstoß gegen Primärrecht und ein Subsidiaritätsprinzip als Papiertiger (Stichwort: Ölkännchen) dürften die Symbole für die eigentlichen Gründe niedriger Wahlbeteiligung sein. Ob es tatsächlich der Rückverlagerung von Kompetenzen bedarf, ist eine schwierige Frage; Europa vom Kopf auf die Füße stellen dagegen wohl ein richtiger Ansatz. Denn soll die Wahlbeteiligung steigen, muss die EU ein Ort werden, in dem tatsächlich Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.

 

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Legitimationstheorie und EU

Grundlegend für duale Legitimation von Herrschaft Scharpf, Regieren in Europa, Frankfurt a. M./New York 1999.

Output-optimistisch Glaser, Über legitime Herrschaft, Tübingen 2013; Schäfer, Die demokratische Grenze output-orientierter Legitimation, integration 2006, 187.

Output-kritisch Lord/Beetham, Legitimizing the EU: Is there a ‚Post-parliamentary Basis‘ for its Legitimation?, JCMS 2001, 443

Zur input-Legitimation des EP Stein, Demokratische Legitimierung auf supranationaler und internationaler Ebene, ZaöRV 2004, 563.

Zur sinkenden Wahlbeteiligung Vetter, Alles nur Timing? Kommunale Wahlbeteiligung im Kontext von Bundestagswahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament, ZParl 2009, 788; Schäfer, Alles halb so schlimm? Warum eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, MPIfG Jahrbuch 2009/10, S. 5.; Ders., Die Wahlbeteiligung, in: Rattinger u. a. (Hrsg.), Zwischen Langeweile und Extremen. Die Bundestagswahl 2009, Baden-Baden 2011.

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Christoph Smets, demokratische Legitimation, EU, Europäisches Parlament, Europawahl, Halbbeteiligung, Mehrheitsprinzip, output-Legitimation, Verfassungsrecht
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Frederik Ferreau
    3. Juni 2014 08:36

    Zustimmung! Man kann die ganze Problematik auch selbst auf den Kopf stellen: Die Wahlbeteiligung ist so gering, WEIL das Parlament vergleichsweise schwach ist im Verhältnis zu den anderen EU-Organen. Wenn das am besten demokratisch legitimierte EU-Organ nicht einmal die Kernnkompetenz zur alleinigen Einsetzung der Gubernative hat, warum soll sich das Wahlvolk dann besonders „anstrengen“?!
    I. Ü. bin ich kein Anhänger der Thesen fehlender Legitimation aufgrund geringer Wahlbeteiligung: Solange jeder die Chance zum Wählen hat und aus freien Stücken über seine Wahl)-nicht-)beteiligung entscheidet, ist alles in Ordnung. Der Nichtwähler wird schon sehen, was er davon hat und – bei Unzufiredenheit – bei der nächsten Wahl seine Schlüsse daraus ziehen.

    Antworten
  • Wie waere es mit Wahlpflicht? Man muss Buerger zu Demokraten erziehen, ihnen das Wissen zukommen lassen, sich am demokratischen System zu beteiligen, wieso nicht ein weiterer Anreiz – die Wahlpflicht.In Australien gibt es seit 1924 Wahlpflicht. Es gibt Argumente die dafuer und dagegen sprechen. Das Parlament spiegelt eher den Willen der Buerger wieder, dafuer, es ist undemokratisch Buerger zur Wahl zu zwingen, dagegen. Rohan Wenn hat sich zur letzten Wahl in Australien dahingehend geaussert:
    „If you look at the international experience, in non-compulsory voting systems, the people who don’t vote are the poor and disenfranchised and those are exactly the people we think should be voting.“
    Kann man die Zufriedenheit einer Bevoelkerung mit den politischen Eliten wirklich daran messen, wie viele Menschen zur Wahl gehen?

    Antworten
  • Christoph Smets
    3. Juni 2014 12:23

    @Frederik: Wir befinden uns da natürlich in einem Zirkel. Wenn man auf dem Boden meiner Argumentation bleibt, ist das EP momentan gerade NICHT besonders gut legitimiert, sondern spielt im Gegensatz zum Eur. Rat und Rat der EU sogar eher die zweite Geige im Legitimations-Orchester. Es gibt übrigens durchaus Stimmen (http://www.verfassungsblog.de/paying-tribute-ghost-democratic-deficit/), die den Wert des EP als demokratisches Organ zur Legitimation überhaupt kritisch sehen.

    Hier eine vorauseilende Stärkung vorzunehmen, beruht auf etwas, was ich in einer früheren Version des Beitrags als „Field of Dreams“-Methode bezeichnet hatte: „If you build it, he will come!“. Nun sind wir nicht ein einem Baseball-Film und die Frage ist, ob wir – sollte die Methode nicht fruchten – nicht das EP ungerechtfertigterweise mit noch mehr Kompetenzen ausgestattet hätten, mit ungewissem Ausgang für die Machtbalance der EU und der Mitgliedsstaaten insgesamt.

    Die reine Möglichkeit der Wahl betrachte ich hingegen nicht als ausreichend für ein Legitimations-Potential: Nichtwahl ist keine implizite Zustimmung, sondern Enthaltung. Enthalten sich zu viele oder gar alle, dann bricht das (zugegebenerweise idealisierte) Modell demokratischer Herrschaft zusammen. Wenn der Herrscher schweigt, herrscht er nicht, und die Repräsentativherrschaft kann sich nicht mehr auf einen Bürgerwillen berufen.

    @Rike: Ich empfinde eine Wahlpflicht als zutiefst freiheitsfeindlich, aus folgendem Grund:

    „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
    wie es E.-W. Böckenförde unnachahmlich auf den Punkt gebracht hat. Besser kann ich es nicht sagen.

    Zu Deiner letzten (rhetorischen?) Frage: Es geht m. E. nicht um die Zufriedenheit mit DEN politischen Eliten. Es geht um die Zufriedenheit mit dem demokratischen System als solchem. Solange ich wähle, – und sei es aus Protest – tue ich zumindest den Willen kund, das System in seiner bisherigen oder einer anderen Richtung, zumindest aber PRINZIPIELL zu unterstützen (So auch Steinbrecher/Rattinger, S. 82, 86: „Unzufriedenheit [mit politischen Aktueren einerseits, der Demokratie als solcher andererseits] eines der zentralen Motive der Wahlverweigerung“) . Wer gar nicht mehr wählt, tut kund, dass ihn das System nicht mehr interessiert oder er es sogar aktiv verneint. Wer hingegen prinzipiell zufrieden ist, der geht wählen.

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