von NIKLAS SIMON
Mit der Auflösung der Nationalversammlung nach dem Wahlerfolg der extrem rechten Partei „Rassemblement National“ bei den Europawahlen (31,37%) und der darauf folgenden Terminierung der Parlamentswahlen auf den 30. Juni und 7. Juli (eigentlich vorgesehen für 2027) hat der französische Präsident Emmanuel Macron selbst die eigene Partei kalt erwischt. Die Parlamentsauflösung und vor allem die nun anstehende Organisation der Wahlen werfen zahlreiche rechtliche Fragestellungen auf, auf die überblicksartig eingegangen werden soll.
Allgemeines zum Wahlsystem
Das französische Wahlrecht für die Wahlen zur Nationalversammlung („Unterhaus“, daneben gibt es noch den Sénat) beruht auf einem reinen Mehrheitswahlrecht (Reformüberlegungen einer teilweisen Einführung eines Verhältniswahlrechts sind in den vergangenen Jahren gescheitert). Die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung werden in ebenso vielen Wahlkreisen per Mehrheitswahlrecht gewählt, davon sind zehn Wahlkreise in den Überseegebieten und elf Wahlkreise für die im Ausland lebenden Französinnen und Franzosen.
Gewählt ist, wer im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, also mehr als 50% der abgegebenen Stimmen, erreicht, sofern dies mehr als 25% der eingeschriebenen Wählerinnen und Wähler sind (vgl. Artikel L126 Code électoral). Im gegebenenfalls stattfindenden zweiten Wahlgang, an dem alle Kandidierenden mit mehr als 12,5% der Stimmen der eingeschriebenen Wählerinnen und Wähler teilnehmen oder, sofern dies niemand erreicht, die beiden mit den meisten Stimmen, reicht die relative Mehrheit (vgl. Artikel L162 Code électoral).
Zur Auflösung der Nationalversammlung
Präsident Emmanuel Macron hat am 9. Juni verkündet, die Nationalversammlung aufzulösen. Der Präsident allein kann die Nationalversammlung auflösen (vgl. Artikel 12 der Verfassung), er muss seine Ministerinnen und Minister lediglich zuvor informieren. Gründe muss er keine benennen oder vorweisen. Das letzte Mal vorgekommen ist dies 1997. Nach der Auflösung muss innerhalb von 20 bis 40 Tagen der erste Wahlgang der Neuwahl stattfinden. Es sind im aktuellen Fall 21 Tage, somit eine sehr kurze Dauer.
Dies führt zu zahlreichen Problemen und juristischen Streitigkeiten. Inzwischen sind bereits acht Anträge (Stand 14.06.2024) vor dem französischen Verfassungsgerichtshof Conseil constitutionnel eingegangen (zu Hintergründen der Verfahrensart hier).
Einer davon ist von der Nichtregierungsorganisation ADELICO (Association de défense des libertés constitutionnelles), die ersucht, die Wahl noch hinauszuzögern. Sie argumentiert, dass aufgrund der Tatsache, dass die Wahlen in den Überseegebieten und für Teile der Auslandsfranzosen etwas früher stattfinden, die 20 Tage nicht eingehalten seien (mehr hier). Französische Verfassungsexpertinnen und –experten halten das Vorgehen jedoch für wenig Erfolg versprechend, insbesondere da die französischen Überseegebiete schon immer kürzere Fristen hatten und auch sehr kurze Fristen in der Vergangenheit vom Conseil constitutionnel für verfassungsgemäß gehalten wurden (mehr dazu hier).
Wenig Zeit bleibt auch für die Kandidierenden, ihre Kandidatur anzumelden. Laut Artikel L157 Code électoral müssen die Kandidaturen bis zum viertletzten Freitag vor der Wahl eingehen. Dies wäre aber bereits der 7. Juni gewesen. Da die Frist in der Verfassung jedoch auch 20 Tage als mögliches Minimum vorsieht und die Verfassung dem einfachen Recht vorgeht, muss der Code électoral verfassungskonform ausgelegt werden und es liegt kein relevanter Verfassungsverstoß vor (siehe dazu hier und hier).
Wahlkampf
Aktuell werden intensive Diskussionen über Allianzen zwischen untereinander sympathisierenden Parteien geführt, deren Folge bereits mehrere Parteiausschlüsse waren. Insbesondere Eric Ciotti von „Lés Républicains“ hatte sich offen für eine Allianz mit dem „Rassemblement National“ gezeigt und so die „Brandmauer“ aufgehoben, was zu seinem Parteiausschluss führte, den er aber nicht anerkennt (so postete er am Tag darauf ein Video von sich im Büro) und gegen den er Klage eingereicht hat.
Hintergrund der Allianzen ist das französische Mehrheitswahlrecht. Sympathisierende Parteien müssen sich verbünden, um eine realistische Chance zu erlangen, einen Wahlkreis zu gewinnen. Die linken und extrem linken Parteien haben ein Bündnis geschlossen (genannt „Nouveau Front populaire“), sie haben sich auf eine Aufteilung der Wahlkreise geeinigt und ein Programm vorgelegt. Die rechten Parteien haben noch keine echte Einigung erzielen können.
„Renaissance“, die Partei von Emmanuel Macron, ist nicht Teil der jeweiligen Bündnisse, sondern versucht, sich als Partei der „Mitte“ zu präsentieren. Die Risiken dieser Taktik sind jedoch enorm, immer mehr Französinnen und Franzosen scheinen bereit, auch die extremen Ränder zu wählen, Hauptsache nicht die Partei von Macron (nicht zuletzt deshalb scheinen viele Kandidierende von „Renaissance“ das Bild von Macron im Wahlkampf zu meiden).
Schwierigkeiten bereitet im Wahlkampf die Vermischung des Amtes und der Parteipolitik. Zahlreiche Ministerinnen und Minister haben angekündigt, zu kandidieren. Zudem mischt sich der Staatspräsident in den Wahlkampf ein. So hat Emmanuel Macron am 12. Juni eine ausführliche Pressekonferenz gegeben, in der er unstreitig Wahlkampf betrieben hat. Hierbei gilt allerdings, dass die finanziellen Mittel strikt getrennt sein müssen (was bei der Pressekonferenz auch eingehalten war), die Ministerinnen und Minister müssen Urlaub nehmen, wenn sie an Wahlkampfveranstaltungen teilnehmen (vertieft zu dem Ganzen hier). Die Redezeiten der Parteien in den Medien werden zudem umfassend kontrolliert.
Nichtsdestotrotz bleibt die Trennung zwischen Amt und der Parteipolitik gerade in der öffentlichen Wahrnehmung schwierig bis unmöglich.
Wahlteilnahme
Problematisch ist, dass die Wahllisten bereits mit Ankündigung der Neuwahlen am 9. Juni geschlossen wurden. So kann es sein, dass Personen gar nicht auf Wahllisten stehen oder falsch eingetragen wurden. Davon sollen etwa 11 Millionen Personen betroffen sein (mehr dazu hier). Die meisten der Personen sind falsch eingetragen, wohnen also beispielsweise nicht mehr an dem Ort, an dem sie im Wahlregister stehen.
Die Briefwahl wird in Frankreich traditionell als zu missbrauchsanfällig angesehen (nur die Auslandsfranzosen haben diese Wahlmöglichkeit), stattdessen wird die Wahl per Procuration, also Stellvertreter/in, ermöglicht. Insofern dürfte in den meisten Fällen, in denen Personen noch mit alten Adressen auf den Wahllisten stehen, die Wahl per Stellvertreter/in Abhilfe leisten, es muss nur jemand gefunden werden, der für einen in dem Wahlkreis, in dem man eingetragen ist, zur Wahl geht (seit 2022 kann die Person sogar in einem anderen Wahlkreis auf der Wahlliste stehen, die Stellvertretung muss aber im Wahlkreis der Vertretenen erfolgen).
Kann Macron einen Premierminister Bardella verhindern?
Artikel 8 der Französischen Verfassung besagt lediglich, dass der Präsident den Premierminister ernennt. Bei der Pressekonferenz hat Macron jedenfalls angedeutet, dass er sich nicht den Namen des zukünftigen Premierministers bzw. der zukünftigen Premierministerin diktieren lassen wird. Rein theoretisch könnte er also verweigern, Jordan Bardella (vorausichtlicher Kandidat des „Rassemblement National“) zu ernennen. Dann stellt sich die Frage, ob Marcon jemand anderen ernennen könnte.
Dass Macron eine/n Premiernister/in ernennt, der/die nicht von der stärksten Partei ist, ist letztlich jedoch unwahrscheinlich und ein solcher Vorgang ist in der Vergangenheit noch nie vorgekommen. Würde Macron dies trotz entgegenstehender Mehrheit tun, könnte die Parlamentsmehrheit theoretisch ein Misstrauensvotum (Artikel 49 Verfassung) durchführen und so die Regierung stürzen. Insofern könnte eine absolute politische Blockade drohen. Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Eine erneute Auflösung des Parlaments würde in diesem Fall jedenfalls ausscheiden, sie ist frühestens ein Jahr nach den Wahlen möglich (vgl. Artikel 12 Französische Verfassung).
2027 könnte es allerdings wieder zu einer Auflösung der Nationalversammlung kommen: Folge der aktuellen Auflösung ist, dass Präsidentschafts- und Nationalversammlungswahlen asynchron werden, nicht unwahrscheinlich also, dass eine neue Präsidentin oder ein neuer Präsident 2027 die Nationalversammlung auflösen wird, um sich eine Mehrheit im Parlament zu sichern.
Fazit
Aktuell sieht alles danach aus, als könnten die Parlamentswahlen wie geplant durchgeführt werden. Ob es sinnvoll war, in Anbetracht der zahlreichen organisatorischen Herausforderungen die erste Wahlrunde bereits nach 21 Tagen durchzuführen, erscheint zweifelhaft. Angeblich sollte verhindert werden, dass die zweite Runde der Wahlen, und damit möglicherweise der Wahlerfolg der extremen Rechten, auf den 14. Juli und damit den französischen Nationalfeiertag fällt.
Zitiervorschlag: Simon, Niklas, Steht Frankreich vor einer extrem rechten Regierung? – Aktuelle Fragen und Herausforderungen des französischen Wahlrechts, JuWissBlog Nr. 38/2024 v. 14.06.2024, https://www.juwiss.de/38-2024/.
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