Jenseits des Kopftuchs: Warum geht die Debatte „Schöffin mit Kopftuch“ immer noch in die falsche Richtung?

von BEDIRHAN ERDEM

Der sogenannte Kopftuchstreit flammte erneut auf, als eine Schöffin sich weigerte, auf der Richterbank das Kopftuch abzulegen. Die anschließende Debatte konzentrierte sich schnell auf die symbolische Bedeutung des Kopftuchs. Es ging um eine Grundrechtskollision zwischen der positiven Religionsfreiheit der Muslimin einerseits und dem Neutralitätsgebot der Justiz andererseits. So geriet die Debatte in eine Sackgasse. Um dieser zu entgehen, muss die Grundfrage der Debatte neu gestellt werden.

Der sogenannte Kopftuchstreit flammte erneut auf, als eine Schöffin sich weigerte, auf der Richterbank das Kopftuch abzulegen. Die anschließende Debatte konzentrierte sich schnell auf die symbolische Bedeutung des Kopftuchs. Es ging um eine Grundrechtskollision zwischen der positiven Religionsfreiheit der Muslimin einerseits und dem Neutralitätsgebot der Justiz andererseits. So geriet die Debatte in eine Sackgasse. Um dieser zu entgehen, muss die Grundfrage der Debatte neu gestellt werden.

Debattenführung diesseits des Kopftuchs

Dass bereits darüber eine Verfassungsbeschwerde erhoben wurde (s. hier), wird diese Perspektivverschiebung lediglich zur Erweiterung des Deutungsrahmens vom Kopftuchstreit führen, die die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) inhaltlich bereichern könnte. An dieser Stelle ist zum Hintergrund der aktuellen Debatte und der jüngsten Entscheidung des OLG Hamm auf den einleuchtenden Beitrag von Hadadi – hier im JuWissBlog – zu verweisen.

Debattenführung jenseits des Kopftuchs

Die Argumentation zugunsten eines Kopftuchverbotes für die Ausübung des Schöffenamtes bleibt lückenhaft, solange sie die demokratischen Grundlagen der Laienmitwirkung in der Strafrechtspflege und die funktionellen Aufgaben des Schöffenamts im Strafprozess übersieht. Im Folgenden wird das Schöffenamt innerhalb seiner historischen, politischen und rechtsdogmatischen Grundlagen kontextualisiert.

Schöffen in ihrer Symbolkraft

Schöffen traten im Laufe der deutschen Rechtsgeschichte in unterschiedlichen Formen auf und reagierten auf sich verändernde Bedürfnisse im Strafverfahren. Während Laien im altgermanischen Recht als „Urteilsfinder“ wirkten, traten sie im Gemeinen Recht als „Beisitzer“ (zur Gewährleistung der Richtigkeitskontrolle der Protokolle von Untersuchungsrichtern im Untersuchungsverfahren) auf (s. Biener, S. 136 ff.). Heute soll das Schöffenamt das Demokratiedefizit im Strafverfahren ausgleichen, insbesondere bei Kapitalverbrechen. Dabei kann offenbleiben, ob die Laienmitwirkung diese legitimierende Funktion heute tatsächlich erfüllt.

In einer demokratischen Gesellschaft, in der die Justiz im Namen des Volkes handelt, müssen bürgerliche Laien an der Strafrechtspflege teilnehmen können – unabhängig von Geschlecht oder religiöser Überzeugung. Denn in der aktuellen Struktur des Strafverfahrens führt der Staat das Strafverfahren. Staatsanwaltschaft und Berufsrichter üben das Gewaltmonopol aus. Eine Verfahrensbalance zwischen Staat und Bürger:in kann nur durch die Hinzuziehung anderer Mitbürger:innen gewährleistet werden (s. Erdem/Orhan, Rn. 39). Symbolisch betrachtet geht es bei dem Schöffenamt mehr als um bloße Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege oder um eine vorläufige „Beamtenstelle“, so deutet sie also institutionell eine mitbürgerliche Solidarisierung gegen das Gewaltmonopol des Staates an, wie der Kampf um Laienmitwirkung in der deutschen Strafrechtspflege trotz der starken Opposition beim Reichstag zeigt (vgl. Ignor, S. 249f.). Alle, die ohnehin von dem staatlichen Strafanspruch betroffen sind, müssen nämlich Zugang zu dieser Schöffenstelle haben.

„Andersaussehende“ in ihrem politischen Kampf zur Beteiligung an der Strafrechtspflege

Frauen wegen ihres religiösen Bekenntnisses oder ihres Geschlechts von der Strafrechtspflege auszuschließen ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Dahinter steht eine historisch tief verwurzelte Verfahrenskultur, die Laienbeteiligung auf Personen beschränkt, die der privilegierten Mehrheitsgesellschaft angehören – regelmäßig also weiß und männlich sind. Eine lange Tradition zu Ungunsten von Frauen bzw. „Andersaussehenden“ (oder ebenfalls nicht weißen, nicht männlichen Personen) ist geschichtlich fast überall zu beobachten, und zwar unabhängig davon, welches Rechtssystem Anwendung gefunden hat.

In den USA z.B. entschied der US-Supreme Court so im Fall Hoyt v. Florida (368 U.S. 62), dass Frauen von der Geschworenenpflicht entbunden werden könnten, um ihren häuslichen Pflichten nachzukommen. Ebenso wenig waren die PoC (people of color) zur Laienbeteiligung willkommen (s. Frampton, S. 519). In Österreich z.B. hatte die Frauenbewegung 80 Jahre lang darum gekämpft, dass Frauen in der Strafrechtspflege als Geschworene beitragen. Abgesehen von der systematischen Differenzierung zwischen der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Art von Strafprozessen lag darin häufig ein latenter Versuch zur Ausschließung der Anderen von der Strafjustiz, denn die Mehrheit in der Gesellschaft würde nie die politische Macht des Strafprozessrechts mit den anderen Teilen der Gesellschaft teilen (Hierzu ausführlich weiterführende Literatur s. Lieber, S. 202, 211 und 245f.; Lentz, S. 87) – wie Tocqueville zutreffend festgelegt hat, (he) who punishes infractions of the law is therefore the real master of society (s. Chapter XVI Part II).

Die umstrittene Emminger-Notverordnung in der Weimarer Republik ging politisch auf denselben Grund zurück. Die Notverordnung änderte die ganze Struktur des Schwurgerichts innerhalb eines Tages durch die komplette Abschaffung des Geschworenenverfahrens in dem deutschen Strafverfahrensrecht ohne Abstimmung im Reichstag. Die damit selbst verursachte Lücke an der Laienmitwirkung in Schwurgerichten füllte die Notverordnung mit dem herkömmlichen Schöffenamt aus.

Unsere aktuelle Debatte um die „Schöffin mit Kopftuch“ wird erst im Kontext dieser Kontinuitäten verständlich. Wer als Schöffin zum konkreten Verfahren beitragen darf, ist ebenso politisch geprägt wie die institutionell-funktionale Bedeutung des Schöffenamtes in der Strafrechtspflege. Es wurde – und wird – daher also ausnahmslos politisch erkämpft. Ganz spekulativ: Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn unsere Protagonistin sich bereits vorab dieser Tatsache bewusst gewesen wäre, und sich deshalb mit einer strategischen Prozessführung gegen den Ausschluss als Andersaussehende auf die Richterbank gesetzt hätte.

Deshalb kommt die Verfassungsbeschwerde nicht überraschend.

Sicherung der Neutralität des Strafprozesses durch sein eigenes Instrumentarium

Das deutsche Strafprozessrecht sieht bereits einige Instrumente vor, die die Neutralität der Justiz sicherstellen. Entscheidend ist dabei die Struktur des Schwurgerichts sowie die systematische Ausgestaltung der Hauptverhandlung. Die Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege ist dabei mit zwei potenziellen Fehlerquellen verbunden: ziviler (laienrichterlicher) Ungehorsam (wie z.B. Nichtanwendung der Strafgesetze) und Justizkorruption. Die Bewältigung zivilen Ungehorsams durch Laien auf der Richterbank kann vor der Urteilsverkündung ex ante erfolgen, da für das Schöffen- und Schwurgericht das Kollegialprinzip gilt. Dies bedeutet, dass Berufsrichter als Vorsitzende das Strafverfahren durchführen und gemeinsam mit den Schöff:innen zur Entscheidung kommen. Das Risiko von Justizkorruption, das ebenso bei Berufsrichtern besteht, lässt sich durch eine nachträgliche strafrechtliche Verantwortlichkeit in Verbindung mit Rechtsmitteln (u. a. Wiederaufnahme, vgl. § 359 Nr. 3 StPO) ex post neutralisieren. An dieser Stelle kann auf die Darlegung von Rechten von Beschuldigten bei der Besorgnis einer richterlichen Befangenheit (§§ 22, 23 oder § 24 I Alt. 2, II StPO) sowie auf die Erläuterung von Amtsenthebungsverfahren wegen einer Amtspflichtverletzung (§51 I GVG) verzichtet werden.

Fazit

Das Schöffenamt ist die einzige Art, wie Laien am deutschen Strafprozess mitwirken können. Der Staat bestimmt über den Zugang zu diesem durch Bürger:innen ausgefüllten Amt. Doch nicht ohne Grenzen. Um eine anders aussehende, sich anders kleidende Schöffin von der Strafrechtspflege auszuschließen, kann der Gesetzgeber das Schöffenamt insgesamt abschaffen. Soweit der Staat allerdings die Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege in der Gestalt des Schöffenamtes mit der eigenen symbolischen Funktion anerkennt, darf er den allgemeinen Zugang aller Bürger:innen hierzu nicht aufgrund eines höchstpersönlichen Merkmals, das letztendlich symbolisch zu einer sozialen Community oder einer Minderheit gehört, versperren.

Der Staat muss also entweder im Strafprozess das institutionelle Kernstück des Schöffenamts einhalten oder diese Institution komplett abschaffen. Beides geht gleichzeitig aber leider nicht!

Der Ausschluss einer Frau aufgrund ihres Kopftuchs vom Schöffenamt führt zu einer Entleerung der Grundfunktion von Schöffen. Solange das Schöffenamt also noch besteht, ist es für den Staat geboten, eine „Andersaussehende“ als Schöffin auf der Richterbank zu „dulden“.

Zitiervorschlag: Bedirhan Erdem, Jenseits des Kopftuchs: Warum geht die Debatte „Schöffin mit Kopftuch“ immer noch in die falsche Richtung?, JuWissBlog Nr. 60/2024 v. 05.09.2024, https://www.juwiss.de/60-2024/.

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Bedirhan Erdem, Kopftuchverbot, Laienbeteiligung, OLG Hamm, Schöffin, Strafprozessrecht
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Michael Schneider
    6. September 2024 07:47

    Der Autor schreibt: „Alle, die ohnehin von dem staatlichen Strafanspruch betroffen sind, müssen nämlich Zugang zu dieser Schöffenstelle haben“.

    Das mag man so sehen, allerdings hat dies nichts mit der derzeitigen Rechtslage zu tun. Der Zugang zum Schöffenamt ist auch sonst in vielfacher Weise beschränkt. Zu erinnern ist nur an das Staatsangehörigkeitserfordernis (§ 31 S. 2 GVG) oder die Altersgrenzen (§ 33 Nr. 1, 2 GVG).

    Antworten
  • Wolfgang Tack
    6. September 2024 10:08

    Ein sehr guter, tiefgehender Beitrag. Leider erkennt der Autor nicht das wesentliche Problem: Kopftuch und Verschleierung sind Symbole eines militanten Islam und einer (manchmal freiwilligen) Unterwerfung der Frauen.

    Zwei Gesellschaften – Iran und Türkei – sind ein trauriges Beispiel.

    Diesem militanten Islam darf sich Europa – nachdem wir eine vergleichbare christliche Dominanz mit der Aufklärung und den folgenden Jahrhunderten fast überwunden haben – nicht unterwerfen.

    Antworten

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