von MARKUS GELLRICH und DOMENIC MEINKE
Das System der Zweitstimmendeckung der Wahlrechtsreform 2023 ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Gleichwohl fordert die Union, die Bedeutung der Direktwahl wieder zu stärken. Der Anspruch, dass Wahlkreisabgeordnete lokale Repräsentation im Bundestag sicherstellen würden, geht in die falsche Richtung.
Mit Urteil vom 30. Juli 2024 hat das Bundesverfassungsgericht den Kern der Wahlrechtsreform 2023 bestätigt. Die Zweitstimmendeckung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Wahlkreisbewerber:innen, auf die die meisten Stimmen entfallen, ziehen nur dann in den Bundestag ein, wenn ihre Partei entsprechend Zweitstimmen im jeweiligen Bundesland erhalten hat. Wenn eine Partei mehr Wahlkreismandate gewinnt, als ihr Sitze nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen, erhalten die Bewerber:innen mit dem relativ geringsten Erststimmenanteil keinen Sitz mehr.
Ein Blick nach Bayern verdeutlicht das: 2021 gewannen Wahlkreisbewerber:innen der CSU dort 45 der 46 Wahlkreise, demnach ist die CSU mit 45 Abgeordneten im Bundestag vertreten. Mit der nächsten Wahl fasst der Bundestag nur noch 630 Abgeordnete. Bei einem für die CSU angenommenen Ergebnis von bundesweit knapp über fünf Prozent der Stimmen dürften sie nur noch 32 Abgeordnete in den Bundestag entsenden. Nach altem Wahlsystem hätten die übrigen 13 Wahlkreisgewinner:innen sog. Überhangmandate erhalten, die nicht vom Zweitstimmenergebnis ihrer Partei gedeckt waren. Folge der Zweitstimmendeckung ist jedoch, dass diejenigen 13 Abgeordneten mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis ihren Sitz „verlieren“ würden.
Entwertung der Wahlkreise
Kritiker:innen der Zweitstimmendeckung sehen damit die Wahlkreisstimme entwertet. Es führe dazu, dass Wahlkreise „verwaisen“, weil Mandate „gekappt“ werden. Obwohl der:die Bewerber:in dort die meisten Stimmen erhalten habe, sei der Wahlkreis im Bundestag nicht mehr repräsentiert.
Der Begriff „Kappung” impliziert jedoch, dass auf die Mandate überhaupt bzw. weiterhin ein Anspruch bestünde. Der Gewinn eines Wahlkreises allein führt nach neuem Wahlrecht aber gerade nicht mehr zur direkten Zuteilung des Mandats. Es ist nicht so, dass den Wahlkreisgewinner:innen mit den relativ geringsten Erststimmenanteilen Sitze aberkannt würden, die ihnen ansonsten zugestanden hätten (Rn. 178, 216). Auch wenn die Wahlkreiswahl nach Mehrheitsprinzip mittels Erststimme weiterhin besteht und es damit auch bei Wahlkreisabgeordneten bleibt, wird das Direktmandat mit der Reform zum Relikt.
Dass Wahlkreise „verwaisen“ würden, ist mit dem Anspruch der Wahlkreisgewinner:innen verbunden, ihren Wahlkreis und damit „ihre Region“ im Bundestag zu repräsentieren, in der sie besonders verwurzelt seien. Diese Sichtweise übersieht, dass sich auch Listenabgeordnete für die Belange der Region, der sie sich zuordnen, einsetzen (können). Im Zusammenhang betrachtet tauchen beispielsweise auf den ersten 15 Listenplätzen der Landesliste der CDU NRW 10 Kandidat:innen auf, die ihren Wahlkreis gewonnen haben. Im Umkehrschluss: Hätten sie nicht die Mehrheit der Erststimmen in ihrem Wahlkreis erhalten, wären sie dennoch über ihren Listenplatz eingezogen. Von einem eigentümlichen, ausschließlich über die Erststimmen vermittelten Repräsentationsanspruch kann also schon bei faktischer Betrachtung keine Rede sein. Weiter fand dieses Argument bereits im BWahlG a.F. keine Stütze: Schied ein:e Direktmandatsträger:in aus dem Bundestag aus, so rückte eine Person von der Landesliste auf den Sitz, um das Verhältnis nach Zweitstimmen beizubehalten (Rn. 181).
Der Bundestag ist kein Organ lokaler Repräsentanz
In den meisten Wahlkreisen verfügen direkt gewählte Abgeordnete ohnehin über keinen allzu breiten Rückhalt. Bei der Bundestagswahl 2021 gelang es nur Johann Saathoff im Wahlkreis 24, die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinigen. Um in den Bundestag einzuziehen, bedarf es durchschnittlich nur jeder dritten Stimme. Anders gewendet: Zwei Drittel der Wähler:innen wollen nicht von dem:der Wahlkreisgewinner:in repräsentiert werden. Für so manche:n Abgeordnete:n hat nicht einmal jede:r Fünfte gestimmt.
Auch ist zweifelhaft, ob sich Wahlkreise überhaupt dafür eignen, lokale Interessen abzubilden. Die Zuschnitte der Wahlkreise orientieren sich an den „kommunalen Verwaltungsstrukturen“ (Rn. 180). Die Kommunen verfügen über die Meldedaten, was einen reibungslosen Wahlablauf gewährleisten kann. Die bei der Wahlkreiseinteilung zu beachteten Faktoren zählt § 3 Abs. 1 S. 1 BWahlG abschließend auf; darüber hinausgehende lokale Belange werden dabei nicht berücksichtigt. Sie mögen in der politischen Rhetorik eine Rolle spielen, im Wahlrecht können sie allerdings nicht als Argument herhalten.
Lokale Repräsentation beginnt eben auf kommunaler Ebene. Dort ist es nachvollziehbarer, der örtlichen Verwurzelung eine größere Bedeutung zuzuschreiben. Auf übergeordneter Stufe wirken die Länder gerade über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mit (Art. 50, 51 Abs. 1 GG). Angesichts des föderalen Staatsaufbaus und des Zweikammersystems leuchtet nicht ein, weshalb lokalen Interessen gerade im Bundestag ein besonderer Stellenwert beizumessen wäre.
Aus dem Grundgesetz lässt sich kein Anspruch auf Repräsentation einer Region durch eine:n Abgeordnete:n herleiten. Wenngleich sie sich (auch) über die einzelnen Wahlkreise auf ein Bundestagsmandat bewerben, so sind die Bundestagsabgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG „Vertreter des ganzen Volkes”. Die Annahme, dass Wahlkreisabgeordnete Vertreter:innen genau ihres Wahlkreises seien, sei – so das Bundesverfassungsgericht – „ohnehin verfehlt“ (Rn. 182). Das Selbstverständnis und die Praxis einiger Abgeordneter sowie die Vorstellungen von Wahlberechtigten vermögen daran nichts zu ändern.
Dem Gesetzgeber kommt qua Verfassung der Auftrag zu, ein Bundestagswahlrecht zu schaffen, Art. 38 Abs. 3 GG. Dabei hat er – in den Schranken der Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG – einen Gestaltungsspielraum bei der konkreten Ausgestaltung des Wahlsystems (Rn. 128). Der Gesetzgeber konnte und – wie das Urteil zeigt – durfte sich also guten Gewissens vom Direktmandat (als solchem, s.o.) trennen.
Fazit: Umdenken
Das Urteil ist keine „Klatsche für die Ampel-Koalition“. Es zeigt, dass die Schwächung des Mehrheitswahlcharakters der Bundestagswahl keine „organisierte Wahlfälschung“ wie in einem „Schurkenstaat” darstellt. Die Abschaffung der Überhang-, Ausgleichs- und Direktmandate ist vielmehr ein gangbarer Weg zur Verkleinerung des Parlaments. Bei damit einhergehenden Wahlrechtsänderungen ist es Wahlberechtigten wie Parteien zumutbar, umzudenken (Rn. 169). Schafft das auch die Union?
Zitiervorschlag: Markus Gellrich/Domenic Meinke, Der Bundestag ist kein Organ lokaler Repräsentanz, JuWissBlog Nr. 59/2024 v. 03.09.2024, https://www.juwiss.de/59-2024/.
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