von MARVIN KLEIN
Am 26. September 2021 fanden nicht nur die Bundestagswahl, sondern in Berlin verschiedene weitere Wahlen und Abstimmungen statt. Obschon sowohl die frisch gewählten Abgeordneten des Bundestags am 26. Oktober und die Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhaus am 27. Oktober ihrer konstitutiven Sitzung entgegensehen, gibt es noch immer Fragen über die Gültigkeit dieser Wahlen. Das Wahlchaos in Berlin hat verschiedene Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahl genährt.
Die Wahlpannen – eine kurze Übersicht
Im Berliner Superwahljahr durften die Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme für die Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl, den Bezirksparlamentswahlen sowie einen Volksentscheid abgeben. Jede dieser Abstimmungen unterlag unterschiedlichen Voraussetzungen:
Während zur Bundestag- und Abgeordnetenwahl nur „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“ mit einem Mindestalter von 18 Jahren gem. Art. 38 Abs. 2 GG, § 12 BWahlG bzw. § 1 WahlG BE eine Stimme abgeben durften, lag die Mindestaltersgrenze der Bezirksverordnetenversammlung bei 16 Jahren. EU-Ausländer durften nur bei der Bezirksverordnetenversammlung ihre Stimme abgeben.
Der organisatorische Umgang mit diesen verschiedenen Stimmanforderungen bei mehreren parallel stattfindenden Wahlakten soll zu unberechtigten Stimmabgaben sowie Manipulationsmöglichkeiten geführt haben. Medienberichtenzufolge sollen Personen unter 18 Jahren Stimmzettel für die Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl erhalten und abgegeben haben. Ebenso machte der Bundeswahlleiter Georg Thiel darauf aufmerksam, dass sich durch die schlecht organisierte Briefwahl 16-Jährige und EU-Ausländer unberechtigt Stimmzettel verschaffen und unerkannt abgeben konnten.
Weitere Pannen kamen hinzu: In vereinzelten Bezirken sollen wegen fehlender Wahlzettel Wahllokale vorübergehend geschlossen und Wahlberechtigte abgewiesen worden sein. Ebenso soll es zu übermäßig langen Wartezeiten und Stimmabgaben nach 18:00 Uhr gekommen sein. Auch wurden bei der Wahl Stimmzettel von falschen Wahlbezirkenverteilt und später für ungültig erklärt.
Kontrollmöglichkeit der Wahl(-en)?
Die Rechtmäßigkeit der Bundestagswahl kann gem. Art. 41 Abs. 1 und 3 GG i.V.m. dem Wahlprüfgesetz (WahlPrG) kontrolliert werden. Bei der Wahlprüfung entscheidet der Bundestag (§ 1 Abs. 1 WahlPrG) über die Gültigkeit der Wahl zum Bundestag sowie die Verletzung von Rechten bei der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl. Erst auf zweiter Stufe kann das Bundesverfassungsgericht auf Beschwerde einer beschwerdeberechtigten Person die Entscheidung des Bundestags nachprüfen (Art. 41 Abs. 2 iVm. §§ 13 Nr. 3 und 48 BVerfGG). Für die Abgeordnetenhauswahl in Berlin kann hingegen die Wahl nach Einspruch einer antragsberechtigten Person unter Darlegung spezifischer Wahlfehler ohne vorherige Befassung durch das Abgeordnetenhaus vom Berliner Verfassungsgerichtshof geprüft werden (§ 14 Nr. 2, 3 und § 40 VerfGHG Berlin).
Materiell-rechtlich erforderlich ist eine Verletzung verfassungsrechtlicher Wahlgrundsätze oder ein Verstoß gegen einfaches Wahlrecht. Nicht jeder festgestellte Wahlfehler reicht aus, um den Wahlakt ungültig zu machen. Erforderlich ist ein Fehler, der sich auf die konkrete Mandatsverteilung ausgewirkt hat oder ausgewirkt haben könnte (sog. Mandatsrelevanz), sofern diese Auswirkungen nach allgemeiner Lebenserfahrung konkret möglich und nicht ganz fernliegend sind (BVerfGE 4, 370; BVerfGE 89, 291). Dieses Fehlerfolgenregime folgt aus dem im Demokratieprinzip verorteten Grundsatz des Bestandsschutzes der gewählten Volksvertretung (Vgl. BVerfGE 154, 372). All diese Anforderungen gelten gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG entsprechend für die Wahlprüfung der Abgeordnetenhauswahl.
Folgen der Wahlpannen?
1. Die unzulässige Stimmabgabe
Ein rechtlicher Fehler beim Wahlakt liegt vor, wenn Personen ohne ein ihn zustehendes Wahlrecht entgegen Art. 38 Abs. 2 und 3 GG iVm. § 12 Abs. 1 BWahlG bzw. § 1 WahlG BE an der Wahl teilgenommen haben. In welchem Umfang durch falsche Ausgabe von Stimmzetteln oder die unrechtmäßige Beschaffung von Stimmzettel für die Briefwahleinzelne nicht stimmberechtigte Personen Einfluss auf das Wahlergebnis genommen haben, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. Bekannt ist, dass es mindestens im einstelligen Bereich zu unzulässigen Stimmabgaben gekommen ist. Schwierig dürfte es sein, die unrechtmäßige Stimmabgabe durch die Briefwahl nachzuweisen. Eine direkte Zuordnung von Stimmzettel zu einer einzelnen Person zur Nachkontrolle dürfte wegen der Geheimhaltung des Wahlaktes unzulässig sein. Dass nachweisbare unzulässige Stimmabgaben wahlrechtliche Konsequenzen haben werden, ist daher – einzelne Bezirke mit geringen Stimmabständen ausgenommen – als unwahrscheinlich einzustufen.
2. Die Stimmabgabe nach 18:00 Uhr
Grundsätzlich endet gem. § 48 Abs. 1 BWO die Wahlzeit um 18 Uhr. Eine nach diesem Zeitpunkt abgegebene Stimme ist jedoch nicht unrechtmäßig. § 60 S. 2 BWO bestimmt, dass eine Stimmabgabe nach dem Ablauf der Wahlzeit für Wähler zuzulassen ist, „die vor Ablauf der Wahlzeit erschienen sind und sich im Wahlraum oder aus Platzgründen davor befinden“. Bei den Wahlen in Berlin soll genau dies der Fall gewesen sein.
Dass jedoch nach dem formellen Ende der Wahl Abstimmungen zugelassen werden, könnte für diese später entscheidenden Wähler ein erheblicher Informationsvorteil sein, da diese bereits erste Hochrechnungen der Wahlergebnisse zur Grundlage ihrer Entscheidung machen konnten, die gerade nach § 32 Abs. 2 BWG nicht die Wahl beeinflussen sollen. Dass § 60 S. 2 BWO dennoch eine spätere Stimmabgabe unter den gegebenen Umständen und damit die Gefahr von Wahlbeeinflussungen hinnimmt, ist mit dem Grundsatz der Wahlfreiheit nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar. Dieser Wahlrechtsgrundsatz fordert, dass die Wahlberechtigten frei von Zwang und unzulässigen Beeinflussungen ihr Stimmrecht wahrnehmen können (BVerfGE 7, 63). Der Gesetzgeber hat ein Wahlsystem zu schaffen, dass den verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätzen gerecht wird. Hierbei kann er zur Gewährleistung des allgemeinen Wahlzugangs organisatorische Regelungen treffen, die eine Beeinflussung durch Dritte im beschränkten Maß möglich macht. Diese Grenze ist vorliegend nicht überschritten. Das zusätzliche Zeitfenster für die Stimmabgabe wurde nicht durch staatlich bezwecktes Handeln herbeigeführt, sondern war Ausgleich zur Sicherung einer gerechten Stimmabgabe. § 60 S. 2 BWO ist zur Abwicklung von Reststimmabgaben zweckmäßig und im Allgemeinen sowie im vorliegenden Einzelfall materiell verfassungskonform.
3. Zurückweisung und ungültige Wahlzettel
Problematischer dürfte die teilweise erfolgte Zurückweisung von Wahlberechtigten am Wahltag sowie die Ungültigerklärung von falschen Wahlzetteln gewesen sein. Die Wahlberechtigten wurden durch Organisationsfehler daran gehindert, am demokratischen Prozess zur Besetzung des Bundestags und Abgeordnetenhauses durch gültige Willensbekundung mitzuwirken. Die Allgemeinheit der Wahl gem. Art. 38 Abs. 1 GG gebietet es jedoch, dass Ausschlüsse am Wahlakt unter Achtung widerstreitender Verfassungsgrundsätze sachlich gerechtfertigt und durch das Wahlrecht vorgesehen sind. Eine „Pannenklausel“ kennt weder das Bundes-, noch das Landesrecht. Obschon die Zugangshindernisse dabei nicht bezweckt waren, sind sie dem Staat als Organisationsverschulden zuzurechnen. Ebenso sieht es mit der Ausgabe falscher Wahlzettel aus. Soweit der Wählerwille für die Erstkandidaten nur von den jeweiligen Bewohnern des Wahlkreises abgegeben werden soll, ist zwar eine Ungültigkeit sachlich nachvollziehbar, aber gleichwohl eine vermeidbare Beschränkung des Wählerwillens. Beide Pannen sind aus demokratischen Gesichtspunkten höchst bedenklich.
Mandatsrelevanz und Ausblick
Ob und welche Folgen die vorstehenden Missstände für die Bundestagswahl und Abgeordnetenhauswahl haben, wird nur ein formelles Prüfverfahren zeigen können. Im Hinblick auf die Bundestagswahl dürften nach manchen Kommentatoren die Fehler nicht mandatsrelevant gewesen sein. Hierfür spricht, dass wegen der größeren Dimensionierung einzelne Stimmen für das Ergebnis geringere Bedeutung haben. Hinsicht der Abgeordnetenhauswohl gibt es Stimmen für und gegen die Erheblichkeit der Fehler. Gerade die Stimmabgabe von Nichtwahlberechtigten im unbekannten Ausmaß sowie die Ungültigerklärung von Wahlzetteln könnte in manchen Wahlkreisen mit nur geringen Stimmvorsprüngen den Ausschlag gegeben haben. Dies gilt insbesondere in neun Wahlbezirken, in denen hinsichtlich der Direktwahlstimmen ausgehend von den amtlichen Ergebnissen der Stimmabstand bei der Abgeordnetenhauswahl teils deutlich unter 300 Stimmen, im geringsten Falle bei 8 Stimmen lag. Hier könnte vereinzelt der seltene Fall eingetreten sein, dass Wahlfehler sich materiell auf das endgültige Wahlergebnis ausgewirkt haben. Politisch hatten die organisatorischen Pannen jedenfalls schon Folgen. Die Landeswahlleiterin Michaelis trat von ihrem Amt zurück. Die Landeswahlleitung hat inzwischen auch erklärt, Einspruch gegen die Berliner Wahl einlegen zu wollen.
Klein, Marvin, Die Berliner Wahlpannen – eine Feldstudie für Wahlprüfverfahren, JuWissBlog Nr. 91/2021 v. 19.10.2021, https://www.juwiss.de/91-2021/
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[…] von einer Mandatsrelevanz festgestellter Wahlfehler ausgegangen (ab S. 62; Verständnis des Grundsatzes der potenziellen Kausalität strittig, […]