von HANNES RATHKE
Die Entscheidung des BVerfG, die Vermessung des Graubereichs zwischen Wahrnehmung des geldpolitischen Mandats und wirtschaftspolitischer Selbstermächtigung der von Verfassung wegen unabhängigen EZB dem EuGH zu überlassen, ist folgerichtige angesichts des so oft beschworenen europäischen Verfassungsgerichtsverbundes. Insofern ist die Entscheidung des BVerfG lediglich historisch erstmalig. Spektakulär wird sie erst, lenkt man den Blick auf die prozessualen Voraussetzungen, die den Gang nach Karlsruhe erst ermöglichen.
Der OMT-Beschluss als Wegbereiter
Der OMT-Beschluss der EZB ist kein verfassungsgerichtlich angreifbarer Rechtsakt der deutschen öffentlichen Gewalt. Gleichwohl bereitet er den Boden für eine aus dem grundrechtsgleichen Recht des Art. 38 Abs. 1 GG abgeleitete Antragsbefugnis der Antragsteller. Dieses Recht soll demokratische Räume offenhalten und so die über Wahlen vermittelte Einflussnahme der Bürger auf die Selbstgestaltungsfähigkeit des Staates auch in „einer immer engeren Union“ gewährleisten. Das BVerfG hat Art. 38 Abs. 1 GG in seinen früheren Entscheidungen zur europäischen Integration verfassungsprozedural nutzbar gemacht für subjektiven Rechtsschutz in der „Übertragungssituation“ des Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG – insbesondere mit Blick auf die im Lissabon-Urteil aufgeführten besonderen Aufmerksamkeitsfelder unverfügbarer Verfassungsidentität. Die inhaltliche Weite dieser Konstruktion, die letztlich den Zugriff des BVerfG auf jeden weiteren Integrationsschritt sichert, wird nur durch ihre situative Beschränktheit ausbalanciert. Aktiviert nur im Falle einer Hoheitsrechtsübertragung ermöglicht sie gerade keine ultra-vires-Rüge jeglichen Handelns europäischer Hoheitsträger – vergleichbar der Elfes-Rechtsprechung des BVerfG.
Neuvermessung des europaverfassungsrechtlichen Rechtschutzes
Wie auch immer man die Kompetenzgemäßheit des EZB-Handelns bewerten mag: Eine erneute Hoheitsrechtsübertragung ist damit sicherlich nicht verbunden – womit an sich auch eine klassische Klagebefugnis ausgeschlossen wäre. Ebendieser Umstand verdeutlicht die Schwächen der Konstruktion, die die Integrationsverantwortung des BVerfG absichert: Werden die Fälle weiterer Hoheitsrechtsübertragungen seltener, so verliert auch der Rechtsschutzhebel des Art. 38 Abs. 1 GG an Wirkung – und damit letztlich auch der europäische Einfluss des BVerfG. Eine Vorstellung, die in Karlsruhe Unbehagen auslösen dürfte – und die scheinbar zu der in der Pressemitteilung skizzierten Neuvermessung des europaverfassungsrechtlichen Individualrechtsschutzes geführt hat: Die Begründung eines echtes Abwehrrecht der Bürger aus Art. 38 GG gegenüber Unionshandeln jenseits von „Übertragungssituationen“. Der Beschluss formuliert einen Anspruch des Bürgers darauf, dass Bundestag und Bundesregierung insbesondere in den für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit des Verfassungsstaates essentiellen Bereichen über die Einhaltung des Integrationsprogramms wachen, bei offensichtlichen und strukturellen Kompetenzüberschreitungen aktiv auf seine Einhaltung hinwirken und gegebenenfalls Maßnahmen zur Begrenzung der innerstaatlichen Wirkung eines ultra-vires-Handelns treffen – Aufgaben, die letztlich bereits unmittelbar aus der verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung der angesprochenen Verfassungsorgane folgen. Eine abenteuerliche Wendung nimmt der unionsverfassungsrechtliche Rechtsschutz jedoch mit der Feststellung, dass der Bürger verlangen könne, „dass Bundestag und Bundesregierung sich aktiv mit der Frage auseinandersetzen, wie die Kompetenzordnung wiederhergestellt werden kann, und eine positive Entscheidung darüber herbeiführen, welche Wege dafür beschritten werden sollen“.
Welche Handlungspflicht?
Nun hat das BVerfG ja so oft betont, der Bundestag stehe nicht nur in einer Integrations- und Budgetverantwortung, sondern müsse sich dieser auch bewusst sein und ihr gerecht werden, dass der Bundestag hieraus Schlüsse gezogen und organisatorische wie rechtliche Vorkehrungen für eine effektive Sicherstellung seiner europaverfassungsrechtlichen Befugnis getroffen hat – und dieser Verantwortung auch (selbst-)bewusst nachkommt. Auf welche Maßnahmen kann also die im Beschluss postulierte, verfassungsgerichtlich einklagbare Wahrnehmung der aktiven Handlungspflicht abzielen? Eine konkrete Verpflichtung des Bundestages zu einer bestimmten Handlung kann damit schwerlich gemeint sein, soll durch diese Klagebefugnis im Zeichen einer Sicherung der europaverfassungsrechtlichen Aufgaben des BVerfG keine gewaltenteilungswidrige Bresche in den demokratisch legitimierten Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers geschlagen werden. Den zumindest fragwürdigen Nutzen einer auf ein „unmögliches Rechtschutzziel“ bezogenen Antragsbefugnis bringen auch die abweichenden Meinungen der Richter Lübbe-Wolf und Gerhardt zum Ausdruck, die eine Zulässigkeit der auf das OMT-Programm gerichteten Anträge wegen des sonst über Art. 38 Abs. 1 GG ermöglichten allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruchs ablehnen.
To be continued…
Eine Antragsbefugnis, welche die Elemente der ultra-vires-Kontrolle mit der allgemeinen Integrationsverantwortung des Bundestages und der Bundesregierung und dem Art.38 Abs. 1-Aspekt der Identitätskontrolle verkoppelt, löst sich von der situativen Beschränkung auf die Übertragungssituation. Sie bedeutet eine geradezu revolutionäre Weiterentwicklung der bisherigen Rechtsprechung, welche nicht die Antragsbefugnis im gegenwärtigen Verfahren begründet, sondern insbesondere die Möglichkeiten des BVerfG zur Einflussnahme im europäischen „Verfassungsgerichtsverbund“ dauerhaft festigt – und so auch die Akzeptanz einer mit dem EuGH gemeinsam ausgeübten Kontrolle des Integrationsprozesses erleichtert. Das BVerfG muss aber in der Hauptsacheentscheidung Antworten darauf finden, worauf die verfahrensmäßige Komponente des Art. 38 Abs. 1 GG gerichtet sein soll, sein kann – damit sich das neue Instrument nicht als untauglicher Versuch einer Sicherung der Kontrollmöglichkeiten des BVerfG für Handlungen im europäischen Integrationsprozess erweist.