Während das Lissabon-Urteil zur Demokratietheorie weit ausholte, erinnert die Senatsmehrheit des BVerfG im jüngsten Beschluss zum OMT-Programm der EZB an einen „Rat der Wirtschaftsweisen“, wenn sie die Grenzen der Geldpolitik bestimmt. Es wäre wünschenswert gewesen, sie hätte bei Auslegung und Anwendung des Europarechts größere Sensibilität für die Organe der Union als Institutionen einer pluralistischen Bürgergesellschaft walten lassen. Die Verweigerung von Einschätzungsspielräumen für die EZB gefährdet letzten Endes deren Unabhängigkeit. Doch da das BVerfG vor der letzten Konsequenz seiner Methode zurückschreckte, hat der EuGH es nun in der Hand, seine Vorrangstellung durchzusetzen.
Segen und Fluch der Integrationsrechtsprechung
Es hätte schlimm kommen können. Die Verkündung der Entscheidung kurz vor dem Wochenende hätte kurzfristig Anlass zu der Befürchtung geben können, das BVerfG wolle OMT kippen, der Politik aber die Zeit einräumen, bis zur nächsten Öffnung der Börsen das größte Rettungspaket aller Zeiten aufzustellen. Stattdessen zeigt sich das BVerfG auf den ersten Blick von seiner integrationsfreundlichen Seite und legt die Sache nach intensiver Auseinandersetzung mit der europäischen Rechtsprechung dem EuGH vor. Das BVerfG scheint damit seiner Rolle als Hüter der Verfassung gerecht werden zu wollen, ohne ein erneutes Aufflammen der Finanzkrise zu riskieren.
Auf den zweiten Blick jedoch erschließt sich seine Methode der Vertragsinterpretation als potenziell riskant. Sie könnte das BVerfG zum tragischen Helden seiner eigenen Rechtsprechung machen einer Tragödie von Wagner’scher Dimension: Im „Ring des Nibelungen“ schwingt sich Wotan zum Hüter der Verträge auf. Aber er hat den Erwerb seiner Macht mit Einäugigkeit bezahlt. So übersieht er die rein vertragliche Grundlage seiner Herrschaft. Wie er nun über die Ansprüche seiner Vertragspartner hinweggeht, nimmt das Unheil seinen Lauf. Der demokratietheoretische und methodische Solipsismus des BVerfG nimmt gleichfalls wenig Rücksicht auf die Position anderer Akteure. Für den Hüter der Verfassung schöpft die Union ihre Legitimität primär aus der Zustimmung der Mitgliedstaaten zu den Vertragsgesetzen. Diese Sichtweise zieht sich seit dem Maastricht-Urteil durch seine Rechtsprechung. Neu sind allerdings die Konsequenzen dieser Perspektive für die im jüngsten Beschluss in extenso betriebene Auslegung des Europarechts.
Konkret geht es um die Begriffe der Preisstabilität (Art. 119 AEUV) und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123(1) AEUV). Das Bundesverfassungsgericht hat sich wirtschaftswissenschaftlich umgehört und verleiht ihnen nun einen bestimmten Sinn, welcher der in Deutschland weit verbreiteten Lehre des Ordoliberalismus entspricht. Dabei, sowie in dem löblichen Versöhnungsangebot einer unionsrechtskonformen Auslegung (Rn. 99f.), geht allerdings ein wichtiger Aspekt verloren: Was unter stabilitätsorientierter Geldpolitik zu verstehen und wie sie von der Fiskalpolitik abzugrenzen ist, steht durchaus im Streit. Während die Auffassungen in Deutschland überwiegend vom Modell einer strikten Trennung zwischen einer auf Stabilität verpflichteten, unabhängigen Zentralbank und der von der Regierung zu betreibenden Fiskalpolitik ausgehen, sind seit 2008 Zweifel an der Validität der Trennungsthese in Krisenzeiten laut geworden. In Pringle erkennt der EuGH die Interdependenz von Wirtschafts- und Währungspolitik an. Der Gegenschluss, den die Senatsmehrheit daraus zieht, dass wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht die Währungspolitik zum Primärziel haben können, greift nur durch, wenn man an der Trennungsthese festhält. Interpretationen sind standortabhängig, das zeigt bereits der ewige Widerstreit zwischen den implied powers und attributed powers überstaatlicher Organisationen.
Als Wotan sich in seinen vertraglichen Pflichten verstrickt, sieht er sich letztlich genötigt, seine eigene Tochter zu verstoßen. Über die Vorlage und das erwähnte Versöhnungsangebot versucht das BVerfG nun zu vermeiden, dass es eine Verletzung der Verfassungsidentität feststellen und den Weg über Art. 146 GG beschreiten muss. Ob und wie der EuGH sich darauf einlässt, wird sich zeigen. Immerhin würde er einen für sein eigenes Selbstverständnis problematischen Präzedenzfall schaffen, ließe er sich vom BVerfG die Auslegung der Verträge vorschreiben.
Das Gegenmodell einer pluralistischen Bürgergesellschaft: Konsequenzen für Politik und Rechtsprechung
Eine mögliche Alternative zu solchen Untergangsszenarien erschließt Brünnhildes Heldentat am Ende der Götterdämmerung. Sie löst den Fluch, freilich zum Preis des Zusammenbruchs der alten Götterwelt. Doch im Augenblick des Untergangs wird in manch kluger Inszenierung ein Gegenmodell sichtbar, so etwa in der Mannheimer Produktion von Achim Freyer: Im Moment des Erlösungsmotivs dreht er das Licht im Zuschauerraum auf, so dass das Publikum sich in den Spiegelwänden des Bühnenbilds selbst erkennt: als bunte, vielgesichtige Bürgergesellschaft.
Nicht nur das institutionelle Design der Union, auch die Auslegung und Anwendung ihres Rechts sind auf diese pluralistische Bürgergesellschaft hin auszurichten. Das BVerfG zeigt – im Gegensatz zu Richterin Lübbe-Wolff – leider wenig Sensibilität für deference, für die Notwendigkeit, anderen Akteuren auf anderen Ebenen mit anderer Legitimation Einschätzungsspielräume zuzugestehen. Allein die Existenz einer Debatte über die Grenzen der Geldpolitik wirft die Frage auf, ob das BVerfG sie autoritativ beenden sollte. Damit dürfte es der Unabhängigkeit der EZB einen Bärendienst erwiesen haben. Unabhängigkeit bedeutet zuvörderst Weisungsfreiheit, nicht hingegen das Verbot, politische oder finanzielle Pflichten wie im Fall des OMT-Programms zu übernehmen. Sie sollte durch eine angreifbare Mandatsauslegung seitens des BVerfG nicht untergraben werden. Man stelle sich vor, das BVerfG hätte der Bundesbank detaillierte Vorschriften über die Grenzen ihrer einheitsbedingten Hochzinspolitik der 1990er gemacht. Der Aufschrei wäre programmiert gewesen, wohl auch vonseiten manches Antragstellers.
Bedeutet dies, dass das BVerfG völlig machtlos zusehen müsste, wie europäische Institutionen durch beständigen „mission creep“ die Verträge aushöhlen? Nein. Es darf natürlich auf der Einhaltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung bestehen. Allerdings sollte es dabei die demokratische Legitimität der europäischen Institutionen hinreichend anerkennen, auch die indirekte Legitimität der EZB, und ihnen einen angemessenen Einschätzungsspielraum einräumen. Das läuft im Wesentlichen auf eine Rationalitätskontrolle hinaus, wie das BVerfG sie auch dem Bundestag zumutet. Und ich vermute, es lassen sich durchaus konsistente, rationale Rechtfertigungen dafür finden, dass die EZB Maßnahmen zum Erhalt des Währungsgebiets ergreifen darf (vgl. dagegen Rn. 72 der Entscheidung).
Götterdämmerung am Rhein?
Durch seine Entscheidung steht das BVerfG am Scheideweg. Einerseits hat es vernünftigerweise das ganz große Opfer, den Weg über Art. 146 GG, nicht riskiert. Andererseits steht der Mangel an deference dem Erlösungsszenario einer Rechtsprechung für eine pluralistische Bürgergesellschaft entgegen, in der Bürger, Mitgliedstaaten und Union gemäß ihrer je spezifischen demokratischen Legitimation an der Ausübung öffentlicher Gewalt partizipieren. Wird der EuGH den vorgezeigten Versöhnungsweg beschreiten? Dann würden beide das Gesicht wahren, zumindest bis zum nächsten Aufeinandertreffen. Sollte er aber wie in Pringle der herrschenden Durchwurstelei seinen Segen erteilen, wäre die Strategie des BVerfG nicht aufgegangen – zumindest sofern der EuGH nicht durch methodische Schwächen die Honeywell-Latte reißt. Zwar droht dem BVerfG auch in letzterem Fall kein Untergang, doch hätte der EuGH den Streit um das letzte Wort für sich entschieden.
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„Durchaus im Streit“ steht das Verstehen von Worten, welche als Begriffe verwendet werden. Sie werden zwar als „griffig“ beurteilt, Begriffe sind sie deshalb nicht. Jeder darf sie mit seinem Verstehen verwenden, als Ausdruck seines Begreifens.
Ein Streit, was „unter stabilitätsorientierter Geldpolitik zu verstehen und wie sie von der Fiskalpolitik abzugrenzen ist“, bleibt deshalb „durchaus stehen“, kann nicht gelöst werden. Denn die Frage, wie sie voneinander abzugrenzen sind, setzt voraus, dass auch nicht das Verstehen eines Abzugrenzenden im „Streite“ steht.
Ein Streit dagegen, worin sich das Verstehen von einer stabilitätsorientierter Geldpolitik von dem Verstehen von Fiskalpolitik unterscheidet, eröffnet (erzwingt) die Auseinandersetzung, was mit den Worten „Preisstabilität“, „Staatsfinanzierung“, „Geldpolitik“, „Fiskalpolitik“, „Wirtschaftspolitik“, Währungspolitik“ so verstanden werden soll, dass sie als Begriffe verwendet werden können.
Auch mit einer Anerkennung des Zusammenhanges von Wirtschaft und Politik, bleibt alles durchaus im Streite stehen. Und mit Auslegungen werden Worte nicht Begriffe.