Eine Militäroperation im Mittelmeerraum und ein Brief des türkischen Ministerpräsidenten Davutoǧlu, beides Sachverhalte aus dem Jahr 2015, waren Gegenstand eines Organstreitverfahrens, in dem das BVerfG die Informationspflichten der Bundesregierung bezüglich Angelegenheiten der Europäischen Union gem. Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG näher konkretisiert hat.
Die dabei relevanten Felder der Außen- und Sicherheitspolitik werden in der Regel von der Exekutive dominiert. Die Regierung nimmt ihre Aufgaben in diesem Politikfeld im Rahmen eines weiten Entscheidungsspielraums eigenverantwortlich wahr, um eine schnelle und sachgerechte außenpolitische Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Diese umfassenden Handlungskompetenzen sind einer parlamentarischen Kontrolle aber deshalb nicht vollständig entzogen, sondern korrespondieren mit Mitwirkungsrechten und Informationspflichten.
Damit entscheidet das BVerfG im vorliegenden Fall im Spannungsfeld zwischen (außen- und sicherheits-)politischem Dezisionismus der Bundesregierung und der parlamentarischen Einhegung der auswärtigen Gewalt.
Die Militäroperation Sophia
Zum einen setzt sich das Urteil vom 26. Oktober 2022 mit der Militäroperation EUNAVFOR MED bzw. EUNAVFOR MED Operation Sophia auseinander. Diese Militäroperation fand zwischen 2015 und 2019 im Mittelmeerraum statt, um Menschen aus Seenot zu retten und Schleusernetzwerke aufzudecken.
Ausgangspunkt für diese Initiative war eine Tagung des Europäischen Rates im April 2015, in deren Anschluss die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, die Italienerin Federica Mogherini, ein entsprechendes Konzept erarbeitete. Dieses Konzeptpapier lag der Bundesregierung spätestens ab dem 30. April 2015 vor. Mehrere Bundestagsabgeordnete haben im Mai 2015 über die Bundestagsverwaltung versucht, das Dokument vom Auswärtigen Amt zu erhalten. Diese Anfragen wurden vom Auswärtigen Amt aber mit der Begründung abgelehnt, dass es sich hier um Angelegenheiten der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) handle und eine Einsichtnahme deshalb erst nach Beschlussfassung im Rat möglich sei. Dieser Beschluss des Rates zur Durchführung der Operation wurde schließlich am 18. Mai 2015 gefasst. Daraufhin hatten am 21. Mai 2018 die Ausschussmitglieder des Auswärtigen Ausschusses, des Verteidigungsausschusses sowie des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union die Möglichkeit, in der Geheimschutzstelle des Bundestages das entsprechende Konzeptpapier einzusehen.
Im Oktober 2015 stimmte der Bundestag schließlich dem Einsatz mit einer deutlichen Mehrheit zu.
Der Brief des türkischen Ministerpräsidenten an die Kanzlerin
Zum anderen hat das aktuelle Urteil des BVerfG ein Schreiben des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Davutoǧlu an die Staats- und Regierungschefs der EU vom September 2015 zum Gegenstand. In diesem Schreiben geht der türkische Staatschef auf zentrale Fragen des Verhältnisses zwischen der Türkei und der EU (insb. Migration, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, etc.) ein. Mehrere Abgeordnete forderten dieses Schreiben ebenfalls erfolglos zur Einsichtnahme von der Bundesregierung ein.
Als Grund für die Ablehnung nannte das Bundeskanzleramt, dass das Schreiben des türkischen Regierungschefs persönlich an die Bundeskanzlerin adressiert sei. Derartige Korrespondenz sei grundsätzlich nicht vom Informationsanspruch des Bundestags umfasst, da ansonsten die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung in ihrer Gesamtheit erheblich beeinträchtigt werde.
Entscheidend ist hier doch die Information, dass die Entscheidung vom Bundeskanzleramt getroffen wurde, von dem bisher gar keine Rede war (nicht etwa vom AA). Welches Referat dafür intern zuständig war, dürfte eher nebensächlich sein.
Verletzung des parlamentarischen Informationsanspruchs
Die Angelegenheit wurde von den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke zum Gegenstand eines Organstreitverfahrens gemacht. Das Gericht erkannte in beiden Fällen, dass die Bundesregierung den aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG resultierenden Informationsanspruch des Parlaments verletzt hat.
Weite Auslegung der „Angelegenheiten der europäischen Union“
Dabei stellte das Gericht zunächst fest, dass sich der Informationsanspruch des Parlaments auch auf Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bezieht.
Damit hat sich das BVerfG für eine weite Auslegung des Begriffs der „Angelegenheiten der Europäischen Union“ und die ausdrückliche Einbeziehung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik entschieden. Eine enge Auslegung, die sich nur auf diejenigen Bereiche erstreckt hätte, in denen der Bundestag Hoheitsrechte an die EU delegiert hat, hätte die GASP sowie die GSVP aber gerade nicht erfasst.
Argumentativ stützt das BVerfG diese Auslegung u.a. auf die historische Verschiebung des Machtgefüges durch die fortschreitende Europäisierung. Die daraus resultierende teilweise Verdrängung des Parlaments als Entscheidungsinstanz will u.a. Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG kompensieren, indem eine stärkere Einbindung des Parlaments in den Integrationsprozess sichergestellt wird. Darüber hinaus trägt die verstärkte parlamentarische Mitwirkung zur Legitimation supranationaler Rechtssetzung bei.
Sicherstellung ausreichender parlamentarischer Öffentlichkeit
Weiter führt das Gericht aus, dass eine Information ausschließlich der zu beteiligenden Ausschüsse sowie unter Einhaltung von Geheimschutzregeln den Anforderungen des Informationsanspruchs nicht gerecht wird und zur Bildung von Informationsasymmetrien beiträgt. Denn Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG dient auch dem Grundsatz der parlamentarischen Öffentlichkeit, der sich aus dem Demokratieprinzip herleitet. Denn nur der gesamte Bundestag kann derartige Themen einer parlamentarischen und gesellschaftlichen Diskussion zuführen und diese Aufgabe kann er insbesondere nur dann vollumfänglich erfüllen, wenn ihm ein umfassender und rascher Anspruch auf die nötigen Informationen zusteht.
Begrenzung des Anspruchs – aber bitte begründet!
Die weite Auslegung des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG führt gleichwohl nicht zu einem uneingeschränkten Anspruch des Parlaments. Stattdessen werden dessen Grenzen durch das Staatswohl sowie den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung markiert. Dabei kann letzteres wohl eher als zeitliche Grenze bis zur abschließenden Willensbildung innerhalb der Regierung angesehen werden. Allerdings, und auch hier wird die Regierung vom BVerfG gerügt, ist gegenüber dem Bundestag, auch aus Transparenzgründen, eine ausdrückliche Berufung auf die entsprechenden Gründe erforderlich.
Fazit
Dieses Urteil des BVerfG reiht sich damit in eine Entwicklung ein, die als „Parlamentarisierung der Außenpolitik“ bezeichnet werden kann und die bis in das Jahr 1994 zurückreicht, als das BVerfG einen konstitutiven Vorbehalt des Parlaments für Auslandseinsätze der Bundeswehr geschaffen hat. Dieser eingeschlagenen Entwicklungslinie bleibt das BVerfG auch in seiner aktuellen Entscheidung im Hinblick auf die fortschreitende europäische Integration treu. Das Urteil nimmt aber nicht nur die Regierung bezüglich ihrer Informationspolitik in die Verantwortung, sondern adressiert mittelbar vor allem den Bundestag selbst. Das Parlament ist es, das die Verantwortung für die Ausübung des Informationsanspruchs und den Umgang mit den erhaltenen Informationen trägt. Denn wo das Parlament, wie hier, nicht mehr als Entscheidungsinstanz fungiert, entspricht es der Verantwortung des Bundestages, das Regierungshandeln wenigstens durch Inanspruchnahme seiner Informationsrechte zu kontrollieren.
Es bleibt daher zu hoffen, dass das Parlament in Zukunft auch in Fragen der europäischen Außenpolitik seiner tragenden Rolle gerecht wird und die Themen, die die Zukunft Europas bestimmen, mittels seines umfassenden Informationsanspruchs einer parlamentarischen und auch einer gesellschaftlichen Debatte zuführt.
Zitiervorschlag: Reichenthaler, Michael, Spannungsfeld Außenpolitik – Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Regierung und Parlament?, JuWissBlog Nr. 66/2022 v. 24.11.2022, https://www.juwiss.de/66-2022/.
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