Anmerkungen zum Urteil des BVerfG (1 BvR 1215/07) vom 24.4.2013
Von HANNES RATHKE
Der kooperative europäische Verfassungsgerichtsverbund ist ein System der Konfliktvermeidung. Der Verbund ist nicht angelegt auf den Fall des offenen Dissenses mit der Notwendigkeit eines „letzten Wortes“. Im richterlichen Dialog sollen Konflikte zwischen der staatlichen und der europäischen Ebene europarechtsfreundlich vermieden werden. In der Kooperation gleichberechtigter, ebenso emanzipierter wie selbstbewusster Partner ist der Ernstfall kollidierender Geltungsansprüche des nationalen und europäischen Rechts dadurch freilich nicht ausgeschlossen. Wie also lässt sich – insbesondere im Bereich des Grundrechtsschutzes – ein „Unabhängigkeitskrieg“ zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH vermeiden? Eine Möglichkeit: Den Dialog in der Sache einseitig für entschieden und beendet zu erklären. Autoritative Erziehung à la Karlsruhe? Der Verdacht drängt sich jedenfalls auf in der Entscheidung des BVerfG zum Antiterrordateigesetz.
Offener Dissens zwischen Karlsruhe und Luxemburg
In dieser Entscheidung setzt sich der Erste Senat mit der Frage auseinander, ob das Antiterrordateigesetz angesichts zahlreicher Berührungspunkte mit dem Unionsrechts vom Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte erfasst wird und daher zunächst der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren über die Grundrechtskonformität entscheiden muss. Der Senat verneint eine Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte im Sinne von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh und damit eine Zuständigkeit des EuGH. Eine die Bindung der Mitgliedstaaten an die GRCh bewirkende Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh bestehe nur, wenn das staatliche Handeln durch Unionsrecht determiniert sei. Hierfür sei nicht ausreichend, wenn das staatliche Handeln innerstaatlich bestimmte Ziele verfolge, „die das Funktionieren unionsrechtlich geordneter Rechtsbeziehungen nur mittelbar beeinflussen können“.
Mit seinem Befund, dass von einer Durchführung im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh nur bei einer hinreichenden unionsrechtlichen Determinierung des staatlichen Rechts die Rede sein könne, stellt sich der Erste Senat der Auffassung des EuGH zum Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte entgegen. In der Entscheidung Åkerberg Fransson hat der EuGH kürzlich festgestellt, dass der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte dem Anwendungsbereich des Unionsrechts entspricht. Der EuGH ersetzt den Begriff der Durchführung des Unionsrechts durch den des Geltungsbereichs des Unionsrechts und ebnet so die begrifflichen Unterschiede ein, die im Fokus der Diskussion um die Reichweite der Unionsgrundrechte standen. In der „Alles-oder-Nichts-Lösung“ des EuGH werden nationale Fallgestaltungen auch ohne maßgebliche Determination durch Unionsrecht vom Geltungsbereich des Unionsrechts erfasst – nachvollziehbar als konsequente Folge der Übertragung von Hoheitsrechten: Soweit die Mitgliedstaaten Hoheitsrechte auf die Union übertragen haben, obliegt nunmehr der Union die umfassende „Gewährleistungsverantwortung“ für einen „im wesentlichen vergleichbaren“ (Art. 23 I GG), lückenlosen Grundrechtsschutz.
Präventive ultra-vires-Kontrolle
Ein Dissens mit grundsätzlicher Brisanz für das Verhältnis der Gerichte und ihre Dialogfähigkeit im Verfassungsgerichtsverbund! Dies betrifft zunächst die unverhohlene Drohung mit der Aktivierung des ultra-vires-Vorbehalts – der Sollbruchstelle im kooperativen Verbund. Während er in Luxemburg weithin auf Unverständnis stößt, ist er für die Mitgliedstaaten essentielle Voraussetzung für die Teilnahme eines souveränen, demokratischen Rechtsstaates am europäischen Staatenverbund: Die Zuständigkeit des EuGH findet ihre Grenzen in dem durch das nationale Zustimmungsgesetz bestimmten Integrationsprogramm. Außerhalb dieser Grenzen ist das Handeln eines Unionsorgans nicht hinreichend demokratisch ermächtigt und damit innerstaatlich nicht verbindlich. Die Frage der Ermächtigung ist keine europäische, sondern eine genuin verfassungsrechtliche. Dementsprechend obliegt in Deutschland dem BVerfG die Prüfung, ob sich die Handlungen der Unionsorgane in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.
Die Frage ist also, welchem Integrationsprogramm von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh Deutschland zugestimmt hat. Blickt man auf die Verhandlungen im Konvent, erscheint die ultra-vires-Drohung nicht fernliegend: Um die damaligen Ansätze des EuGH einzuschränken, Unionsgrundrechte im gesamten „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ auch für die Mitgliedstaaten für verbindlich zu erklären, einigte man sich auf eine Bindung der Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Hieraus lässt sich grundsätzlich auf die höflich in den Kontext des kooperativen Miteinanders gestellte, bestimmende Interpretation der Fransson-Entscheidung schließen. Danach darf der Entscheidung „keine Lesart unterlegt werden, nach der diese offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete, dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte. Insofern darf die Entscheidung nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechtecharta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche.“
Interpretationshoheit im Verfassungsgerichtsverbund
Doch überspielt das BVerfG mit seiner Auslegung von Art. 51 GRCh nicht die dem EuGH nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV zugewiesene Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“? Nach Ansicht des BVerfG ist die Feststellung, dass der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh eine hinreichende, über eine bloße mittelbare Beeinflussung hinausgehende Determination des nationalen Rechts durch das Unionsrecht erfordert, ein „unzweifelhafter“ Befund. Gestützt auf den Grundsatz des acte-clair sieht das BVerfG nicht die Notwendigkeit, den EuGH mit in die Auslegung der Verträge mit einzubeziehen. Doch ist die „richtige“ Anwendung von Art. 51 Abs. 1 Abs. 1 GRCh derart offenkundig, „dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“ – eine Gewissheit nicht nur aus der Perspektive eines Gerichts, sondern auch aus der der Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten? Der Grundsatz des acte-clair, auf den sich das BVerfG beruft, bildet eine enge Ausnahme von der grundsätzlichen Pflicht, dem EuGH im Verfahren des Art. 267 AEUV eine Auslegung der Verträge auch tatsächlich zu ermöglichen.
Doch bereits die abweichenden Auffassungen im EuGH zwischen der Großen Kammer und dem Generalanwalts im Fall Åkerberg Fransson lassen mit Fug daran zweifeln, dass – wie der erste Senat nonchalant feststellt – über die Auslegung oder Gültigkeit von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh „vernünftigerweise keine Zweifel bestehen“. Zudem steht auch das Fransson-Urteil selbst im Widerspruch zu früherer EuGH-Rechtsprechung, den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte enger absteckt. Und auch wenn man in dem Fransson-Urteil eine sich im Grenzbereich bewegende Auslegung von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh sieht: Das BVerfG erkennt eine gewisse Fehlertoleranz des EuGH bei der Auslegung des Integrationsprogramms an – bis zur Grenze der Willkür, weil es sonst die dem EuGH in Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV zugewiesene Aufgabe unterlaufen würde: „Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG kommt nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.“ Bedeutet also das weite Verständnis von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh einen hinreichend qualifizierten Verstoß, ein offensichtlich kompetenzwidriges Handeln? Sicherlich geht mit dem weiten Verständnis ein Kompetenzausübungsschranke des nationalen Rechts einher. Doch ließe sich sicherlich darüber diskutieren, ob ein weites Verständnis zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.
Vor diesem Hintergrund muss sich die Entscheidung des BVerfG jedenfalls der Kritik stellen, eigene Grundsätze zu übergehen: Es würde im Konfliktfall bewusst von einer zumindest vertretbaren und entscheidungserheblichen Rechtsprechung des EuGH abweichen, ohne vorzulegen. Es postuliert einen präventiven ultra-vires-Fall, ohne dem EuGH „europarechtsfreundlich“ die Gelegenheit zur (erneuten) Vertragsauslegung zu geben. Doch wäre dem Kooperationsverhältnis zwischen den Gerichten nicht mehr gedient, wenn das BVerfG nicht durch die ultra-vires-Drohung, sondern durch begründete Vorlagen Einfluss auf die Ausgestaltung der EU-Grundrechtsarchitektur durch den EuGH nähme?