von HANNES RATHKE

Hannes-RathkeIn mehrschichtigen Grundrechtssystemen stellt sich stets die Frage, welche Grundrechtsschicht für welche Hoheitsgewalt maßstäblich ist. In der EU öffnen sich die Mitgliedstaaten im Zuge der europäischen Integration auch dem Einfluss der Unionsgrundrechte – dies aber gem. Art. 51 I GRCh „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Doch was bedeutet Durchführung in Abgrenzung zu der „klassischen“ Wachauf/ERT-Rechtsprechung, wonach die Mitgliedstaaten Unionsrecht in seinem Anwendungsbereich zu beachten haben. Wie weit reicht die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte? Das Urteil „Åkerberg Fransson“ stellt dies nunmehr in aller Schlichtheit klar: Der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte entspricht dem Anwendungsbereich des Unionsrechts. Angesichts des Wortlauts von Art. 51 I GRCh ein weiterer Fall „exzessiver EuGH-Rechtsprechung“? Mangold reloaded? „Stoppt den EuGH“: Jetzt erst Recht?

Der Fall Fransson

Die Entscheidung bringt Licht in die die Grauzone der maßstabsbildenden Kraft der Unionsgrundrechte. Eine solche wurde bislang jedenfalls dann anerkannt, wenn das mitgliedstaatliche Handeln derart durch Unionsrecht determiniert ist, dass es funktional als Ausübung supranationaler Hoheitsgewalt erscheint. In diesen Fällen beeinflusst das Unionsrecht die Ausübung hoheitlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten in einem Maße, dass diese mehr als Wiedergabe des Unionsrechts als von „staatlicher Tatherrschaft“ getragen erscheint.

So eingängig diese Differenzierung, so unklar blieb, wie stark der erforderliche Grad an unionsrechtlicher Determination sein muss. Oder – wie es Generalanwalt Villalón in seinen Schlussanträgen lyrisch formulierte – wann das Recht der Union in einem Maße in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen präsent ist, dass es die Fähigkeit besitzt, den Inhalt der Ausübung hoheitlicher Gewalt im Mitgliedstaat entscheidend zu beeinflussen. Eine solche hinreichende „Präsenz des Unionsrechts“ sei jedoch im Fall des Herrn Åkerberg Fransson nicht gegeben. Dieser kam 2004 und 2005 seiner steuerlichen Mitteilungspflicht nicht nach und wurde von seiner Steuerbehörde beschuldigt, falsche Angaben in den Mehrwertsteueranmeldungen für diese Steuerjahre gemacht zu haben. Die Steuerbehörde verhängte eine Geldbuße in Form von Steuerzuschlägen für jeden dieser Steuerverstöße. Diese betrafen auch Verstöße hinsichtlich der Mehrwertsteuer, deren Erhebung (auch) auf der Richtlinie 2006/112/EG beruht. Nach Bestandskraft der Verwaltungssanktionen wurde gegen Herrn Fransson zusätzlich ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet und auf den Sachverhalt gestützt, auf dem auch die Verwaltungssanktionen beruhten. Obgleich das schwedische Recht zur Vermeidung einer Doppelbestrafung frühere Verwaltungssanktionen im Strafverfahren berücksichtigt, stellte sich für das vorlegende Gericht die Frage, ob die verwaltungs- und strafrechtliche Verfolgung derselben steuerrechtlichen Verfehlung auch mit dem unionsrechtlichen Grundsatz ne bis in idem gem. Art. 50 GRCh vereinbar ist.

Herr Fransson und die „Präsenz des Rechts“

Im Fall Fransson steht also die unionsrechtliche Verpflichtung zur effektiven Mehrwertsteuererhebung im Dienst der Eigenmittel der EU dem steuerrechtlichen ius puniendi bei unrichtigen Angaben der Steuerpflichtigen gegenüber. Dieses ist für sich genommen kein unmittelbar unionsrechtlich motiviertes oder in den Dienst unionsrechtlicher Ziele gestelltes staatliches Recht. Die Architektur des mitgliedstaatlichen Steuersanktionsrechts steht unter dem maßgeblichen Einfluss der staatlichen Grundrechte ist an sich unabhängig von der unionsrechtlich (mit-)bedingten Mehrwertsteuererhebung.

Nach Ansicht des Generalanwalts sei daher in der Konstellation Fransson der Grad des Zusammenhangs zwischen Unionsrecht in Form der Richtlinie 2006/112/EG und dem schwedischen Recht zu schwach, um ein eindeutig feststellbares Interesse der Union an der Gewährleistung des Verbots der Doppelbestrafung zu begründen – so dass der EuGH für die Frage bereits gar nicht zuständig sei. Die Richtlinie determiniere nicht maßgeblich das schwedische System zur Ahndung von Steuerstraftaten; vielmehr habe Schweden sein Steuersystem punktuell in den Dienst der Mehrwertsteuererhebung gestellt, nicht aber auch sein Steuersanktionssystem. Nach Ansicht des Generalanwalts reiche die bloße Feststellung, dass eine bestimmte Wahrnehmung staatlicher Strafgewalt letztendlich auf eine unionsrechtliche Bestimmung zurückgeht, für sich nicht aus[…], um die Kontrolle sämtlicher verfassungsrechtlicher Garantien, die bei der Wahrnehmung der Strafgewalt in den Staaten zu beachten sind, auf die Union verlagern zu können.

Der EuGH folgt seinem Generalanwalt nicht, sondern erinnert zunächst daran, dass die Grundrechtecharta gem. Art. 51 Abs. 1 GRCh für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei Durchführung des Unionsrechts gilt. Er ergänzt diesen Befund um die Feststellung, „dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen […] Anwendung finden.“ Hierauf aufbauend leitet der EuGH eine Definition des Begriffs „Anwendungsbereich“ der Unionsgrundrechte daraus ab, dass er nationale Rechtsvorschriften nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen könne, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen – was in der schlichten Aussage mündet: „Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“ Mit anderen Worten: Der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte entspricht dem Anwendungsbereich des Unionsrechts. In nicht vollständig durch Unionsrecht determinierten Bereichen können die Mitgliedstaaten weiterhin den nationalen Schutzstandard ihrer Grundrechte anwenden – sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“.

Mangold 2.0?

Birgt diese „Neuvermessung“ des Art. 51 I GRCh das Mangold-Stigma der (vermeintlich) exzessiven richterlichen Rechtsfortbildung in sich? Zwar wäre jedenfalls der Vorwurf mangelnder Präzision in der Formulierung der Urteilsgründe nicht unberechtigt. Der EuGH zielt auf eine Klärung des Begriffs der „Durchführung“ – und schießt dabei mit grobem Korn. Unversehens werden der Begriff der Durchführung (implementing) des Unionsrechts durch den des Geltungsbereichs (scope) des Unionsrechts ersetzt und so die begrifflichen Unterschiede eingeebnet, die im Fokus der Diskussion um die Reichweite der Unionsgrundrechte standen. Hinsichtlich der Gleichsetzung der Begriffe Durchführung und Anwendungsbereich überschreitet das Urteil jedoch nicht die Grenze, indem es „durch strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung praktisch kompetenzbegründend wirkte“.

Sicherlich: Der Begriff der „Durchführung des Unionsrechts“ soll den nationalen Grundrechten einen Residualraum verschaffen und souveränitätsschonend mitgliedstaatliche Handlungsspielräume vor politikbegrenzenden Unionsgrundrechten abschirmen. Ein Klagen über eine vermeintlich ausufernde Reichweite der Unionsgrundrechte beruhte indes auf Phantomschmerzen. Erst Recht gibt das Urteil keinen Anlass, einen „Richterkrieg“ auszurufen: Die Reichweite der Unionsgrundrechte ist logische Folge der Übertragung von Hoheitsrechten: Soweit die Mitgliedstaaten Hoheitsrechte auf die Union übertragen haben, obliegt nunmehr der Union im die „Gewährleistungsverantwortung“ für einen „im wesentlichen vergleichbaren“ (Art. 23 I GG), lückenlosen Grundrechtsschutz.

Dementsprechend kann und muss sich der Einfluss der Unionsgrundrechte auf staatliches Steuersanktionsrecht nur im spezifischen Kontext der Mehrwertsteuererhebung entfalten (ggf. auch durch Überlagerung potenziell höherer mitgliedstaatlicher Schutzstandards): Da die Mitgliedstaaten der Union die Kompetenz zur Harmonisierung der indirekten Steuern übertragen haben (Art. 113 AEUV), da die Richtlinie 2006/112/EG zu einer maximal wirksamen Mehrwertsteuererhebung verpflichtet, ist es nur folgerichtig, auch das staatliche Steuersanktionsrecht in Bezug auf die Mehrwertsteuererhebung als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 I GRCh anzusehen – mit der Folge, dass auch das staatliche Steuersanktionsrecht dem unionsrechtlichen ne bis in idem-Grundsatz entsprechen muss.

Obgleich potenziell zu Lasten mitgliedstaatlicher Handlungsspielräume, beugt der EuGH mit seiner „Alles-oder-Nichts-Lösung“ Rechtsunsicherheiten vor, die der Alternative – die Feststellung eines hinreichend Grades an unionsrechtlicher Determination – innewohnen. Und schließlich sichert diese Lösung einen Gleichlauf der Anwendungsbereiche der Chartagrundrechte mit den sich aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen (Art. 6 III EUV) ergebenden Grundrechten (Art. 53 GRCh). Ein fahler Beigeschmack bleibt jedoch mit Blick auf Ratio des weiten Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte. Hier stellt der EuGH die Dreifaltigkeit „Vorrang, Einheit, Wirksamkeit“ ins Zentrum. Der weite Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte zur Gewährleistung eines notwendigen Schutzniveaus erscheint dadurch weniger als ein Zweck an sich im Dienst eines umfassenden Grundrechtsschutzes der Unionsbürger, sondern vielmehr als Vehikel, um eine wirksame und effektive Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten sicherzustellen.

EuGH, Europarecht, Grundrechte, Grundrechte-Charta, Hannes Rathke, Steuerrecht
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