von DOMINIK ELSER
Am vergangenen Sonntag hat die Schweiz wieder einmal abgestimmt. Der JuWissBlog nimmt dies zum Anlass für eine neue Beitragsserie, die anhand der regelmässigen Abstimmungen die staatsrechtlichen Eigenheiten und Pirouetten der Schweiz erläutert.
Den Anfang machen die Abstimmungen über einen neuen Verfassungsartikel zur Familienförderung, eine Volksinitiative gegen hohe Managerlöhne und eine Revision des Raumplanungsrechts. Oder: Weshalb eine Volksmehrheit alleine noch nichts heisst; wie man einen eigenen Vorschlag nicht zur Annahme empfehlen kann; und was ein indirekter Gegenvorschlag mit einem bedingten Rückzug zu tun hat.
Familienpolitik: Die Mehrheit will neue Kompetenzen, der Föderalismus nicht
Die erste Abstimmungsvorlage wäre inhaltlich am einfachsten zu erklären, wurde aber mit dem verfahrensmässig kompliziertesten Ausgang abgelehnt. Zur Abstimmung stand die Frage, ob der Bund die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Ausbildung stärker als bisher fördern soll. Das „Stimmvolk“ befürwortete dies deutlich (54.3 %). Dennoch wurde die Vorlage abgelehnt – sie ist am sogenannten Ständemehr gescheitert.
Verfassungsänderungen treten nur in Kraft, wenn „Volk und Stände“ zustimmen (Art. 140 Abs. 1 Bst. a BV). Das heisst einerseits, dass über jede Verfassungsänderung abgestimmt werden muss (obligatorisches Referendum) und andererseits, dass ein doppeltes Mehr erforderlich ist – neben der einfachen Volksmehrheit (Stimmende im Land) müssen die Stimmenden in einer Mehrheit der Kantone die Vorlage annehmen. Das Doppelmehr wirkt als föderale Bremse zum Schutz der bevölkerungsschwachen, kleinräumigen Kantone. Die Bremse wirkt sich politisch konservierend aus – gerade sozialpolitische Anliegen, die in den bevölkerungsreichen Stadtgebieten problemlose Mehrheiten erzielen, werden durch die ländlichen Regionen zurückgebunden.
So war es auch in der Abstimmung über die Familienpolitik: 11 Kantone und 4 Halbkantone haben die Vorlage abgelehnt, nur 9 Kantone und 2 Halbkantone haben zugestimmt (zu den Halbkantonen siehe das Glossar am Ende). Damit scheitert zum erst neunten Mal eine Verfassungsvorlage am Ständemehr (hier die bisherigen acht Fälle).
Das Ständemehr mag umstritten sein – und wird im Nachgang dieser Abstimmung auch bereits wieder angezweifelt – es hat aber seine verfassungsmässige Rolle erfüllt: Eine Mehrheit der Kantone hat neue Bundeskompetenzen verhindert. In diese Richtung ist das Ergebnis denn auch zu verstehen. Das Volksmehr ist ein deutliches Signal dafür, dass die vermehrte Förderung von familienpolitischen Anliegen – insbesondere die staatliche Unterstützung für erwerbstätige Elternteile – grossen Anklang findet. Nur hält das föderal ausgerichtete Staatsgefüge dafür neue Bundeskompetenzen nicht für notwendig. Es entspricht der bürgerlich-liberalen Staatstradition der Schweiz, dass – manchmal länger als zweckmässig – auf private und lokale Lösungen vertraut wird.
„Abzockerei“-Initiative – Ja zur Stärkung der Aktionärsrechte
Apropos liberale Tradition: Das Stimmvolk hat mit überwältigender Mehrheit die Volksinitiative „gegen die Abzockerei“ angenommen. Die Verfassung kennt in Art. 95 BV per sofort einen neuen Absatz, der mit 24 Einzelforderungen die Mitsprache der Aktionärinnen und Aktionäre in Vergütungsfragen stärkt. Zum Inhalt an dieser Stelle nur so viel: Die Verfassung schreibt börsenkotierten (so heisst „börsennotiert“ in der Schweiz) Unternehmen nun vor, wie über Vergütungen zu entscheiden ist und dass gewisse Vergütungsarten unzulässig sind. Auf Widerhandlungen gegen die Initiativbestimmungen stehen drei Jahre Freiheitsstrafe und Geldstrafe bis zu sechs Jahresvergütungen.
Was bedeutet die Volksentscheidung? Hierzu ist etwas Kontext aus dem Vorverfahren der Volksabstimmung erforderlich. Es bestand früh Konsens darüber, dass die Anfang 2008 zustande gekommene Initiative im Detail zu weit gehe, aber die allgemeine Stossrichtung berechtigt war und – wichtiger noch – beim Stimmvolk Anklang finden würde. Wie die parlamentseigene Geschäftsdatenbank sagt: „Die beiden Kammern behandelten nach- und nebeneinander verschiedene direkte und indirekte Gegenentwürfe, was der Übersichtlichkeit der Ratsarbeit nicht zugute kam.“ Erst im März 2012 konnten sich die beiden Parlamentskammern auf eine Gesetzesvorlage einigen. Diese Vorlage hat viele der Initiativbegehren übernommen. Sie würde aber – so die Argumentation der Parlamentsmehrheit – die „liberale Grundordnung“ des Gesellschaftsrechts wahren, insbesondere die „Flexibilität des Aktienrechts“.
Die Parlamentsvorlage wäre im Fall der Ablehnung der Initiative in Kraft getreten und war der Initiative somit nur indirekt gegenübergestellt. Soll heissen: Auf den Abstimmungszetteln war nur ein Kästchen, neben dem irgendwas von „Abzocker“ stand. Das Stimmvolk schien motiviert, ein möglichst deutliches und grundlegend verankertes Zeichen zu setzen. Wie so häufig dürften nicht die rechtlichen Einzelheiten entscheidend gewesen sein – die „Abzocker“-Initiative war das einzige verfügbare Mittel, um sich zum Verhalten einer Wirtschaftselite zu äussern, die Unternehmen als Selbstbedienungsläden zu sehen scheint.
Ausserdem konnte sich die grosse Parlamentskammer nicht dazu durchringen, den eigens verabschiedeten Gegenvorschlag zu unterstützen und hat darauf verzichtet, dem Volk eine Abstimmungsempfehlung abzugeben. Die Regierung machte keinen Hehl aus ihrer ohnehin bekannten Position und empfahl die Initiative zur Ablehnung. Das Bundesgesetz über die politischen Rechte sagt allerdings: „[Der Bundesrat] vertritt keine von der Haltung der Bundesversammlung abweichende Abstimmungsempfehlung.“ Ob der Bundesrat in unzulässiger Weise von einer Empfehlung abgewichen ist, die gar nicht abgegeben wurde, muss aus prozessualen Gründen nicht entschieden werden. Ob das denklogisch überhaupt möglich ist, ist eine andere Frage.
Das übliche politische Gefecht über die Auslegung des Volkswillens muss nun entscheiden, inwiefern das Abstimmungsergebnis die liberale Wirtschaftsordnung grundlegend verändert hat. Was die Abstimmung der empörten, unzufriedenen Kleinaktionärin längerfristig nützt, bleibt offen – ganz zu schweigen von klassenkämpferischen Nichtaktionären, die den kapitalistischen Exzess anprangern. Zur Erinnerung: die Initiative hat keine Maximallöhne eingeführt. Die Entscheidung über die Vergütungen können weiterhin nach Gutdünken der Unternehmen festgelegt werden; nur die Rolle des Aktionariats wird gestärkt. Und nebenbei: Die Initiative muss auf Gesetzesstufe umgesetzt werden; Ausgangspunkt für die parlamentarische Beratung dürfte ohnehin der Gegenvorschlag sein. Das Parlament wird zwar keinen offenen Konflikt zur Volksinitiative anstreben – es ist aber bei der Umsetzung durch die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen geschützt.
Eine für die Grundordnung viel folgenreichere Abstimmung steht allerdings bald an: die „1:12“-Initiative der JungsozialistInnen, die Höchst- und Tiefstlöhne innerhalb eines Unternehmens im Verhältnis eins zu zwölf aneinander binden möchten.
Raumplanungsgesetz – Ja zur Bekämpfung der Zersiedelung
Mit 63 % der Stimmen wurde schliesslich eine Änderung des Raumplanungsgesetzes angenommen. Gegenstand der Revision waren griffigere Instrumente zur Durchsetzung der geltenden Verfassungsordnung: „Der Bund legt Grundsätze der Raumplanung fest. Diese obliegt den Kantonen und dient der zweckmässigen und haushälterischen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedlung des Landes. Der Bund fördert und koordiniert die Bestrebungen der Kantone und arbeitet mit den Kantonen zusammen.“
Seit Jahren geht die „Zersiedelung“ um: Der Traum vom Einfamilienhaus auf dem Land – verbunden mit vorzüglicher Verkehrsanschliessung – frisst die Grünflächen zwischen Genfer- und Bodensee allmählich weg (Hintergründe zur Siedlungsentwicklung hier). Die „Zersiedelung“ ist nicht zuletzt der föderalen Ordnung geschuldet: Die Letztentscheidung über Einzonungen von neuem Siedlungsgebiet liegt bei den Kantonen und meist (noch kleinräumiger) bei den Gemeinden. Das bisherige Raumplanungsrecht konnte die Entwicklung nicht massgeblich beeinflussen; man war auf Selbstbeschränkung der tieferen Staatsebenen angewiesen. Die angenommene Änderung des Raumplanungsgesetzes schafft nun griffige Vorgaben des Bundes: Die Kantone werden in Art. 5 verpflichtet, auf private Einzonungsgewinne eine Mehrwertabgabe von mindestens 20 % zu erheben, um Entschädigungen für Auszonungen (materielle Enteignung) zu finanzieren. Ebenso verschärft wurden die Anforderungen an die kantonalen Planungen (Mindestinhalt der „Richtpläne“, Art. 8) und die Voraussetzungen an neue Bauzonen (Art. 5).
Die Gesetzesänderung war als indirekter Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative konzipiert. (Gegen die Revision wurde das fakultative Referendum ergriffen; siehe das Glossar am Ende.) Die Initianten der 2007 lancierten „Landschaftsinitiative“ sahen ein, dass der parlamentarische Vorstoss ihr Anliegen zielführender und effizienter umsetzen kann. Die Initiative wurde zugunsten der nun angenommenen Revision bedingt zurückgezogen: Die Initiative wäre nur zur Abstimmung gekommen, wenn die Revision nicht in Kraft getreten wäre. Diese Rückzugsvariante wurde 2010 auf einen parlamentarischen Vorstoss hin neu eingeführt.
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Glossar der staatsrechtlichen Begriffe
Teilrevision der Bundesverfassung: Kann vom Volk verlangt (siehe Volksinitiative) oder vom Parlament beschlossen werden (Art. 194 Abs. 1 BV). Zieht zwingend eine Abstimmung nach sich.
Obligatorisches Referendum: Zwingende Abstimmung über gewisse Vorlagen (Auflistung in Art. 140 BV). Häufigster Fall ist die vom Parlament beschlossene Teilrevision der Bundesverfassung. In diesem Fall ist ein Doppeltes Mehr nötig.
Doppeltes Mehr: Gewisse Vorlagen (Auflistung in Art. 140 Abs. 1 BV) benötigen neben dem Volksmehr auch ein Ständemehr. Häufigster Fall ist die Teilrevision der Bundesverfassung. Die Vorlage gilt dann als angenommen, wenn eine Mehrheit der Stimmenden und die Mehrheit der Kantone („Ständemehr“) dafür stimmen (Art. 142 Abs. 2 BV). Die Standesstimme ist das Ergebnis der Volksabstimmung im betreffenden Kanton (Abs. 3).
Halbkantone: Gewisse Kantone zählen bei der Bestimmung des Ständemehrs nur halb (Abs. 4).
Volksinitiative: Kommt zustande, wenn 100‘000 Stimmberechtigte per Unterschrift innert 18 Monaten eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangen (Art. 139 Abs. 1 BV). Die Initianten legen in der Regel einen ausformulierten Text vor („ausgearbeiteter Entwurf“, Abs. 2). Die zustande gekommene Initiative muss dem Volk unverändert vorgelegt werden; das Parlament empfiehlt sie zur Annahme oder Ablehnung (Abs. 5).
Gegenvorschlag (oder Gegenentwurf): Das Parlament muss Volksinitiativen zur Abstimmung bringen, kann aber gleichzeitig einen eigenen Entwurf vorlegen (Art. 139 Abs. 5 BV). Geschieht dies auf Verfassungsstufe, spricht man von einem direkten Gegenvorschlag. Der Gegenvorschlag ist hingegen indirekt, wenn der per Volksinitiative angestrebten Verfassungsänderung ein einfachgesetzlicher Entwurf gegenüber gestellt wird.
Fakultatives Referendum: Gewisse Vorlagen (Auflistung in Art. 141 BV) gelangen nicht zwingend zur Abstimmung. Häufigster Fall ist der Erlass bzw. die Änderung von Bundesgesetzen (Abs. 1 Bst. a). Das Referendum kommt zustande, wenn dies 50‘000 Stimmberechtigten innert 100 Tagen seit der amtlichen Veröffentlichung des Erlasses per Unterschrift verlangen; oder, wenn es in der gleichen Frist acht Kantone verlangen.
Rückzug einer Volksinitiative: Jede Volksinitiative kann zurückgezogen werden, solange der Abstimmungstermin noch nicht fest steht (Art. 73 BPR). Falls das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative beschliesst, kann dieser Rückzug bedingt erfolgen (Art. 73a Abs. 2 BPR). Der bedingte Rückzug wird wirksam, falls kein fakultatives Referendum über den Gegenvorschlag ergriffen wird, dieses nicht zustande kommt oder falls der Gegenvorschlag im Referendumsfall angenommen wird (Abs. 3).
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ein wirklicher spannender Einblick in das staatsrechtliche System der Schweiz!
Gibt es eine Diskussion über das nur halbierte Gewicht der Halbkantone? Das ist ja schon eine interessante Abweichung vom Gleichwertigkeitsprinzip auf föderaler Ebene. Oder gibt es gar eine Diskussion über eine stärkere graduelle Abstufung, wie es im Bundesrat in Deutschland der Fall ist?
Danke.
Das halbe Stimmgewicht der Halbkantone wird so gut wie nie kritisiert. Es sind drei Halbkanton-Paare, die – für die restlichen Schweizer – eine gefühle Einheit bilden (Basel-Landschaft und Basel-Stadt; Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden; Obwalden und Nidwalden).
Einige der Reformideen wollen tatsächlich die Standesstimmen unterschiedlich stark gewichten; somit würde diese „Bremse“ zu einem weniger föderalen Instrument. Berechtigt sind diese Ideen dadurch, dass sich die relative Bevölkerungsgrösse der Kantone seit der Einführung des Ständemehrerfordernisses stark verändert hat. Allerdings mangelt es – in meiner Einschätzung – am politischen Willen, die föderale Struktur der Schweiz grundlegend zu verändern. Eine Möglichkeit wären da zum Beispiel Kantonsfusionen: die neuen Kantone hätten dann wieder eine ganze Standesstimme, relativ gesehen aber weniger. Das ist politisch unwahrscheinlich, weil die betroffenen Kantone das ja gutheissen müssen. Daran werden letztlich alle Reformversuche scheitern. Das bestehende Ständemehr-System müsste die eigene Abschaffung beschliessen, mit dem Zweck die bremsende, konservative Wirkung der kleinen Kantone zu verringern.
Ein anderer interessanter Reformvorschlag ist, das „stärkere Mehr“ (Begriff nach dem Politologen Wolf Linder) gewinnen zu lassen, wenn Volk- und Ständemehr auseinander gehen. Das würde heissen, die deutlichere Mehrheit überwiegt. Bei der Familienpolitik hätte das nichts gebracht: Das Volks-Ja, 54.3 %, war schwächer als das (ungewichtete) Stände-Nein, 56.5 %.
(Details gibt es hier nachzulesen: http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/diverse-reformideen-1.18041420).
Spätestens, wenn die Diskussion ums Ständemehr konkrete Änderungsvorschläge im Parlament hervorbringt, wird der JuWissBlog wieder darüber berichten.