Sexuelle Gewalt im bewaffneten Konflikt – Zeit für eine Änderung des humanitären Völkerrechts

von SARAH SCHADENDORF

SchadendorfSarah_Picture (3)Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten ist ein Kriegsgräuel, das nicht nur, aber überwiegend Frauen betrifft. Der diesjährige Internationale Frauentag am 8. März mit seinem Motto „Time for action to end violence against women” soll Anlass sein, Defizite des humanitären Völkerrechts beim Schutz von Frauen gegen sexuelle Gewalt aus humanitärer und feministischer Perspektive aufzuzeigen und über Reformansätze nachzudenken.

Sexuelle Gewalt als „Nebenphänomen“

Sexuelle Gewalt wird in bewaffneten Konflikten regelmäßig und umfassend als Waffe und Kriegsstrategie eingesetzt, ohne dass die breite Öffentlichkeit davon Notiz nimmt. Frauen werden von der gegnerischen Konfliktpartei vergewaltigt und sexuell gedemütigt und gefoltert, um sie zu demoralisieren, zu bestrafen oder zu vertreiben, um Familien- und Gemeinschaftsstrukturen zu zerstören oder zum Zwecke „ethnischer Säuberungen“. Frauen werden im Krieg sexuell versklavt, zur Ehe oder zur Prostitution gezwungen; sie werden zur Schwangerschaft, zur Abtreibung oder zur Sterilisation genötigt. Die Bandbreite sexueller Gewalt ist groß; ihre Folgen reichen von den physischen und psychischen Schäden über HIV-Infektionen, Schwangerschaftskomplikationen bis hin schließlich zur „Entehrung“ und sozialen Ausgrenzung der Frau, die „Schande“ über sich und ihre Familie gebracht hat.

Dennoch wird sexuelle Gewalt oftmals als „Nebenprodukt“ bewaffneter Konflikte und Frauen als „sekundäre Opfer“ wahrgenommen. Die Vorschriften des humanitären Völkerrechts spiegeln diese Auffassung von sexueller Gewalt zum Teil wider, wie die nachstehende Analyse zeigt.

Sexuelle Gewalt als verbotene Kriegshandlung

Hinsichtlich der Vergewaltigung als Kriegshandlung lässt sich seit Jahrhunderten ein gewohnheitsrechtliches Verbot nachweisen.1 Der Lieber-Code von 1863, mit dem die USA ihr Landkriegsrecht kodifizierten und der als Grundlage für die späteren internationalen Abkommen zum humanitären Völkerrecht diente, verbot in Art. 44 die Vergewaltigung bei Todesstrafe. In das IV. Haager Abkommen (Haager Landkriegsordnung, HLKO) von 1907 wurde hingegen kein ausdrückliches Verbot sexueller Gewalt aufgenommen. Art. 46 HLKO, der die Achtung der Ehre und der Rechte der Familie vorschreibt, wird in Anbetracht des damals vorherrschenden Verständnisses von „Familienehre“ jedoch ein Verbot sexueller Übergriffe auf die Frau entnommen.

Die vier Genfer Konventionen von 1949, die die Hauptquellen des humanitären Völkerrechts darstellen und nahezu universelle Geltung haben, behandeln sexuelle Gewalt explizit nur in einem einzigen Artikel. Nach Art. 27 Abs. 2 der Vierten Genfer Konvention (über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten) sollen Frauen „besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt“ werden. Auch wenn Art. 27 Abs. 2 nicht als Verbot formuliert ist, soll er nach dem IKRK-Kommentar zur Konvention von Pictet (1958) so verstanden werden. Der Schutzbereich der Vierten Genfer Konvention erstreckt sich jedoch nur auf Personen, die sich im Machtbereich der gegnerischen Konfliktpartei oder einer Besatzungsmacht befinden, dessen Nationalität sie nicht haben.

Der gemeinsame Artikel 3 der Genfer Konventionen, der Mindestanforderungen auch für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt aufstellt, enthält keinen auf sexuelle Gewalt gemünzten Tatbestand, verbietet aber „Angriffe auf Leib und Leben, namentlich […] „grausame Behandlung und Folterung“ sowie jede „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung“. Sexuelle Gewalt findet sich ebenso wenig in den Vorschriften über „schwere Verletzungen“ (Art. 50/51/130/147 der Genfer Konventionen), die bestimmte Kriegshandlungen als besonders schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht des bewaffneten Konflikts einstufen. Hinsichtlich von Personen, die solche „schweren Verletzungen“ begehen oder zu ihnen den Befehl erteilen, sind die Staaten zum Erlass von Strafbestimmungen sowie zur Ermittlung und gerichtlichen Verfolgung bzw. zur Auslieferung an einen verfolgungsbereiten Staat verpflichtet. Auf Grundlage des Universalitäts- oder Weltrechtsprinzips können nationale Gerichte jeder Vertragspartei unabhängig von der Nationalität des Täters wie des Opfers und dem Tatort tätig werden. Unter den Tatbeständen dieser „schweren Verletzungen“ finden sich zwei, die im Kontext sexueller Gewalt von Bedeutung sein können: die Folterung oder unmenschliche Behandlung sowie die vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder der Gesundheit.

Die Zusatzprotokolle von 1977 brachten Besserung: Art. 75 des Zusatzprotokolls betreffend den Schutz der Opfer in internationalen bewaffneten Konflikten (ZP I) untersagt jede „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art“. Ebenso lautet Art. 4 des Zusatzprotokolls betreffend den Schutz der Opfer in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten (ZP II), der darüber hinaus die Vergewaltigung auflistet. Art. 76 des ZP I fordert, dass Frauen insbesondere vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder anderen unzüchtigen Handlung geschützt werden sollen. Der Anwendungsbereich des Verbots sexueller Gewalt wurde damit ausgedehnt, die sexuelle Gewalt aus dem Ehrkontext in den Würdekontext verlagert. In den erweiterten Listen der „schweren Verletzungen“ der beiden Zusatzprotokolle findet sich wiederum keiner der genannten sexuellen Gewaltakte.

Seit den 1990ern Jahren hat sich zudem die völkerstrafrechtliche Anerkennung von sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen rasant entwickelt. In den Statuten der ad-hoc-Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda wird Vergewaltigung (als ausgedehnter und systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgeführt. Im Statut des Ruanda-Tribunals sind darüber hinaus Vergewaltigung, erzwungene Prostitution und unzüchtige Handlungen als Verstoß gegen den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen (nicht aber als „schwere Verletzungen“ der Genfer Konventionen) strafbar.

Auch in mehrere Tatbestände des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs haben diese und andere, bis dahin nicht kodifizierte Ausprägungen sexueller Gewalt Eingang gefunden. Gemäß Art. 7 sind Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfasst. Dieselben Formen sexueller Gewalt sind in Art. 8 als „Kriegsverbrechen“ aufgelistet; allerdings nicht (wie noch im Entwurf vorgesehen) in Art. 8 Abs. 2 lit. a, der sich auf die „schweren Verletzungen“ der Genfer Konventionen bezieht, sondern nur in Art. 8 Abs. 2 lit. b (an zweiundzwanzigster Stelle) bzw. lit. e als „anderer schwerer Verstoß“ gegen die im internationalen bzw. im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche . Art. 8 Abs. 2 lit. b formuliert aber „oder jede andere Form sexueller Gewalt, die ebenfalls eine schwere Verletzung der Genfer Abkommen darstellt“ und nimmt somit doch auch auf die „schweren Verletzungen“ der Genfer Konventionen Bezug.

Nicht nur diese Entwicklungen im Völkerrecht und der entsprechende menschenrechtliche Schutz gegen Akte sexueller Gewalt, sondern auch die Staatenpraxis in Gestalt zahlreicher nationaler Militärcodes und Strafgesetze sowie die Positionierung von internationalen Organisationen wie der VN und der EU veranlassen das IKRK zu der Annahme, dass das Verbot der Vergewaltigung und anderer sexueller Gewalt in internationalen wie nicht-internationalen bewaffneten Konflikten zum Völkergewohnheitsrecht gehört.

Schutzdefizite

Dass sexuelle Gewalt im gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen nicht aufgeführt und ausdrücklich nur in vereinzelten Normen behandelt wird, bringt bereits eine gewisse Vernachlässigung dieses Kriegsgräuels zum Ausdruck.

Das größte Manko aber besteht darin, dass sexuelle Gewalt nicht als „schwere Verletzung“ der Genfer Konventionen aufgeführt ist. Zwar wird sowohl vom IKRK als auch in der Rechtsprechung des Jugoslawien-Tribunals sowie in der Literatur überwiegend vertreten, dass sexuelle Übergriffe „Folterung oder unmenschliche Behandlung“ sowie „vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder der Gesundheit“ darstellen und somit „schwere Verletzungen“ des humanitären Völkerrechts sind. Insbesondere zur unmenschlichen Behandlung wird eine besondere Verbindung hergestellt, da die Vorschriften zum Schutz der Frauen auf eine menschliche Behandlung Bezug nehmen (vgl. Art. 27 Abs. 1 GK IV). Die ambivalente Aufnahme von sexuellen Gewaltakten in Art. 8 des IStGH-Statuts hat aber erneut Zweifel daran aufkommen lassen, ob diesen der Status der „schweren Verletzung“ zukommen soll.

Nur bei einer eindeutigen Klassifizierung als „schwere Verletzung“ ist eine effektive Strafverfolgung auch vor nationalen Gerichten möglich und verpflichtend. Der Großteil der Opfer sexueller Gewalt, deren Fälle nicht vor internationalen Strafgerichten verhandelt werden, käme nur auf diesem Weg zu einer gerichtlichen Aufarbeitung. Für die Täter ergäbe sich dann aus der drohenden weltweiten Strafverfolgung möglicherweise ein höheres Abschreckungspotential.

Feministische Kritik

Aus Sicht von feministischen Völkerrechtlerinnen besteht im humanitären Völkerrecht eine Geschlechterhierarchie, die den Schutz der fast ausschließlich männlichen Kombattanten in den Vordergrund stellt und den spezifischen Belangen der weiblichen Zivilisten kaum gerecht wird.2 Bei der Annahme der Genfer Konventionen waren lediglich 13 der 240 Delegierten Frauen.3 Etwa 40 Artikel des Genfer Rechts beschäftigen sich mit Frauen im bewaffneten Konflikt, meist aber nur in ihrer Eigenschaft als Schwangere oder Mutter, nicht mir ihr als Frau.

Dass sexuelle Gewalt keine „schwere Verletzung“ der Genfer Konventionen darstellt, fügt sich in diese Hierarchie ein und kann als weiteres Zeugnis dafür angesehen werden, dass den Auswirkungen von Konflikten auf Frauen nicht die Schwere beigemessen wird, in der sie von Frauen erlebt werden. Eine eigenständige Kategorie für sexuelle Gewalt als „schwere Verletzung“ würde den spezifischen Charakter des Verbrechen und seine Tragweite hervorheben.

Darüber hinaus bedarf auch die Konzeption sexueller Gewalt als Angriff auf die Ehre oder Würde der Reform. Das humanitäre Völkerrecht verknüpft sexuelle Übergriffe traditionell mit der Ehre der Frau und ihrer Familie. Dieser (männlich geprägte) Fokus erfasst die Frau nicht in ihrer Eigenschaft als Mensch, sondern vielmehr in ihrem sozialen Gefüge und ihrer Beziehung zum Mann. Die Einstufung als Ehr- oder Würdedelikt verschleiert die physischen und psychischen Dimensionen sexueller Gewalt und verharmlost die Schwere der Taten. Die körperliche Integrität wie die sexuelle Selbstbestimmung sollten Schutzgüter der Vorschriften sein.

Reformvorschläge

Das humanitäre Völkerrecht sollte die Fortschritte im Verständnis sexueller Gewalt gegen Frauen abbilden. In der wissenschaftlichen Diskussion wird ein Drittes Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen zum Schutz von Frauen im bewaffneten Konflikt vorgeschlagen, das sämtliche Frauenbelange berücksichtigt. Eine Änderung der Genfer Konventionen selbst wird zwar immer wieder gefordert, aber wegen der quasi-universellen Ratifikation, anderer (vermeintlich dringenderer) Probleme im Kriegsrecht und der Gefahr, dass die vorhandenen Schutzstandards abgesenkt werden könnten, skeptisch gesehen. Ein weiterer Ansatz wäre, die offiziellen Kommentare zu den Genfer Konventionen aus einer gender-sensiblen Perspektive neu zu fassen oder zumindest zu ergänzen.

Auch wenn Vorbeugung und Post-Konflikt-Strategien hinsichtlich sexueller Gewalt momentan im Vordergrund zu stehen scheinen, sollte eine Erneuerung des humanitären Völkerrechts nicht vergessen werden. Der aus dem Blickwinkel der Humanität erforderliche Schutz für Frauen darf nicht der Auslegung überlassen bleiben. Eine Anpassung der Vorschriften kann eine veränderte Wahrnehmung der Frau in bewaffneten Konflikten bewirken und die strafrechtliche Verfolgbarkeit sexueller Gewalt entscheidend verbessern.

  1. Möller, Sexuelle Gewalt im Krieg, in: Hasse/Müller/Schneider (Hrsg.): Humanitäres Völkerrecht, 2001, S. 281. []
  2. Gardam, Women and the Law of Armed Conflict: Why the Silence?, ICLQ 46 (1997), 55, 67 ff.; Charlesworth/Chinkin, The boundaries of international law – A feminist analysis, 2000, S.313 ff. []
  3. Gardam/Jarvis, Women, Armed Conflict and International Law, 2001, S. 133. []
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