von MEHRDAD PAYANDEH
„Eingreifen erlaubt“ resümiert Matthias Herdegen in der FAZ vom 6. September 2013 und stellt sich damit gegen die unter deutschen VölkerrechtlerInnen wohl überwiegend vertretene Position, wonach ein militärisches Eingreifen im Syrien-Konflikt ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates völkerrechtswidrig wäre. Herdegen wendet sich dabei gegen die seit der Kosovo-Intervention verbreitete Ansicht, wonach eine humanitäre Intervention ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat gegen das Gewaltverbot verstoße, aber gleichwohl legitim oder moralisch sein könne. Ohne dass man die vielschichtige Argumentation des Beitrags auf diesen Aspekt reduzieren könnte: Herdegen geht es im Kern um die Versöhnung von internationaler Moral und Völkerrecht. Herdegens Ausführungen fordern indes sowohl hinsichtlich ihrer Prämisse als auch im Hinblick auf die daraus gezogenen Schlüsse zum Widerspruch heraus.
Die Prämisse: Völkerrecht als Wertordnung
Herdegens Ausführungen sind im Kontext des Wandels der Völkerrechtsordnung zu lesen. Im 21. Jahrhundert beschränkt sich das internationale Recht nicht mehr darauf, Jurisdiktions- und Kompetenzsphären von Staaten abzugrenzen und Institutionen für punktuelle Kooperationsvorhaben bereit zu stellen, sondern enthält zahlreiche Regelungen, die sich dem klassischen Verständnis des Völkerrechts entziehen. Insbesondere die völkerrechtliche Entwicklung der Menschenrechte lässt sich als Ausdruck der Entstehung einer internationalen Wertordnung begreifen, die staatliche Interessen transzendiert. Wie Herdegen zu Recht ausführt, bildet der Schutz der Menschenrechte nicht nur ein „Leitthema der UN-Charta“, sondern zählt zumindest im Hinblick auf einen Kerngehalt auch „zum zwingenden Völkerrecht und damit zum Fundament der gesamten internationalen Ordnung“.
Entscheidend ist jedoch, welche Schlussfolgerungen man aus dieser Beschreibung der internationalen Rechtsordnung zieht. Für Herdegen verlangt die „innere Konsistenz“ der internationalen Ordnung nach einer Relativierung des Gewaltverbots. Die Frage, wie diese Relativierung im Einzelnen zu begründen ist, erlangt vor dem Hintergrund der Anerkennung des Schutzes der Menschenrechte als fundamentalem Wert eine nachrangige Bedeutung. Dementsprechend begnügt sich Herdegen mit dem Verweis auf verschiedene aus dem Diskurs bekannte dogmatische Anknüpfungspunkte, wie die Beschränkung der Souveränität, die Ausweitung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts oder die Anerkennung einer offenen Abwägung der kollidierenden Werte und Interessen.
Gegen diesen Ansatz, den man in Abgrenzung zu einem eher formalistischen Verständnis des Völkerrechts als pragmatisch bezeichnen könnte, bestehen grundlegende Bedenken. Schon die Frage, nach welchen Maßstäben die „innere Konsistenz“ der Völkerrechtsordnung hergestellt werden soll, bereitet Probleme: Unter welchen Voraussetzungen setzen sich „die“ Menschenrechte gegen das Gewaltverbot durch? Herdegen will eine Durchbrechung des Gewaltverbots nur im Fall von Genozid, systematischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und elementaren Missachtungen des humanitären Völkerrechts akzeptieren. So intuitiv einsichtig diese Grenzziehung auf den ersten Blick erscheinen mag, so problematisch kann ihre Anwendung im Einzelfall sein. Wonach bemisst sich, ob eine Missachtung des humanitären Völkerrechts „elementar“ ist? Ab wann wird die Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit „systematisch“? Kommt es auf die Zahl der Opfer an oder auf die Art und Weise der Rechtsverletzung? Auch die Entwicklung des Konzepts der Schutzverantwortung (responsibility to protect) hat diese Fragen nicht abschließend und autoritativ geklärt, da es Eingriffskriterien nur im Hinblick auf ein Einschreiten des Sicherheitsrates und nur unter dem Blickwinkel der Legitimität, nicht der Legalität entwickelt.
Dass dogmatische Rechtsfiguren mit Unsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten behaftet sind, ist indes nicht ungewöhnlich und muss nicht zwingend gegen diese sprechen. In staatlichen Rechtsordnungen werden derartige Schwierigkeiten allerdings dadurch aufgefangen, dass die Kompetenz zur Feststellung, ob diese materiellen Kriterien im Einzelfall erfüllt sind, zentralisiert auf staatliche Organe, in letzter Instanz auf unabhängige und rechtsgebundene Gerichte übertragen ist. In der Völkerrechtsordnung fehlt demgegenüber sowohl eine umfassende zentralisierte Exekutivgewalt als auch eine obligatorische und mit umfassender Jurisdiktion ausgestattete Gerichtsbarkeit. Neben der Problematik, materielle Kriterien für die Auflösung von Wertkonflikten zu entwickeln, sprechen daher die strukturellen Eigenheiten und Defizite des internationalen Rechtssystems noch viel gewichtiger gegen zu weitreichende Schlussfolgerungen aus der These von der Völkerrechtsordnung als Wertordnung: Aufgrund der dezentralen Struktur des Völkerrechts wäre die Entscheidung darüber, ob die von Herdegen angenommene Schwelle für militärisches Eingreifen überschritten ist oder nicht, primär von denjenigen Staaten zu treffen, die eingreifen wollen. Andere Staaten könnten ihre abweichende Rechtsauffassung zwar zum Ausdruck bringen, eine autoritative Entscheidung durch ein unabhängiges Streitbeilegungsorgan wird sich jedoch nur in seltenen Fällen herbeiführen lassen. Auch die Ermittlung und Bewertung der gerade in Bürgerkriegssituationen nur schwer durchschaubaren und kaum nachprüfbaren Tatsachen würde den eingreifenden Staaten obliegen.
Militärische Interventionen erfolgen nie aus rein humanitären Gründen, sondern sind immer maßgeblich von den Interessen der intervenierenden Staaten – seien sie politischer, wirtschaftlicher oder sonstiger Natur – getragen. Vor diesem Hintergrund ist Herdegens Argument, dass die völkerrechtliche Wertordnung „nicht vom möglichen Missbrauch her gedacht werden“ darf, zu widersprechen – zumindest, wenn die grundlegende Frage nach der Zulässigkeit militärischer Gewalt betroffen ist.
Die Schlussfolgerung: Vorrang der Moral vor dem Formalismus im Syrien-Konflikt
Selbst wenn man die Prämisse teilt, dass das geltende Völkerrecht als Wertordnung eine Relativierung des Gewaltverbots zum Schutz der Menschenrechte grundsätzlich zulässt, so zeigt der Fall Syrien in eindrücklicher Weise, dass sich das Problem der militärischen Intervention aus humanitären Gründen regelmäßig nicht auf den Gegensatz von Recht und Moral reduzieren lässt. Das von Herdegen angesprochene „Dilemma zwischen Recht und Moral“ darf nicht so verstanden werden, dass die VertreterInnen eines eher formalistischen Völkerrechtsverständnisses am Gewaltverbot und an der Integrität des Völkerrechts festhalten, obwohl sie davon überzeugt wären, dass ein militärisches Eingreifen die moralisch wünschenswerte Handlungsalternative darstellte. Diese Beschreibung mag allenfalls den Gemütszustand vieler VölkerrechtlerInnen im Hinblick auf die Kosovo-Intervention beschreiben, kann aber die Lage in Syrien kaum zutreffend widerspiegeln. Denn es steht ja gerade in Frage, inwiefern ein militärisches Eingreifen überhaupt dem Schutz von Menschen in Syrien dienen kann. So steht nicht nur zu befürchten, dass durch militärische Luftschläge Zivilisten zu Schaden kommen, eine Intervention kann auch zu einer Eskalation des Konflikts und damit zu weiteren Opfern führen. Selbst wenn militärisches Einschreiten zu einem Sturz des Regimes führen würde, ist kaum absehbar, welche Konsequenzen ein Regimewechsel nach sich ziehen würde. Auch wenn – zu Recht! – die schwerwiegenden Rechtsverletzungen, die das Assad-Regime verübt hat und weiterhin verübt, im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen, sehen sich auch Teile der Regierungsgegner dem Vorwurf ausgesetzt, schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen zu haben und zu begehen. Auch lässt sich kaum vorhersagen, wie die unterschiedlichen oppositionellen Gruppen nach einem Sieg über das Assad-Regime untereinander und mit den verschiedenen Minderheiten des Landes umgehen werden.
Vor diesem Hintergrund lässt sich kaum mit Gewissheit sagen, dass ein militärisches Einschreiten moralisch geboten erscheint, insbesondere da – wie Herdegen zu Recht bemerkt – die aktuelle Diskussion um einen begrenzten militärischen Einsatz der USA von einer „unbedachte[n] Sanktionsrhetorik“ geprägt ist, die einen potenziellen Einsatz als Vergeltung oder Bestrafung des syrischen Regimes für das Überschreiten der „roten Linie“ des Einsatzes von Chemiewaffen rechtfertigt. Ob der mit einer solchen Bestrafungsaktion verbundene Abschreckungseffekt ausreicht, um in einer militärischen Intervention dennoch den Schutz der Zivilbevölkerung als maßgeblichen Rechtfertigungsgrund zu sehen, erscheint höchst fraglich. Für militärische Maßnahmen als Reaktion auf Verletzungen rechtlicher oder moralischer Regeln bietet das Friedenssicherungsrecht aber keinen Raum. Für repressive Bestrafungen stellt vielmehr das Völkerstrafrecht den richtigen Ort der Auseinandersetzung dar.
Fazit
Matthias Herdegen hat völlig Recht mit der Feststellung, dass es in Fragen von Krieg und Frieden keine einfachen Gewissheiten gibt. Aber ebenso wenig wie sich VölkerrechtswissenschaftlerInnen auf den vermeintlich bequemen Standpunkt zurückziehen können, das Gewaltverbot stehe einer militärischen Intervention entgegen, bietet die Berücksichtigung moralischer Erwägungen einen Ausweg aus dem Dilemma. Einfache Gewissheiten gibt es eben auch und gerade in moralischen Fragen nicht, insbesondere, wenn es darum geht, moralische Standards nicht nur abstrakt aufzustellen, sondern sie im konkreten Einzelfall anzuwenden und umzusetzen. Angesichts der Zurückhaltung der meisten westlichen Staaten, offen ein Recht zur humanitären Intervention zu statuieren, und des entschiedenen Widerstands der überwiegenden Mehrheit der „nicht-westlichen“ Staaten gegen ein solches Recht, vermag die Berufung auf moralische Erwägungen eine Durchbrechung des Gewaltverbots nicht zu rechtfertigen.
4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Lieber Herr Payandeh,
ich finde es auch nicht weiterführend, moralische Erwägungen primär handlungsleitend werden zu lassen. Vor allem ist eine weltweit akzeptierte Moral noch schwieriger zu erreichen als die Einigung auf Rechtsnormen.
Freilich bleiben wir auf eine politische Entscheidung angewiesen, die ihrerseits eine Vielzahl außerrechtlicher Gesichtspunkte einbezieht. In diesem Deliberations- und Entscheidungsprozeß dann Rechtsargumente so stark wie möglich zu machen, scheint mir der sinnvollste Weg zu sein.
Beste Grüße
Norman Weiß
Lieber Herr Payandeh,
„Menschenrechte“ sind eine Kategorie der Moral, nicht des Rechts!
„Schon die Frage, nach welchen Maßstäben die „innere Konsistenz“ der Völkerrechtsordnung hergestellt werden soll, bereitet Probleme: Unter welchen Voraussetzungen setzen sich „die“ Menschenrechte gegen das Gewaltverbot durch?“
„Wonach bemisst sich, ob eine Missachtung des humanitären Völkerrechts „elementar“ ist? Ab wann wird die Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit „systematisch“? Kommt es auf die Zahl der Opfer an oder auf die Art und Weise der Rechtsverletzung?“
Allein diese Ihre Fragen, sind nicht nur berechtigt gestellt, weil das herrschende Verständnis von Moral und Recht sie nicht beantwortet, und was von diesem dazu veröffentlicht wird, kann und darf beliebig verstanden werden.
Die Fragen – Ihre Fragensätze – sind deshalb unvermeidbar, weil zitierte Worte und Aussagen zu Moral und (Völker-) Recht nur scheinbare Begriffe sind. Zum Beispiel „innere Konsistenz“, „humanitäres Völkerrecht“, „elementar“, „systematisch“.
Es gibt also kein „Dilemma zwischen Recht und Moral“. Allenfalls ein „Dilemma“ mit einem Verstehen(-wollen) von Recht, von Moral und vom Zusammenhang von Recht und Moral, was die allgemeine Anwendung dieser Worte als Begriffe ermöglicht. Dieses „Dilemma“ ist nicht auf die Sprachenunterschiede beschränkt.
Die Beantwortung zum Beispiel der Frage:“ Unter welchen Voraussetzungen setzen sich `die` Menschenrechte gegen das Gewaltverbot durch?“ beginnt also mit der Auseinandersetzung des Verständnisses vom Wort „Menschenrechte“ ob und in welchem Zusammenhang es als Begriff verwendet werden kann, also welches charakteristische Merkmal damit bezeichnet wird.
Beste Grüße
Peter Blickensdörfer
[…] 2001 wurde das Konzept der Schutzverantwortung entwickelt (responsibility to protect). Demnach ist Gewaltanwendung gegen einen souveränen Staat möglich, wenn dieser Völkermord begeht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt oder in […]
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