Shutdown-Lockerung durch die Judikative? Die künftige Prüfung der Erforderlichkeit von Infektionsschutzmaßnahmen

Von FREDERIK FERREAU

In den vergangenen Tagen hat eine politische Debatte über eine (schrittweise) Lockerung des Corona-Shutdowns eingesetzt. Dagegen blieben bislang Versuche, über den Rechtsweg die Aufhebung massiver Grundrechtseingriffe zu erreichen, meist erfolglos: Verwaltungs- und Verfassungsgerichte attestierten den angegriffenen Regelungen in der Regel die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots. Nun präzisiert jedoch ein jüngster Beschluss des BVerfG das künftige Prüfprogramm – und könnte dadurch partiell eine Shutdown-Lockerung bewirken.

Mit dem Beschluss vom 10. April bestätigt das BVerfG die Eilentscheidung des VGH Kassel zur Rechtmäßigkeit der Untersagung von Gottesdiensten gemäß der „Corona-Verordnung“ der hessischen Landesregierung: Die Regelung bedeute zwar für den katholischen Antragsteller einen überaus schwerwiegenden Eingriff in seine Glaubensfreiheit. Dieser sei jedoch gerechtfertigt: Könnten sich in der Osterzeit zahlreiche Gläubige in den Kirchen versammeln, „würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtung bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen (…) erheblich erhöhen“ (Rn. 13).

Bemerkenswert sind die neuesten Aussagen des Gerichts bezüglich der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Regelungen in Corona-Verordnungen. Noch in dem am 7. April veröffentlichten Beschluss zu Regelungen der bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung fielen seine diesbezüglichen Ausführungen recht knapp aus: Bei der Gewichtung der gegenläufigen Interessen sei „zu berücksichtigen, dass die angegriffenen Regelungen von vornherein befristet sind, im Hinblick auf die Ausgangsbeschränkungen zahlreiche Ausnahmen vorsehen und bei der Ahndung von Verstößen im Einzelfall im Rahmen des Ermessens individuellen Belangen von besonderem Gewicht Rechnung zu tragen ist“ (Rn. 11). Wie noch gezeigt wird, gehen die neuesten Aussagen des Gerichts einen Schritt weiter und präzisieren insbesondere die künftigen Anforderungen an die Erforderlichkeit.

Konkretisierung des legitimen Zwecks

Die Landesregierungen verfolgen mit ihren Verordnungen den legitimen Zweck des Schutzes der überragend wichtigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit. Dieser abstrakte Zweck ist in der gegenwärtigen Phase der Pandemiebekämpfung weiter konkretisiert: Es geht dem Staat darum, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern – mit der Folge, dass nicht mehr alle Patienten adäquat behandelt werden, Ärzte schlimmstenfalls zur Triage gezwungen sein könnten.

Diese Konkretisierung steuert die weitere Verhältnismäßigkeitsprüfung: Der Staat nimmt für sich nicht in Anspruch, die Bevölkerung vor allen erdenklichen Gesundheitsrisiken – auch nicht vor einer Corona-Infektion – schützen zu können. Ihm geht es mit dem Shutdown primär um die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems zur Behandlung von ernsthaft erkrankten Menschen. Hierin manifestiert sich die Erfüllung seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG. Entsprechend müssen sich staatliche Maßnahme daran messen lassen, ob sie zur Sicherstellung eben dieses Zwecks erforderlich sind.

Erforderlichkeitsprüfung als Prognoseüberprüfung

Mildere Mittel als das Verbot von Gottesdiensten und Versammlungen, die Schließung von Geschäften oder Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen lassen sich leicht ausmalen. Denkbar sind etwa Abstandsgebote zwischen Personen – welche auch eine Begrenzung der Anzahl von sich zeitgleich in geschlossenen Räumen aufhaltenden Personen beinhalten können – oder ein Gebot zum Tragen von Mund- und Nasenschutz. Entscheidend ist aber, ob die milderen Mittel auch gleichermaßen zur Zweckerfüllung geeignet sind. Maßstab ist somit der bereits identifizierte Zweck, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.

Bei der Beurteilung der Gleichgeeignetheit von Maßnahmen steht dem Verordnunggeber eine gewisse Einschätzungsprärogative zu. Dies gilt zumal in der gegenwärtigen und äußerst dynamischen Pandemiesituation: Aufgrund bestehender Unsicherheiten bezüglich Übertragung, Behandlung und Letalität des COVID-19-Virus ist von einem relativ weiten Spielraum auszugehen. Das befreit die Exekutive aber nicht von einer substantiierten Darlegung der Gründe für das Ergreifen eingriffsintensiverer Mittel. Die Einschätzungsprärogative sperrt nämlich nicht die gerichtliche Überprüfbarkeit; sie vermag allenfalls die „Eindringtiefe“ der gerichtlichen Kontrolle zu reduzieren.

An dieser Stelle setzt nun das BVerfG im jüngsten Beschluss an: Das Gericht gibt dem Verordnunggeber auf, bei einer Fortschreibung der bis zum 19. April befristeten Verordnung „eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern.“ (Rn. 14). Auch wenn sich die Aussage anlassbedingt auf die Glaubensfreiheit bezieht, spricht prinzipiell nichts gegen ihre Anwendung bei Überprüfung anderer Grundrechtseingriffe.

Bedenklich stimmen in diesem Zusammenhang Berichte über Unsicherheiten hinsichtlich der Intensivkapazitäten in Krankenhäusern: Wenn der Staat die Kapazitäten seines Gesundheitssystems nicht (genau) kennt, wie valide können dann seine Prognosen bezüglich drohender Überlastungen ausfallen? Um vor Gericht nicht bereits an diesem Punkt in Argumentationsschwierigkeiten zu geraten, bedarf es schnellstmöglicher Klarheit. Denn dass die Verwaltungsgerichte nicht gewillt sind, staatliche Vorträge zu Krankenhauskapazitäten unreflektiert zu übernehmen, haben die Beschlüsse zu Verboten der Zweitwohnungsnutzung in Brandenburg gezeigt (dazu Leonel Bohnsack hier auf dem Blog).

Rechtsdurchsetzbarkeit als Argument

Was bedeutet nun der prognostische Charakter der Erforderlichkeitsprüfung für die Bewertung der Gleichgeeignetheit verschiedener Infektionsschutzmaßnahmen? Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, dass die milderen Mittel weniger geeignet sein sollen als „harte“ Regelungen: Nach derzeitigem Kenntnisstand schließt bereits die Einhaltung von Abstands- und Hygienevorgaben eine Übertragung aus und verlangsamt so die Virusausbreitung. Etwas anderes ergibt sich erst auf den zweiten Blick: Denn es ist zu erwarten, dass diese Vorgaben nicht flächendeckend eingehalten werden und ihr „Bremseffekt“ daher geringer ausfällt.

Hier wird nun die (Prognose der) Rechtsdurchsetzbarkeit zum Argument in der Erforderlichkeitsbewertung: Ist das mildere Mittel gegenüber dem härteren nur mit (erheblich) größerem Aufwand durchsetzbar, so ist es weniger geeignet. Ist aber dem Staat zuzumuten, mildere Mittel durch Etablierung eines disziplinierend wirkenden Vollzugsregimes durchzusetzen, erweisen sie sich als gleichgeeignet.

Auf die aktuelle Situation gewendet: Die Durchsetzung von Veranstaltungsverboten oder Geschäftsschließungen ist für Ordnungskräfte leichter zu kontrollieren als die Einhaltung kleinteiliger Abstands- oder Hygienevorgaben. Allerdings könnte eine gewisse Anzahl an Verstößen gegen diese Vorgaben immer noch tolerabel sein, wenn sie in der Addition nicht eine Überforderung des Gesundheitssystems erwarten lassen. Zudem können (Stichproben-)Kontrollen zur Einhaltung milderer Regelungen, die wiederum von abschreckend wirkenden Sanktionen flankiert sind, ein hinreichend effektives Rechtsdurchsetzungsregime formen. Dies gilt jedenfalls für weitgehend „statische“ Situationen wie Veranstaltungen in geschlossenen Räumen oder Einzelhandelsgeschäfte, in denen die Einhaltung von Abstands- und Hygienevorgaben sowie deren Kontrolle erleichtert ist. Etwas anders dürfte dagegen für „dynamische“ Situationen wie Versammlungen unter freiem Himmel oder Begegnungen im öffentlichen Raum gelten.

Dass die genannten milderen Mittel ähnlich effektiv (durchsetzbar) sein können wie härtere Regelungen, liegt auch am zu erwartenden Verhalten der Bevölkerung: Die zurückliegenden Wochen haben die Bürger mit Abstands- und Hygieneregelungen vertraut gemacht und sie für die Gefahr sensibilisiert. Dadurch entsteht neben dem staatlichen Vollzugs- auch zusätzlicher „sozialer Druck“, der auf Mitmenschen ebenso wie Geschäftsinhaber und Veranstalter disziplinierend wirken kann. Auch dies sollte künftig in die Beurteilung der Effektivität staatlicher Infektionsschutzmaßnahmen einfließen.

Herantasten an den Normalzustand

Die weitere Pandemieentwicklung wird auch in naher Zukunft die Reichweite staatlicher Reaktionsspielräume steuern. Höhere Begründungsanforderungen an die Erforderlichkeit von Maßnahmen müssen daher nicht zwingend eine Shutdown-Lockerung bewirken. Doch das BVerfG weist mit seinem Beschluss Judikative wie Exekutive einen Weg, auf dem sie sich immer näher an eine Normalisierung der Grundrechtslage heranzutasten haben. Dabei können die Wegweisungen auch auf neuartige Pfade führen: Wie das BVerfG andeutet, sind regional begrenzte Lockerungen ein denkbares milderes Mittel. Daneben sollten auch zeitlich begrenzte „Testphasen“ für eine Normalisierung bestimmter Lebensbereiche erwogen werden. Vielleicht leisten zudem in Kürze digitale Hilfsmittel wertvolle Freiheitsbeiträge? Jedenfalls wird nur durch ein intensives Ringen zwischen notwendigem Gesundheitsschutz und möglichem „Freiheitsschutz“ die Gefahr gebannt, dass der Shutdown zum Selbstzweck mutiert – und sich irgendwann tiefgreifendes Misstrauen in den Rechtsstaat epidemisch ausbreiten wird.

 

Zitiervorschlag: Frederik Ferreau, Shutdown-Lockerung durch die Judikative? Die künftige Prüfung der Erforderlichkeit von Infektionsschutzmaßnahmen, JuWissBlog Nr. 56/2020 v. 14.04.2020, https://www.juwiss.de/56-2020/.

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Bundesverfassungsgericht, COVID-19, Frederik Ferreau, Grundrechte, Infektionsschutz, Shutdown
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