Zwei Jahre Pandemierecht: Reflexion der Rechtsformenwahl

Von Pasqual Schulte

Am 27.01.2022 können wir ein trauriges Jubiläum „feiern“: Der erste, vor zwei Jahren festgestellte, Infektionsfall in Bayern markierte zugleich den Startpunkt der Alltagskonstante „Pandemierecht“, welches bis zu diesem Zeitpunkt als Infektionsschutzrecht ein Schattendasein geführt hatte. Der rechtswissenschaftliche Diskurs fokussiert nach wie vor materielle Überlegungen (insbesondere bezüglich der Verhältnismäßigkeit bestimmter Maßnahmen) und ist mit systematischen Analysen hinsichtlich des Stufenbaus der Rechtsordnung erstaunlich sparsam. Allgemeinverfügung und Rechtsverordnung erscheinen austauschbar und die Unterscheidung derselben wird in der Alltagdebatte der breiten Bevölkerung als reine „Förmelei“ verstanden. Die zum Großteil kongruenten Anwendungsvoraussetzungen von Allgemeinverfügung und Rechtsverordnung induzieren indes weniger eine willkürliche Austauschbarkeit als vielmehr die staatliche Aufgabe, spezifische Maßnahmen dem dafür geeigneten Rechtserzeugungsorgan zuzuordnen, mithin eine Selektionsobliegenheit. Die in einem Zeitraum bis zum September 2021 eigens, unter Anschauung bundesweiter Gerichtsverfahren, analysierten Allgemeinverfügungen offenbaren eine empirische Schwankung des Gebrauchmachens der Rechtsform der Allgemeinverfügungen. Demgegenüber begleiten uns seit Anfang der Pandemie ununterbrochen und in ihrer Anzahl fast stagnierend die landesrechtlichen Infektionsschutzverordnungen, die schon früh einen umfassenden Regelungsanspruch erhoben haben. Dieses schwankende Gebrauchmachen der Allgemeinverfügung und der überhöhte Anspruch der Rechtsverordnungen legen nahe, dass die funktionsadäquate Zuordnung von Maßnahmen zu dem geeignetsten Rechtserzeugungsorgan nicht gelingt, mithin eine defizitäre Allokation stattfindet. Dies könnte nicht nur auf der Tatsachenebene zu Tunnelblicken führen, sondern auch Funktionsverständnisse von Rechtsformen neu definieren.

Begründungs- und rechtsformakzessorische Wissensgenerierung

Die beobachtete Fluktuation wirkt sich, noch vor der Rechtserzeugung an sich, in der Faktendimension aus. Grund hierfür ist die staatliche Filterung der benötigten Tatsachen, deren Folge die Ausblendung alternativer Maßnahmen sein kann (früh kritisiert durch Lepsius).

Die Erkenntnisobjekte von Verwaltungsverfahren sind das einschlägige Recht einschließlich dessen Auslegung sowie die Sachverhaltsermittlung. Ersteres wird jedoch nicht schlicht im Sinne eines „Subsumtionsautomaten“ erkannt: Die Verwaltung konkretisiert vielmehr den Rahmen, welcher sich aus der Bindung durch höherrangiges Recht (Art. 20 III GG) und dem einfachrechtlichem Auslegungsspielraum ergibt, und erzeugt somit erst das Recht in Form der Allgemeinverfügung durch das Verwaltungsverfahren. Selbiges gilt auch für den zugrundeliegenden Sachverhalt. Auch hier ermächtigt das Recht die Verwaltung, im Rahmen ihrer (Erst-)Entscheidungskompetenz (zunächst) darüber zu entscheiden, welche Tatsachen sie als gegeben ansieht. Diese Erzeugungsleistungen sind in ihrem Abstraktionsgrad rechtsformenabhängig, da das jeweils zuständige Rechtserzeugungsorgan die im Stufenbau der Rechtsordnung tieferstehende Form auf bestimmte Lebenssachverhalte und typischerweise kleinere Personengruppen operationalisiert. Die Wissensgenerierung im jeweiligen Verfahren wird dabei auf die Begründungserfordernisse hoheitlicher Eingriffe ausgerichtet, um durch belastbare Informationsgewinnung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seinen tatsachenbezogenen Bereichen der Geeignetheit und Erforderlichkeit gerecht zu werden.

Die Begründungen der Rechtsverordnungen beziehen sich in tatsächlicher Hinsicht daher wegen ihres höheren Abstraktionsgrades insbesondere auf infektionsschutzrelevante Kennziffern wie Impfquoten, Hospitalisierungsraten oder schwere Krankheitsverläufe, wohingegen sich die Begründungen der Allgemeinverfügungen mit örtlichen Gegebenheiten, situativen Verhaltensweisen (z. B. Bewegungsmuster bei Verweilverboten) oder Wirkungsfaktoren bestimmter Maßnahmen beschäftigen. Wenn der Staat sich für die Wahl einer bestimmten Rechtsform und deren korrespondierenden Begründungsmodus entscheidet, lenkt er somit auf der politischen Steuerungsebene den Fokus der Wissensgenerierung.

Die Konzentration beispielsweise auf die Rechtsverordnung auf Bundesebene erfordert somit die Anregung einer detaillierteren Forschung der Wirksamkeit und Verhaltensweise von Impfstoffen in Bezug auf neue Virusvarianten, um Maßnahmen wie Reiserückkehrerquarantänen nach § 36 VII IfSG zu rechtfertigen. Demgegenüber könnte die Konzentration auf Allgemeinverfügungen eine Tatsachenermittlung im Bereich von Infektionsclustern (z. B. Präsenzunterricht) fördern. Während die Exekutive das Erkenntnispotenzial beispielsweise im Bereich der Wirksamkeit von Impfstoffen nahezu ausreizt, bestehen in Bezug auf Infektionscluster und exponierte Räumlichkeiten jedoch zum Teil erhebliche Unsicherheiten. Folglich ist eine verstärkte Nutzung der Allgemeinverfügung durch örtlich zuständige Behörden rechtspolitisch wünschenswert, um bestehende Wissensdefizite der Verwaltung zu minimieren. Das Spektrum der alternativen Maßnahmen könnte so erweitert werden, was die Erforderlichkeitsprüfung intensiviert und somit den Kontrollmaßstab der Rechtsprechung in der Retrospektive stärken kann. Folglich könnten so Freiheitssphären durch die vermehrte Wahl der Allgemeinverfügung (und das einhergehend höhere Wissensniveau) geschützt werden.

Funktionsverschiebungen – Die gefährliche Neuausrichtung

Die Fluktuation der Allgemeinverfügungen offenbart bei einem Abgleich mit dem Infektionsgeschehen deren Rechtsformenfunktion:

 

 

 

Abgesehen von einer ersten Phase der „Rechtsformenunsicherheit“ im März 2020, fungiert die Allgemeinverfügung weniger als ein Krisenbekämpfungsmittel zu Hochpunkten, sondern als Frühwarnsystem oder Notbremse bei beginnenden starken Beschleunigungen. Sofern eine Maßnahme durch Allgemeinverfügung mangels Eindämmung der Infektionen gescheitert ist, bedingte dies dann eine Rechtsformänderung zugunsten der Rechtsverordnung, die entsprechende Maßnahmen lokal unbegrenzt und i. d. R. strikter normiert. Hierdurch ist jeweils das quantitative Absinken der Allgemeinverfügungen trotz steigender Infektionen entstanden.

Dieser anfängliche Mechanismus, dass die Allgemeinverfügung Notmaßnahmen trifft und bei weiterem Infektionsanstieg durch die Rechtsverordnung abgelöst wird, wurde im Zuge der Konsolidierung der Regelungstechnik innerhalb der Landesrechtsverordnungen zurückgedrängt: Die Landesrechtsverordnungen sehen unmittelbar selbst Staffelungen für das Eingreifen von Maßnahmen anhand von Infektionskennziffern vor. Diese Maßnahmen bedürfen in der Regel keines weiteren Vollzugsaktes, sondern wirken „self-executing“, sofern ein bestimmtes Infektionsniveau in Form der Allgemeinverfügung durch die örtlichen Behörden festgestellt wird. Der materielle Eigenwert der Rechtsform der Allgemeinverfügung ist in diesem Normkonstrukt marginal, da er sich auf eine konzessionierende Rolle reduziert, indem schlicht das Infektionsniveau festgestellt wird.

Hierdurch fällt die Ebene der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle einschließlich deren Revisionsinstanz weitestgehend weg. Dies schwächt wiederum die Dialogerfordernisse und Differenzierungssuche der Judikative, insbesondere der Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe, da die rechtlichen Argumentationen anderer Spruchkörper, insbesondere der unteren Instanzen, weder einfließen noch reflektiert werden müssen. Der Kommunikationsprozess der Gerichte untereinander sowie mit den Rechtserzeugungsorganen wird somit linearisiert und beschränkt sich auf den kontradiktorischen Diskurs des einen Rechtserzeugers (i. d. R. Landesgesundheitsministerium) mit dem einen Spruchkörper (i. d. R. OVG im Verfahren nach § 47 VI VwGO). Die verstärkte Nutzung der Allgemeinverfügung führte demgegenüber auf beiden Seiten zu einer Diversifikation, da der Behördenaufbau in seiner Gesamtheit erfasst werden könnte und die Verwaltungsgerichte (sowie die OVG in der Funktion als Revisionsinstanz, vgl. § 46 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 146 IV VwGO) einbezogen würden.

Fazit

Der in Anbetracht der funktionalen und organisatorischen Gewaltenteilung ideelle Modus arbeitsteiliger Rechtserzeugung stößt im Rahmen der Corona-Pandemie an seine Grenzen, da bestimmte Ebenen hyperfokussiert werden (Landesrechtsverordnungen), während andere Stufen (lokale Allgemeinverfügungen) vernachlässigt werden und zum Teil eine bedenkliche Funktionsverschiebung, wie in Gestalt der zunehmend konzessionierenden Rolle der Allgemeinverfügung, erfahren. Diese defizitäre Zuordnung verengt sowohl aus der Tatsachendimension (Wissensgenerierung) als auch aus der Rechtsdimension (Linearisierung des Rechtschutzes) den staatlichen Blick für die notwendige Suche nach alternativen Maßnahmen und den schonendsten Ausgleich. De lege ferenda ist daher eine funktionsadäquatere Nutzung des gesamten Stufenbaus der Rechtsordnung anzustreben. Nutznießerin ist die Freiheit, die durch einen verstärkten Einsatz von Allgemeinverfügungen wächst.

 

 

Zitiervorschlag: Pasqual Schulte, Zwei Jahre Pandemierecht: Reflexion der Rechtsformenwahl, JuWissBlog Nr. 7/2022 v. 26.1.2022, https://www.juwiss.de/7-2022/.

 

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Allgemeinverfügung, Corona, Corona-Pandemie, COVID-19, Rechtsformen, Rechtsverordnung
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