von ALESSA STACHE
Die Corona-Krise ist die Zeit des vorläufigen Rechtsschutzes. Maßnahmen der Exekutive greifen tief in die Grundrechte der Bevölkerung ein. Zunehmend setzen sich die Menschen auch gerichtlich dagegen zur Wehr. Die Gerichte flüchten sich jedoch allzu oft in eine reine Folgenabwägung, ohne abschließend dazu Stellung zu nehmen, ob die geltenden Maßnahmen rechtmäßig sind. Das ist kritikwürdig.
Prüfungsmaßstab im vorläufigen Rechtsschutz
Bei Verfahren nach § 80 V VwGO sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens maßgeblich. Eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen bzw. eine Folgenabwägung kommt nur dann in Betracht, wenn das Gericht nicht abschätzen kann, ob der Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Einstweiliger Rechtsschutz ist durch Vorläufigkeit und Eilbedürftigkeit geprägt. Dass die Sachverhaltsermittlung hier summarisch erfolgt, ist daher nur konsequent. Dies gilt aber nicht für die rechtliche Prüfung. Jeder Jurastudent und jede Rechtsreferendarin kennt den Merksatz: „Tatbestandlich ist summarisch, rechtlich jedoch stets umfassend zu prüfen.“ Wer im Studium hiergegen verstößt, muss um das Bestehen seiner Klausur fürchten.
Gerichtspraxis im Umgang mit Corona-Maßnahmen
In der Praxis sieht das nun ganz anders aus: Fast schon programmatisch beginnt ein großer Teil der derzeitigen verwaltungsgerichtlichen Beschlüsse zu Corona-Maßnahmen im vorläufigen Rechtsschutz mit der Phrase, das Gericht nehme eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage vor [bspw. VG Gießen; OVG Thüringen, S. 6]. Es scheint so, als wollten sich die Gerichte um eine klare Stellungnahme zu den streitgegenständlichen Corona-Maßnahmen „drücken“. Stattdessen stellen sie floskelhaft fest, dass im Rahmen der summarischen Prüfung die Rechtswidrig- oder Rechtmäßigkeit des angegriffenen Exekutivakts nicht festzustellen, die Erfolgsaussichten also offen und daher im Wege einer Interessenabwägung zu entscheiden sei. Da COVID-19 die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit das Leben und die Gesundheit einer Vielzahl an Personen bedroht, überwiegt dann regelmäßig das öffentliche Interesse diejenigen der Antragsstellenden.
„Summarisch“ bedeutet nach dem Duden „mehreres gerafft zusammenfassend [und dabei wichtige Einzelheiten außer Acht lassend]“. Effektiver Rechtsschutz kann aber kaum gewährt werden, wenn das erkennende Gericht schon von vornherein vorhat, die Rechtslage nicht vollumfänglich zu prüfen bzw. dabei wichtige Einzelheiten außer Acht zu lassen.
Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Eilrechtsschutz
Die um sich greifende Praxis der Verwaltungsgerichte, die Rechtslage im Rahmen der Anträge nach § 80 V VwGO nicht vollumfänglich zu prüfen, stößt hinsichtlich Art. 19 IV GG auf Bedenken. Erstaunlicherweise ist das BVerfG indes – anders als die Korrigierenden im ersten und zweiten Staatsexamen – recht großzügig. Das Gericht geht davon aus, dass eine Entscheidung im fachgerichtlichen einstweiligen Rechtsschutz sowohl auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache als auch auf eine Folgenabwägung gestützt werden kann [vgl. bspw. BVerfG, Rn. 64].
Intensität des Grundrechtseingriffs als Maßstab für die rechtliche Prüfung
Je tiefer aber ein Grundrechtseingriff sei, desto umfassender müsse auch die rechtliche Prüfung erfolgen. Das erkennende Gericht soll sich dabei „schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen“ [BVerfG, Rn. 3]. Dies gilt umso mehr, je unabänderlicher die angegriffenen Maßnahmen Grundrechte beschneiden. Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage dient der gerichtlichen Rechtmäßigkeitsprüfung behördlicher Maßnahmen, die andernfalls irreversible Tatsachen schaffen [siehe BVerfG, Rn. 18]. Im Eilverfahren muss das Gericht hier regelmäßig faktisch die Hauptsache vorwegnehmen.
Dies wird insbesondere mit Blick auf Versammlungsverbote [aktuell hierzu OVG Thüringen; VG Hannover] deutlich: durch die (Nicht)-Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage bzw. eines Widerspruchs werden vollendete Tatsachen geschaffen; die Versammlung kann oder kann nicht zum geplanten Termin stattfinden. Das „verwaltungsgerichtliche Eilverfahren [muss] angesichts der Zeitgebundenheit von Versammlungen zum Teil Schutzfunktionen übernehmen, die sonst das Hauptsacheverfahren erfüllt“ [BVerfG, Rn. 18 m.w.N.]. Effektiver Rechtsschutz erfordert in diesen Fällen daher eine umfassende Rechts- und gegebenenfalls auch Sachverhaltsprüfung [vgl. Hoppe, in: Eyermann, § 80, Rn. 104 m.w.N].
Im Beschluss des VG Hannover wird stattdessen recht simpel festgehalten, dass in der Kürze der Zeit nicht feststellbar sei, ob das Versammlungsverbot aufgrund einer Allgemeinverfügung ergehen konnte und ob es andere, mildere Mittel zur Erreichung des legitimen Zwecks gegeben hätte. Da eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Sache ausscheide, steigt das VG recht übereilt in eine reine Folgenabwägung ein, bei der weniger rechtliche Wertungen den Ausschlag geben, als vielmehr alltagstheoretische Erwägungen (kritisch auch Harker/Deya/Söker/Brandt, VerfBlog).
Unsicherheit auf Tatsachenebene als Argument für eine nicht vollumfängliche Rechtsprüfung?
Das VG Hamburg sah sich ebenfalls nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit der Schließung von Einzelhandelsgeschäften summarisch rechtlich zu prüfen. Insbesondere im Hinblick auf die Verletzung des Gleichheitssatzes fehle es noch an weiteren Erkenntnissen auf Tatsachenebene, um eine rechtliche Bewertung vorzunehmen. Zwar überzeugt, dass zum jetzigen Zeitpunkt (noch) keine Aussagen zur Ausbreitung und weiteren Auswirkungen des Coronavirus getroffen werden können. Da gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen regelmäßig aus ex ante-Perspektive getroffen werden müssen, kommt es bei ihrer gerichtlichen Überprüfung aber auf die Risikoprognose zu diesem Zeitpunkt an. Sofern dem erkennenden Gericht alle Informationen, die die Behörde in ihrer Entscheidung geleitet haben, vorliegen, steht einer umfassenden rechtlichen Überprüfung der streitigen Maßnahme nichts im Wege.
Anderes kann sich freilich ergeben, wenn das Gericht nicht über die entsprechenden Informationen verfügt und vor einer Entscheidung rein tatsächlich nicht mehr einholen kann. Auch in diesen Fällen muss aber berücksichtigt werden, dass die Beschwer der Rechtsschutzsuchenden umso stärker ist, je mehr das Eilverfahren an die Stelle des Hauptsacheverfahrens tritt. Ist dies der Fall, kann sogar eine Pflicht für das Gericht bestehen, eine vollumfängliche Sachverhaltsermittlung durchzuführen [vgl. Hoppe, in: Eyermann, § 80, Rn. 104 m.w.N.].
Ausnahmen sind allenfalls bei hochkomplexen Verfahren denkbar – wie etwa im Umwelt- und Planungsrecht –, die es den Richterinnen und Richtern faktisch wegen unübersehbarer Aktenberge unmöglich machen, die Rechtslage zu überblicken [siehe bspw. BVerfG, Rn. 7 f.]. So liegt der Fall bei den Corona-Maßnahmen aber nicht. Die Allgemein- und Einzelverfügungen beschneiden die Grundrechte der Bürger enorm, ohne dass die zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren besonders komplex wären.
Schnelles Verfahren – aber nicht zulasten des Rechtschutzes
Die nur summarische Prüfung der Rechtslage führt im Ergebnis zwar zu einer schnelleren Prüfung durch das Gericht und trägt so der Eilbedürftigkeit des Verfahrens Rechnung. Es kommt aber auch zu unvollständigen Entscheidungen, die ganz der Definition des Begriffes „summarisch“ folgend, Mehreres gerafft zusammenfassen und Wichtiges außer Acht lassen. Im Lichte der aktuellen Entwicklungen ist dies besonders wachsam zu beobachten.
Dieser Beitrag ist kein Plädoyer dafür, alle Maßnahmen für rechtswidrig zu erklären. Sie dienen einem legitimen Zweck, der Vorbeugung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und somit einem überragenden wichtigen Rechtsgut, dem Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 GG. Richtigerweise beziehen die Gerichte dies in ihre Erwägungen mit ein [bspw. VG Hamburg, S. 17]. Die derzeit außergewöhnliche Situation darf aber nicht den Justizgewährleistungsanspruch des Art. 19 IV GG aushöhlen. Seitdem das BVerfG nach Ostern ein Versammlungsverbot gekippt hat, werden nun auch die Fachgerichte in ihren Entscheidungen mutiger [siehe hierzu bspw. VG Hannover; VG Hamburg; VG Dresden; z.T. OVG Lüneburg]. Dies ist zu begrüßen. Auch – vielleicht sogar besonders – in Krisenzeiten müssen Akte der Exekutive durch die Judikative vollumfänglich überprüfbar bleiben.
Zitiervorschlag: Alessa Stache, Vorläufiger Rechtsschutz in der (Corona-)Krise, JuWissBlog Nr. 69/2020 v. 01.05.2020, https://www.juwiss.de/69-2020/
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5 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Dieser Beitrag ist leider ziemlich realitätsfern und zeigt – wieder einmal -, dass auch die Wissenschaft bei ihrer Reflexionsarbeit, die – das sei betont – in hohem Maße wichtig ist, die Bedingungen der Praxis mitberücksichtigen sollten.
Soweit die Autorin die Grundsätze der Eilrechtsschutzentscheidungen darlegt, ist dagegen an sich nichts zu erinnern. Sie verkennt aber: Diese Grundlagen gelten für „normale“ Eilverfahren, deren Dauer in der Praxis trotz ihres Eilcharakters mehrere Monate (ein Richtwert sind hier ca. drei Monate) beträgt. Der Grund liegt darin, dass eine „umfassende“ rechtliche Prüfung, wie sie die Autorin auch in „Corona-Eilsachen“ einfordert, erheblichen Aufwand mit sich bringen kann, zumal in der Regel auch nicht ein/e Richter/in alleine entscheidet, sondern die Beschlüsse von drei Berufsrichter/innen verfasst werden, die sich auch erst einmal einigen müssen.
Soweit die Autorin auf die Merksätze des Studiums verweist, dass der Sachverhalt vollständig rechtlich zu prüfen sei, muss daran erinnert werden, dass die Klausuren auch darauf ausgelegt sind, dass eine solche Prüfung innerhalb von fünf Stunden möglich ist. Die Praxis hält sich an diese Zeitvorgabe leider nicht.
In den „Corona-Fällen“ stellen sich viele wichtige, aber auch grundlegende Fragen, die man nicht ohne Weiteres in kurzer Zeit beantworten kann. Hinzu kommt hier eine besonderer zeitlicher Druck, etwa weil Versammlungen in den nächsten Tagen stattfinden sollen oder die jeweilige rechtliche Regelung zeitlich eng befristet ist. Hinzu kommt, dass die Kammern und Senate für Infektionsschutzrecht derzeit mit Eilverfahren „überschüttet“ werden – so sehr, dass die Gerichte teilweise ihre Geschäftsverteilungspläne geändert haben, um effektiven Rechtsschutz noch bieten zu können.
Bevor man also meckert, weil die Gerichte nicht vollständig prüfen würden, und hierin sogleich, freilich ohne Begründung, eine Entscheidungsverweigerungshaltung vermutet, sollte man erst einmal überlegen, wie Entscheidungen zustande kommen und wie viel Zeit solche Prüfungen in der Praxis tatsächlich benötigen. Wenn also ein VG etwa innerhalb eines Tages oder auch nur innerhalb einer Woche eine „Coronamaßnahme“ vollständig (!), in der Regel dann also auch inklusive der Überprüfung der Rechtsgrundlage, deren Rechts- bzw. Verfassungswidrigkeit regelmäßig auch geltend gemacht wird, überprüft haben will, dürften erhebliche Zweifel angebracht sein. Es gibt einen Grund, dass nahezu in allen Eilrechtsschutzverfahren, die in nur wenigen Wochen ergehen, letztlich „nur“ eine Folgenabwägung vorgenommen wird. Es ist nämlich ein Zeichen der Rechtsstaatlichkeit, wenn die Gerichte ihre rechtlichen Prüfungen gewissenhaft und umfassend vornehmen, anstatt vorschnell eine Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit zu attestieren, derer sie sich angesichts der kurzen Zeit in den allermeisten Fällen gar nicht sicher sein können.
Die Autorin sollte daher, bevor sie hier mit einer gewissen Überheblichkeit die Praxis der Verwaltungsgerichte anprangert, erst einmal die Praxis kennen. Das bedeutet zwar nicht, dass die Gerichte sich tatsächlich „einfach so“ auf die Folgenabwägung zurückziehen dürfen. Gerade in den höchst eiligen Verfahren ist eine umfassende rechtliche Prüfung aber nahezu nie möglich. Die Folgenabwägung ist gerade für solche Fälle gedacht. Denn: Eine verlässliche (!) Aussage zur Rechtmäßigkeit von Maßnahmen wie in den „Corona-Fällen“ kann in so kurzer Zeit keiner treffen, erst recht nicht, wenn man nicht alleine entscheidet.
Anstatt dreimonatige Eilverfahren für unproblematisch zu halten (an Sozialgerichten sind es eher drei Wochen, an Zivilgerichten eher wenige Tage) und das geltende Verfassungsrecht an (vermeintlichen) Sachzwängen messen zu wollen – könnten Gerichte vielleicht ihre eingeübten Praxen auch einmal anpassen? Die rasche Änderung eines Geschäftsverteilungsplans im Bedarfsfall sollte z.B. selbstverständlich sein und nicht weiter erwähnenswert. Die Kritikabwehr durch V. Herbolsheimer erinnert insofern etwas an die damaligen „Argumente“ zur Verhinderung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes in der Nacht bzw. an Wochenenden. Da musste ja das Bundesverfassungsgericht die Selbstverständlichkeit erklären, dass die Grundrechte nicht nur zu den üblichen Arbeitszeiten gelten…Eine „Entscheidungsverweigerungshaltung“ könnte man insofern vielleicht schon in der minimalen Bereitschaft zur Veränderung fragwürdiger Routinen sehen.
Getroffene Hunde bellen, Herr Richter Herbolsheimer. Vielleicht das nächste Mal ein bisschen weniger Emotionalität, wenn man Erstlingswerke von wiss. Mitarbeitern/Innen kommentiert, die zudem in der Sache noch völlig zutreffend sind.
Die Wissenschafz hat leider oft das Problem einer gewissen Realitätsferne. Dennoch ist es immer gut, sich an den Überlegungen messen zu lassen. Anders herum darf sich die Wissenschaft – zumindest wenn ein Anspruch auf gewisse Praktikabilität besteht – auch nicht der reinen Tatsache verschließen, dass auch die Gerichte einer Sondersituation gegenüberstehen, deren Ausmaß wohl so der größte Prozentsatz der Weltbevölkerung nicht voraus ahnen hätte können. Von daher habe ich gerne den Aufsatz gelesen, bin aber auch dem Kommentator dankbar für den Einblick!
Guter und differenzierter Beitrag, Glückwünsche zu so einem gelungenen „Erstlingswerk“!