Bestimmtheitsprobleme bei den Corona-Schutzverordnungen der Bundesländer unter besonderer Berücksichtigung der CoronaSchVO NRW
von ANNIKA FISCHER-UEBLER und FELIX THRUN
Nach wie vor sehen alle Bundesländer angesichts der COVID-19-Pandemie weitreichende Beschränkungen für Zusammenkünfte im privaten wie öffentlichen Raum vor. Welche Handlungen jedoch konkret untersagt sind, wird nicht in jedem Bundesland gleichermaßen deutlich. In NRW, aber auch in anderen Ländern erschließt sich die Rechtslage aus dem Verordnungstext kaum und bleibt auch in der öffentlichen Diskussion oft unklar. Das ist nicht nur vor dem Hintergrund der mit den Maßnahmen verbundenen schwerwiegenden Grundrechtseingriffe problematisch, sondern läuft insbesondere auch dem verfolgten Ziel des Infektionsschutzes zuwider.
Maßnahmen mit Augenmaß
Abseits dieser Kritik sollte zunächst erwähnt werden, dass etwa die nordrhein-westfälische Antwort auf die aktuellen Herausforderungen deutlich weniger einschneidend ausfällt, als es etwa in Berlin, Bayern oder dem Saarland der Fall ist. Während NRW für den privaten Raum lediglich das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot kennt, sind private Zusammenkünfte in Berlin grundsätzlich verboten, solange es sich nicht um ein privates Treffen unter Ehegatt*innen bzw. Lebenspartner*innen oder Angehörigen des gleichen Haushalts handelt. In Bayern und im Saarland ist das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.
In NRW sind die Beschränkungen für Zusammenkünfte in den §§ 11 und 12 CoronaSchVO NRW geregelt. Veranstaltungen und Versammlungen sowie Zusammenkünfte und Ansammlungen im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen sind untersagt, sofern kein Ausnahmetatbestand greift. Ähnliche Regelungen haben auch andere Bundesländer erlassen (etwa Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz oder Bremen).
Schwere Grundrechtseingriffe erfordern eine klare Sprache
Wenngleich die Beschränkungen in diesen Ländern milder ausfallen, greifen die bußgeldbewehrten Maßnahmen (vgl. zu dem Problem der Strafbarkeit Pschorr) tief in grundrechtlich geschützte Freiheitsrechte ein, was bereits vielfach ausführlich dargestellt wurde (siehe etwa Lepsius oder Ferreau). Je schwerwiegender die Grundrechtseingriffe aber sind, umso höhere Anforderungen müssen an die Bestimmtheit der zugrundeliegenden Rechtsvorschriften gestellt werden (vgl. auch Fährmann/Arzt/Aden). Die Betroffenen müssen die Rechtslage konkret erkennen und ihr Verhalten daran auszurichten können. Dabei genügt es aus verfassungsrechtlicher Perspektive, wenn sich die Bestimmtheit mit juristischen Auslegungsmethoden herstellen lässt (zum Ganzen BVerfGE 83, 130 [145]). Das Gebot der Bestimmtheit bzw. Normenklarheit ergibt sich dabei aus dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) sowie den Grundrechten (Grefrath JA 2008, 710).
In der aktuellen Situation ist außerdem zu beachten, dass die Maßnahmen schnellstmöglich von allen befolgt werden müssten, um wirksam zu sein. Auch Personen, denen das Verstehen der deutschen Sprache schwerer fällt, müssen ihr Verhalten an der Regelung ausrichten. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit der Regelung beachtenswert.
Die Tatsache, dass die Regelungen in Anbetracht einer Krisensituation und wohl unter hohem Druck erlassen wurden, lässt Unklarheiten verständlich erscheinen. Das entbindet aber nicht von der Notwendigkeit, die Verordnungen laufend kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu präzisieren.
Während der bekannte Versammlungsbegriff auf die Verordnung übertragen werden kann, gibt es für Veranstaltungen keine einheitliche Definition. Nach den FAQ der Landesregierung NRW zeichnen sich Veranstaltungen durch eine gewisse Struktur und Organisation aus und haben typischerweise eine Leitung. Das lässt Raum, auch Treffen ohne feste Organisationsstruktur unter den Veranstaltungsbegriff zu subsumieren. Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen insbesondere zu den „weniger strukturierten“ Zusammenkünften und Ansammlungen. Wann die erforderliche Organisationsstruktur erreicht ist, bleibt in hohem Maße ungewiss. Wäre eine Geburtstagsparty mit 20 Gästen noch eine Feier in „gewöhnlichem Umfang“ und damit nach den FAQ noch eine erlaubte Zusammenkunft oder bereits eine bußgeldbewehrte Veranstaltung?
Ein anderes Beispiel für mangelnde Bestimmtheit in Corona-Schutzverordnungen ist der Begriff des „Picknickens“, das etwa nach § 12 Abs. 3 CoronaSchVO NRW oder § 4 Abs. 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO untersagt ist. Laut Duden ist unter einem Picknick der Verzehr mitgebrachter Speisen in der Öffentlichkeit zu verstehen. Andererseits ist in NRW, wie (wohl) auch in Hamburg, der Verzehr von Speisen in der Öffentlichkeit nicht grundsätzlich untersagt. Denn § 9 Abs. 2 S. 3 CoronaSchVO NRW bestimmt, dass der Verzehr von außer Haus verkauften Speisen in den gastronomischen Einrichtungen sowie im Umkreis von 50 m untersagt ist. Bei Verstoß droht Kund*innen ein Bußgeld von 200 €. Daraus könnte man im Umkehrschluss folgern, dass erworbene Speisen ansonsten verzehrt werden dürfen. Wo nun die Grenze zu ziehen ist zwischen dem noch zulässigen Verzehr auswärts erworbener Lebensmittel und dem unzulässigen Picknick, bleibt offen. Denn unabhängig davon, ob man sich für die Mittagspause auf der Parkbank eine Pizza vom Restaurant oder ein Brötchen von zu Hause mitbringt – in beiden Fällen handelt es sich um den Verzehr mitgebrachter Speisen in der Öffentlichkeit.
Die juristische Auslegung dürfte hier an ihre Grenzen geraten. Erst recht können Betroffene ihr Verhalten nicht mehr an der Verordnung ausrichten.
Verwirrende Ausnahmebestimmungen
Die Unbestimmtheit der Verordnungen ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich. Auch das Ziel – der Infektionsschutz – könnte durch die mangelnde Klarheit beeinträchtigt werden. Denn selbst wenn die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit noch eingehalten sein mögen, hängt die tatsächliche Wirksamkeit der Maßnahmen davon ab, ob die Bevölkerung sie ausreichend verstehen und unmittelbar umsetzen kann.
Für Verwirrung könnten etwa die in § 12 Abs. 1 S. 2 CoronaSchVO NRW vorgesehenen Ausnahmen von den Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum sorgen, die unter anderem für Verwandte in gerader Linie, Geschwister, Ehegatt*innen, Lebenspartner*innen (Nr. 1) oder in häuslicher Gemeinschaft lebende Personen (Nr. 2) gelten. Diese Ausnahmetatbestände eröffnen nach ihrem Wortlaut – wohl unbeabsichtigt – mehrere Deutungsmöglichkeiten.
Offen bleibt nämlich, ob die gesamte Gruppe denselben oder ob jede Einzelperson lediglich einen der Ausnahmetatbestände erfüllen muss. Dies wird auch weder durch die FAQ noch durch den Bußgeldkatalog klar. Das Problem lässt sich an folgendem Fallbeispiel verdeutlichen: Dürfen sich zwei Schwestern in der Öffentlichkeit mit ihrem Vater treffen? Müsste der gleiche Ausnahmetatbestand für die gesamte Gruppe greifen, wäre diese Zusammenkunft untersagt. Treffen müssten sich dann jeweils beschränken auf etwa drei (oder mehr) Geschwister, ein Ehepaar oder Mutter und Tochter.
Diese Auslegung ist jedoch im Ergebnis kaum haltbar. Zwar lässt sie sich mit dem Wortlaut vereinbaren, jedoch ergibt in dieser Lesart die Erwähnung der Ehegatt*innen keinerlei Sinn. Möchte man nicht unterstellen, dass hier subtil die Mehrehe befürwortet werden soll, umfasst ein Ehepaar nur zwei Personen. Da die Kontaktbeschränkung aber erst greift, sobald sich mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum treffen, ergäbe sich für diese Ausnahme kein Anwendungsbereich. Da Normen aber grundsätzlich so auszulegen sind, dass sie einen Anwendungsbereich besitzen, scheidet diese Interpretation aus.
Es verbleiben andere Interpretationen, bei denen aber teilweise erheblich größere Gruppen möglich wären. Denkbar ist, dass jede Person gegenüber jeder anderen in der Gruppe mindestens einen Ausnahmetatbestand erfüllen muss (wie bei den Schwestern und dem Vater). So könnten sich die meisten Familien noch in kleinerem Kreis treffen, größere Zusammenkünfte würden aber verhindert, weil keine Ausnahme für eine Verwandtschaft in der Seitenlinie über Geschwister hinaus vorgesehen ist. Allerdings wären nach dieser Lesart auch Treffen von „Patchwork-Familien“ oder ähnlichen Konstellationen, soweit nicht in einem Haushalt lebend, verboten. Neben der zweifelhaften Bestimmtheit würde sich hier auch die Frage stellen, ob eine Diskriminierung dieser Familien wirklich aus infektionsschutzrechtlicher Sicht erforderlich ist.
Ließe man jedoch – weiterhin im Einklang mit dem Wortlaut – genügen, wenn jede Person der Gruppe nur irgendeine Ausnahme erfüllt (sodass etwa Patchwork-Familien sich treffen könnten), wären absurd große Zusammenkünfte möglich. Zu einem Ehepaar könnten sich dann die Schwester der Ehefrau mit ihrem Gatten und den drei verheirateten Kindern mitsamt Gatt*innen und weiterer Kinder gesellen. Dazu könnten die Schwester des Ehemannes, begleitet von ihrer Mitbewohnerin und ihrer Mutter kommen. Diese Gruppe von mindestens 15 Personen ließe sich noch beliebig erweitern.
Eine solche extensive Auslegung dürfte zwar mit Blick auf den Willen des Verordnungsgebers schwer vertretbar sein. Allerdings erlaubt nur diese etwa das Treffen besagter Patchwork-Familien. Außerdem müsste gerade wegen der im Raum stehenden Sanktionen grundsätzlich die für die Betroffenen günstigste Auslegungsmöglichkeit zu Grunde gelegt werden. Daher sprechen auch gute Argumente für diese extensive Lesart. Mit dem Ziel des Infektionsschutzes wäre das aber wohl nur dann vereinbar, wenn eine Personenhöchstzahl (wie etwa in Schleswig-Holstein) vorgesehen wäre.
Ausnahmebestimmungen sind erforderlich, um einen angemessenen Ausgleich zwischen Infektionsschutz und Freiheitsschutz herzustellen. Der aktuelle Wortlaut erlaubt aber auch Auslegungen, die zu sehr in die eine oder andere Richtung ausschlagen. Hier sollte der Verordnungsgeber durch eine Korrektur des Wortlauts und ggf. die Einführung einer Personenhöchstzahl Klarheit schaffen.
Die aufgezeigte Problematik mag ein NRW-Spezifikum sein, aber auch in den Corona-Schutzverordnungen der anderen Länder ergeben sich Unklarheiten. So ist nach § 2 Abs. 3 S. 1 der Saarländischen Verordnung das Verlassen der Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt, allerdings nach Maßgabe des Abs. 1, wonach der Aufenthalt im öffentlichen Raum auch im Kreis der Haushaltsangehörigen und mit einer weiteren Person gestattet ist. Demnach darf man in der Öffentlichkeit seine zwei Mitbewohnerinnen und einen Freund treffen, zu diesem Zweck die Wohnung aber nicht verlassen haben. Auch in Bayern scheint es Unklarheiten bei Sonderfällen zu geben. So sah sich die Polizei Mittelfranken etwa zu einer Klarstellung hinsichtlich „lange verschollener Verwandter“ veranlasst.
Fazit
Im Bereich der Kontaktbeschränkungen sowie der Versammlungs- bzw. Veranstaltungsverbote bestehen erhebliche Unsicherheiten, die durch Klarstellungen im Wortlaut beseitigt werden sollten. Hier wäre etwa an eine Personenhöchstgrenze zu denken. Im Hinblick auf die Verbotstatbestände wären Begriffsbestimmungen in der Verordnung wünschenswert, insbesondere bezüglich solcher Bezeichnungen, die andernorts noch keine hinreichende rechtliche Ausgestaltung erfahren haben. Mehr als sonst ist in Zeiten der Verunsicherung eine klare, einfache und verständliche Sprache im Recht notwendig. Auch über erlaubte physische Kontakte ist jedoch mit den Worten der Polizei Mittelfranken zu sagen: „Rechtlich dürfen Sie es, ob dies auch richtig ist müssen Sie selbst entscheiden.“
Zitiervorschlag: Annika Fischer-Uebler/Felix Thrun, Wer versteht die Kontaktbeschränkungen? – Bestimmtheitsprobleme bei den Corona-Schutzverordnungen der Bundesländer unter besonderer Berücksichtigung der CoronaSchVO NRW, JuWissBlog Nr. 68/2020 v. 30.04.2020, https://www.juwiss.de/68-2020/.
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