von LUCA MANNS
Die jüngsten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) haben lautstarken Protest der Bundesländer ausgelöst – die Rede ist von groben Fehleinschätzungen und schlechterdings untauglichen Regelungen. Auch wenn diese Kritik wohl zu weit geht, sind erhebliche Mängel nicht von der Hand zu weisen, wie ein Blick auf § 28a IfSG belegt.
Nach einer kontroversen Debatte sowie zahlreichen kritischen Stellungnahmen in der Ausschussanhörung hat der Bundestag am 18. März 2022 den Gesetzentwurf zur Änderung des IfSG (BT-Drs. 20/958) beschlossen. Damit verhinderte die „Ampel“-Koalition das einen Tag später drohende Auslaufen aller Corona-Schutzmaßnahmen. Durch das Gesetz wurde insbesondere § 28a IfSG geändert – der von der infektionsschutzrechtlichen Generalklausel (§ 28 IfSG) ausgehend spezielle Regelungen für den Umgang mit der gegenwärtigen Pandemie statuiert.
Vormals weitreichende Kompetenztitel
28a war im November 2020 noch durch die Große Koalition in das IfSG eingefügt worden, um sehr grundrechtsinvasive Beschränkungen wie die damals geltenden Ausgangsbeschränkungen und flächendeckenden Geschäftsschließungen vorhersehbarer zu machen und parlamentsgesetzlich zu steuern. Die Anwendbarkeit der in § 28a IfSG genannten Instrumente beruhte vielfach auf der vom Bundestag festzustellenden „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 IfSG), die jeweils für drei Monate galt. Die materiellen Hürden fielen niedrig aus – so genügte z.B. die „dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit“ in mehreren Bundesländern. Nachdem die „Ampel“-Koalition im November 2021 aus politischen Gründen davon absah, einen verlängernden Beschluss zu fassen, war nach überwiegender Ansicht ein Rückgriff auf die meisten Regelungen des § 28a IfSG zunächst gesperrt.
Allerdings wurden zugleich neue Bestimmungen implementiert. Weiterhin unmittelbar geltenden Regelungen (insbesondere zum Arbeitsschutz) wurde eine Öffnungsklausel an die Seite gestellt. Die Anwendbarkeit der in § 28a Abs. 1-6 IfSG definierten Instrumente konnte nunmehr auch auf Länderebene festgestellt werden. Die Voraussetzungen waren ähnlich gering wie bei der „nationalen Tragweite“, denn erforderlich war lediglich eine „epidemische Ausbreitung“ des Corona-Virus im betroffenen Bundesland. Dadurch konnten die meisten der bis dahin angewandten Instrumente reaktiviert werden, wobei die Verhängung besonders grundrechtsinvasiver Maßnahmen, z.B. von Ausgangsbeschränkungen, nicht mehr möglich war. Das seit dem 19. März 2022 geltende IfSG sieht ein solches Verfahren indes nicht länger vor.
Magerer „Basisschutz“
Grundsätzlich sollen nunmehr bloß wenige, in § 28a Abs. 7 IfSG geregelte „Basismaßnahmen“ zulässig sein. Angeordnet werden können Maskenpflichten in medizinischen Einrichtungen, Alten- und Pflegeheimen, Sammelunterkünften sowie dem öffentlichen Personenverkehr. Dazu treten Testbestimmungen in diesen Bereichen und den Schulen. Maskenpflichten entfallen fast überall, etwa im Handel, in der Gastronomie, in öffentlichen Einrichtungen und nicht zuletzt an den (allermeisten) Arbeitsplätzen. Auch Kontrollen des „G“-Status stehen nicht länger an, sodass unschwer von einem Paradigmenwechsel in der Pandemiebekämpfung gesprochen werden kann.
Diese – wohl auf den Einfluss der FDP zurückgehende Liberalisierung – kommt zu einer Zeit, in der täglich neue absolute Höchstzahlen an Neuinfektionen erreicht werden. Sie wird vor dem Hintergrund aus (rein) medizinischer Sicht nicht zu Unrecht als vorschnell kritisiert. In rechtlicher Hinsicht sind die „Basismaßnahmen“ indes eher unspektakulär. Insbesondere ist, der breit verfügbaren Corona-Impfungen, einer mittlerweile respektablen Impfquote und der wohl milderen Verläufe der Omikron-Variante wegen, eine von manchen Beobachterinnen und Beobachtern angesprochene Verletzung des Untermaßverbots wenig wahrscheinlich. Vielmehr nimmt der Gesetzgeber seine weite Einschätzungsprärogative wahr, die ihm vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auch für Handlungen in der Corona-Pandemie attestiert wurde („Bundesnotbremse I“).
Bundesländer als „Hot-Spots“?
Hinzu kommt eine neue Eskalationsstufe – die in § 28a Abs. IfSG normierte sog. „Hot-Spot-Regel“. Sie tritt an die Stelle der bisherigen Länderöffnungsklausel und ist ihr dennoch nur vordergründig ähnlich. Zwar sieht sie ebenfalls vor, dass die Landtage einige weitere, vormals geltende Beschränkungen in eigener Zuständigkeit wieder einführen können. Dabei haben die Landesparlamente zunächst die rechtlichen Voraussetzungen festzustellen und sodann konkrete Maßnahmen aus dem Katalog des § 28a Abs. 8 IfSG auszuwählen. Möglich würden zusätzliche Maskenpflichten, Abstandsgebote, „G“-Erfordernisse und Hygieneauflagen – also die Anwendung ähnlicher Instrumente, wie sie den Ländern bei Feststellung der Gefahr einer epidemischen Ausbreitung des Corona-Virus in ihrem Gebiet bislang an die Hand gegeben waren.
Fraglich war jedoch bereits, ob § 28a Abs. 8 IfSG überhaupt auf das Gesamtgebiet der Länder anwendbar ist. Anlass gab der im Gesetzgebungsverfahren geprägte Begriff der „Hot-Spots“, welcher bislang stets nur auf einzelne Städte und Kreise bezogen wurde. Die Bezeichnung ist jedoch im geänderten IfSG letztlich nicht aufgegriffen worden, obgleich sie in der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung (und daher auch in diesem Beitrag) weiterhin Verwendung findet. Stattdessen spricht das IfSG von „konkret zu benennenden Gebietskörperschaften“, worunter das Verwaltungsrecht neben den Kommunen seit jeher auch die Länder versteht. Demzufolge wirken Appelle, die von (nicht der FDP angehörenden) Mitgliedern der Bundesregierung gegenüber den Ländern erhoben wurden, bei oberflächlicher Betrachtung keineswegs fernliegend. Gefordert wird, dass Letztgenannte für ihr gesamtes Landesgebiet die Geltung der „Hot-Spot-Regel“ beschließen und so auch ohne Zutun des Bundes ein geeignetes Schutzniveau sicherstellen.
Hohe Hürden für § 28a Abs. 8 IfSG
Eine solche Vorgehensweise würde jedoch die durch den Bundestag selbst aufgestellten (zu?) hohen rechtlichen Hürden vernachlässigen. Denn erforderlich für einen Landtagsbeschluss nach § 28a Abs. 8 IfSG ist eine „konkrete Gefahr“, die sich in zwei Ausprägungen darstellen kann: entweder in der Ausbreitung einer Virusvariante mit „signifikant höherer Pathogenität“ oder der „drohenden Überlastung der Krankenhauskapazitäten“.
Ein nüchterner Blick auf die aktuelle Entwicklung offenbart, dass deutlich gefährlichere Virusvarianten nicht auf dem Vormarsch zu sein scheinen. Faktisch wird also nur dort, wo sich eine akut bevorstehende Krankenhausüberlastung belegen lässt, die „Hot-Spot-Regel“ angeordnet werden können. Weil das Vorliegen der „konkreten Gefahr“ im Hinblick auf die in Bezug genommene Gebietskörperschaft zu prüfen ist, reichen kritische Situationen in einzelnen Krankenhäusern keinesfalls aus, um handstreichartig ganze Länder zu „Hot-Spots“ zu erklären. In solchen Fällen regionaler Überlastungen könnte die Anwendbarkeit von § 28a Abs. 8 IfSG mit anderen Worten auch nur regional für die betroffenen Städte und Gemeinden festgestellt werden.
Umsetzung fällt in meisten Bundesländern aus
Jedenfalls für die kommenden Sommermonate mit erfahrungsgemäß besserer Beherrschbarkeit der Pandemie ist eine nachweisbare drohende Überlastung der Krankenhauskapazitäten in allen Städten und Kreisen eines Bundeslandes äußerst unwahrscheinlich – denn erst dann könnte nicht nur regional, sondern landesweit die Geltung von § 28a Abs. 8 IfSG festgestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist mehr als verständlich, warum in fast allen Landeshauptstädten keine Bereitschaft zu erkennen ist, voraussichtlich rechtswidrige Beschlüsse zu fassen, nur um durch politische Uneinigkeiten der Berliner „Ampel“-Koalition entstandene Probleme zu lösen. Die Richtigkeit dieser Position beweist ausgerechnet das Land, das von dieser Linie als erstes abgewichen ist und pauschal die Geltung von § 28a Abs. 8 IfSG erklärt hat: Mecklenburg-Vorpommern.
Der (einschließlich Begründung) dreiseitige Landtagsbeschluss skizziert unter Nennung einiger, wie überall sehr hoher Inzidenzzahlen – die als solche für § 28a Abs. 8 IfSG freilich irrelevant sind – eine angebliche hohe Auslastung nicht näher spezifizierter Gesundheitseinrichtungen. Daraus soll sich die „drohende Überlastung der Krankenhauskapazitäten“ ergeben. Diese gelte, so die gleichsam lapidare Aussage, auch „für alle Landkreise und kreisfreien Städte“. Geradezu lakonisch stellt der Beschluss in einem kurz gehaltenen Absatz darüber hinaus fest, dass eine „signifikant pathogene Variante“ des Corona-Virus in Mecklenburg-Vorpommern auf dem Vormarsch sei und damit auch das andere Einfallstor für § 28a Abs. 8 IfSG erfüllt werde. Wer angesichts dieser Schilderung an eine Rückkehr von „Delta“ oder gar an das Auftreten neuer Virusvarianten denkt, bleibt mit Staunen zurück. Herhalten soll, ohne weitere Erläuterung, ernstlich die überall grassierende Omikron-Variante BA.2 – was auch in Ansehung aller Unklarheiten darüber, woran die „signifikant höhere Pathogenität“ zu messen sein soll, nicht überzeugen kann.
Infektionsschutz nicht gewollt?
Dass die geringe Begründungsqualität und -quantität angesichts der strengen Maßgaben des IfSG sowie der sehr hohen Grundrechtsintensität erweiterter Schutzmaßnahmen völlig unzureichend ist, bedarf kaum der weiteren Erörterung. Der Schweriner Beschluss steht juristisch auf tönernen Füßen und wird hoffentlich schnell außer Vollzug gesetzt. Die Bemühungen Mecklenburg-Vorpommerns verdeutlichen aber zugleich das Dilemma, in dem die (Flächen-)Bundesländer insgesamt stecken: Sie finden aktuell keine belastbaren Argumente, um die hohen Hürden des § 28a Abs. 8 IfSG zu überwinden. Zugleich sorgen die in der Bundesregierung in Sachen Fortgeltung strengerer Schutzmaßnahmen unterlegenen Teile für eine öffentliche Stimmung, die den Ländern Unwillig- oder jedenfalls Unfähigkeit zuschreibt.
Wer genauer hinschaut, wird jedoch kaum von der Hand weisen können, dass die Verantwortung für die Untätigkeit der Länder bei der „Ampel“-Koalition selbst zu suchen ist. Will sie aus politischen Gründen auf weitgehende Schutzmaßnahmen verzichten, wie es die FDP forciert, sollte sie Farbe bekennen. Geht es der Bundesregierung dagegen allein darum, die Entscheidung zur Wiedereinführung strenger Corona-Schutzmaßnahmen auf die Länder abzuwälzen, so muss diesen auch das entsprechende Rüstzeug an die Hand gegeben werden. Fest steht: Das Infektionsschutzrecht ist auf Abwege geraten.
Zitiervorschlag: Luca Manns, Infektionsschutz auf Abwegen, JuWissBlog Nr. 17/2022 v. 5.4.2022, https://www.juwiss.de/17-2022/
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„Diese – wohl auf den Einfluss der FDP zurückgehende Liberalisierung – kommt zu einer Zeit, in der täglich neue absolute Höchstzahlen an Neuinfektionen erreicht werden. Sie wird vor dem Hintergrund aus (rein) medizinischer Sicht nicht zu Unrecht als vorschnell kritisiert.“
Hier möchte ich doch einmal einhaken, da mir das Argument nicht sehr einleuchtend erscheint. Man hat schon im Herbst mit Aufkommen der Omikron-Variante festgestellt, dass hohe Inzidenzzahlen für sich allein stehend nicht mehr für schwerwiegende Grundrechtseingriffe tragfähig sind, sondern künftig die Auslastung des Gesundheitssystems das maßgebliche Kriterium sein muss. Das war auch richtig – denn allein der Umstand, dass Menschen irgendwie erkranken, begründet noch lange kein Gebot des Staates, dagegen auch einzugreifen.
Die Rechtfertigung für eine staatliche Intervention entsteht erst dann, wenn durch die Krankheit und deren Verbreitung zu schützende Grundrechte nicht nur unwesentlich beeinträchtigt werden, also etwa ernsthafte Gesundheitsgefahren eintreten oder gar das Leben von einer großen Zahl von Betroffenen durch die Weiterverbreitung bedroht ist – oder eben dem Gesundheitssystem eine Überlastung droht. Die Situation war zu Beginn der Pandemie eine andere als noch bei Omikron, weshalb es tunlichst vermieden werden sollte, hier allein auf Inzidenzen zu blicken (und was auch meines Erachtens der Denkfehler vieler Mediziner aus dem „Team Vorsicht“ ist).
Die tatsächliche Corona-Sterblichkeit befindet sich in einem Rahmen, den wir bislang als Gesellschaft bei anderen selbst- und fremdbestimmten Gesundheitsgefährdungen (Straßenverkehr, Grippe, Tabakkonsum (passiv und aktiv), Alkoholmissbrauch, Fettleibigkeit, Diabetes, um nur einige zu nennen) stets und konsequent in Kauf genommen und die uns nicht zu derart tiefgreifenden Schutzmaßnahmen und umfassenden Verboten veranlasst haben.
Daher bin ich mit dem reinen Blick auf Inzidenzen als Rechtfertigung für Maßnahmen überhaupt nicht d’accord, es ist ein jedenfalls in Bezug auf die Omikron-Variante untaugliches Beurteilungskriterium.
Lieber Jendrik Wüstenberg,
herzlichen Dank für den Kommentar. Ich glaube, wir sind auch gar nicht so weit auseinander – schließlich schreibe ich in dem in Bezug genommenen Absatz, der sich mit Einschätzungsprärogative und Untermaßverbot beschäftigt, selbst von den „breit verfügbaren Corona-Impfungen, einer mittlerweile respektablen Impfquote und den wohl milderen Verläufe der Omikron-Variante“.
Warum billige ich in jener Kritik, die sich an „täglich neuen absoluten Höchstzahlen an Neuinfektionen“ aufhängt, dennoch eine gewisse Nachvollziehbarkeit zu? Die Antwort lautet: Long Covid. Nach dem aktuellen Debattenstand scheint mindestens unklar zu sein, ob sich der regelmäßig milde Verlauf bei Omikron-Infektion auch dahingehend auswirkt, dass keine langfristigen Schäden auftreten. Ein z.B. gestern im DLF gelaufener Kommentar (hier nachzulesen: deutschlandfunk.de/kommentar-aufhebung-isolationspflicht-bei-coronainfektion-lauterbach-100.html) beschreibt deutlich: „Auch Geimpfte können an Long Covid erkranken.“
Vor diesem Hintergrund halte ich meine Aussage, dass Kritik an Lockerungen „aus (rein) medizinischer Sicht nicht zu Unrecht“ erhoben wird, für in der Sache zutreffend. Damit ist ja noch nichts zu den Rechtsfolgen gesagt, bei denen zwischen uns kein Dissens liegen dürfte.
Herzliche Grüße
Luca Manns