Wellensittich in der Sicherungsverwahrung? Zugleich eine Anmerkung zu LG Regensburg, Beschluss vom 15.2.2022

  von LORENZ BODE

Das Thema „Tierhaltung im Gefängnis“ wird von Anstaltsseite bislang standardmäßig restriktiv behandelt. In dieser Hinsicht stärkt ein aktueller Beschluss des LG Regensburg nun auf wohltuende Weise die Rechte von Inhaftierten. Was bedeutet das? Und warum spielen die Grundrechte hierbei eine wichtige Rolle?

Schwierigkeiten der Vollzugskontrolle vor Gericht

Vollzugsrecht findet praktisch statt. Das bedeutet: Vollzugliche Sachverhalte sind lebensnah und facettenreich. Besonders charakteristisch ist jedoch die Unübersichtlichkeit, von der vollzugliche Sachverhalte – bedingt durch die beteiligten Akteure – nicht selten geprägt sind. Damit müssen die Gerichte umgehen. Sie müssen dabei insbesondere die „Definitionsmacht“ der Anstalt (Johannes Feest) in Bezug auf den Sachverhalt bedenken. Gleichzeitig müssen sie die Grundrechte im Auge behalten. Denn deren Wirkung reicht über Art. 1 Abs. 3 GG, der alle staatliche Gewalt an ihre Garantien bindet, auch hinter die dicksten Gefängnismauern. Und sie müssen sicherstellen, dass ihre Entscheidungen praktisch umgesetzt werden. Dass vollzugliche Entscheidungen diesen Herausforderungen immer vollständig gerecht werden, ist keineswegs selbstverständlich, was sich schon an der zunehmenden Kontrolldichte durch das BVerfG zeigt.

Tierhaltung im Gefängnis: Widerstreitende Interessen

Konkret geht es in dem zu besprechenden Beschluss um die Haltung eines Wellensittichs in der Sicherungsverwahrung (LG Regensburg, Beschl. v. 15.2.2022, SR StVK 654/19). Den Antrag gestellt hatte ein 72-jähriger Inhaftierter, der das Tier in seinem knapp 15 Quadratmeter großen Zimmer halten wollte. Betrachtet man das Verfahren zunächst auf grundsätzlicher Ebene, dann muss man sagen: Das Thema „Tierhaltung im Gefängnis“ ist nicht neu. Es existieren sogar bereits Studien, etwa die des Kriminologen Hans-Dieter Schwind, der sich unter dem Titel „Tiere im Strafvollzug“ mit tiergestützten Therapiemaßnahmen in ausgewählten Jugendstrafanstalten befasst und den besonderen Wert von Tieren als therapeutischen Begleitern aufgezeigt hat. Auch Nicole Wolf hat in ihrer 2014 erschienenen Arbeit „Rückfallprävention durch den Umgang mit Tieren im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland“ dargelegt, „welchen Nutzen die Integration von Tieren im Justizvollzug für die Rückfallprävention bietet“. Bei den meisten Anstalten ist das Thema dennoch unbeliebt. Dies gilt umso mehr, wenn es darum geht, die individuelle Tierhaltung zur Freizeitbeschäftigung zu gestatten. Denn diese Form der Tierhaltung ist in besonderem Maße dazu geeignet, den Arbeitsaufwand der Bediensteten zu erhöhen – gerade wegen der notwendigen Hygienekontrollen. Eine gewisse Renitenz auf Anstaltsseite erscheint daher zwar verständlich. Im Ergebnis darf diese Haltung jedoch nicht dazu führen, dass gesetzliche Ansprüche der Inhaftierten in unzulässiger Weise verkürzt werden oder der potenzielle Nutzen einer Tierhaltung hinter Gittern gänzlich ignoriert wird.

Ein positives Signal: Ermessensreduzierung und Grundrechtsabwägung

Die Kammer des LG Regensburg sendet nun ein positives Signal in den Vollzugsalltag, indem sie die Anstalt dazu verpflichtet, dem Antragsteller die Haltung eines auf Krankheiten getesteten Wellensittichs sowie den Besitz des dafür notwendigen Käfigs nebst Ausstattung zu gestatten. Bemerkenswert ist vor allem die Herleitung dieser Gestattungspflicht. Denn das Gericht geht insofern von einem direkten Anspruch des Inhaftierten wegen einer Ermessensreduzierung auf null aus und trifft deshalb eine eigene Sachentscheidung (Rn. 14). Das ist interessant und bedarf einer näheren rechtsdogmatischen Betrachtung: Ausgangspunkt der gerichtlichen Überlegungen ist Art. 17 BaySvVollzG, der es den Sicherungsverwahrten in Abs. 1 gestattet („dürfen“), ihr Zimmer in angemessenem Umfang mit Gegenständen auszustatten. Zu diesen Gegenständen zählen auch Tiere, wie die Kammer unter Verweis auf die obergerichtliche Rechtsprechung sowie den Gesetzeswortlaut klarstellt (Rn. 15). Sodann nimmt die Kammer Art. 17 Abs. 2 BaySvVollzG in den Blick, der verschiedene Versagungsgründe aufzählt. Zwar wird Art. 17 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BaySvVollzG in diesem Fall als einschlägig betrachtet mit der Folge, dass die Haltung eines Wellensittichs als Sicherheitsgefährdung im Vollzug gilt. Die Kammer stellt jedoch klar, dass „nach dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 BaySvVollzG auch bei Vorliegen eines Versagungsgrundes die Genehmigung oder Versagung einer Sache im Ermessen der Vollzugsbehörde“ steht (Rn. 18). Insoweit habe der Inhaftierte jedenfalls einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Was dann folgt, ist eine Ermessenskontrolle nach Maßgabe von § 115 Abs. 5 StVollzG. Die Kammer ist dabei nicht nur der Ansicht, dass der ablehnende Bescheid der Anstalt aufzuheben ist, sondern sie prüft im Anschluss auch, ob eine Abwägung grundrechtlich geschützter Interessen sogar dazu führt, dass die Anstalt, da alles andere ermessensfehlerhaft wäre, nur eine rechtmäßige Entscheidung treffen kann, mithin ob eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt. Ein solches Vorgehen ist nur konsequent. Schließlich heißt es in § 115 Abs. 5 StVollzG, dass das Gericht auch prüft, „ob die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind“. Gesetzliche Grenzen bilden auch die Grundrechte, weshalb immer auch zu prüfen ist, ob die Anstalt in unzulässiger beziehungsweise unverhältnismäßiger Weise in die Grundrechte des Inhaftierten eingegriffen hat und ob ein solcher Eingriff zu vermeiden gewesen wäre. Bleibt dabei nur eine Entscheidung übrig, die einen angemessenen Interessenausgleich sicherstellt und eine rechtswidrige Entscheidung verhindert, dann ist das Ermessen reduziert und nur diese Entscheidung zulässig.

Grundrechtlicher Anknüpfungspunkt ist hier Art. 2 Abs. 1 GG. Denn die allgemeine Handlungsfreiheit umfasst auch das Recht des Inhaftierten auf Vogelhaltung. Dem stehen maßgeblich die Sicherheitsbedürfnisse der Anstalt gegenüber, die in Gestalt von Gesundheitsgefahren für Vollzugsbeamte und Mitverwahrte über Art. 2 Abs. 2 GG ihrerseits grundrechtliche Bedeutung erlangen. Eine Abwägung der Interessenlage fällt zu Ungunsten der Anstalt aus. Dazu die Kammer: „Eine Einschränkung des Rechts des Antragsstellers zur Tierhaltung in der Sicherungsverwahrung verletzt diesen in unverhältnismäßiger Weise in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, insbesondere im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Abstandsgebot und den Angleichungsgrundsatz“ (Rn. 23). Die „befürchtete Gesundheitsgefährdung für die Vollzugsbeamten und Mitverwahrte“ bildet insofern keinen ausreichend entgegenstehenden Grund. Denn – und das ist in dieser Ausdrücklichkeit eine echte Novität – es „handelt sich hierbei lediglich um abstrakte, unwahrscheinliche Gefahren, die auch im Hinblick auf den hohen Wert von Gesundheit und Leben eine Beschneidung der Interessen des Antragsstellers auf einen freiheitsorientierten Vollzug nicht rechtfertigen können. Jedenfalls durch Vorbeugemaßnahmen kann die Entstehung einer Gesundheitsgefahr effektiv ausgeschlossen werden“ (Rn. 29). Ergebnis: Die Gestattung der Haltung des Wellensittichs bleibt als einzig rechtmäßige Entscheidung übrig.

Wird die richtige Entscheidung halten?

Der Entscheidung ist zuzustimmen. Sie lässt das Vollzugsrecht im positiven Sinne praktisch werden, indem sie den eingangs geschilderten Herausforderungen gerecht wird. Im Klartext bedeutet das: Die Kammer hat, wie es sich gehört, die Sachverhaltsaufklärung ernst und in die eigene Hand genommen, indem sie unter anderem ein schriftliches Veterinärgutachten eingeholt hat. Darüber hinaus beeindruckt die Entscheidung durch eine ausführliche Abwägung der (grundrechtlichen) Interessen. Und sie leitet unmittelbar und somit praktisch wirkungsvoll einen Gestattungsanspruch her, der die Rechte von Inhaftierten in puncto Tierhaltung stärkt. Es bleibt dennoch abzuwarten, ob der Beschluss rechtskräftig wird. Denn dieses Verfahren hat, wie die Entscheidungsgründe verraten, eine Vorgeschichte. So war die Anstalt bereits 2021 von der Kammer verpflichtet worden, dem Antragsteller die Haltung eines Wellensittichs zu gestatten. Diesen Beschluss hatte das BayObLG (203 StObWS 84/21) jedoch auf die anstaltsseitige Beschwerde hin aufgehoben. Die Kammer hat sich hiervon offensichtlich nicht entmutigen lassen und gelangt nunmehr über den Weg der Ermessensreduzierung auf null zum selben Ergebnis wie 2021. Wird die Entscheidung dieses Mal in der Beschwerdeinstanz überzeugen?

 

Zitiervorschlag: Lorenz Bode, Wellensittich in der Sicherungsverwahrung? Zugleich eine Anmerkung zu LG Regensburg, Beschluss vom 15.2.2022, JuWissBlog Nr. 18/2022 v. 6.4.2022, https://www.juwiss.de/18-2022/

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Ermessensreduzierung, Grundrechte, Sicherungsverwahrung, Tierhaltung, Vollzug
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