Junge Menschen erleben Corona – JuCo-Studien und Rechtsdidaktik

von JAN-PHILLIP STEINFELD

Der Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ hat im Jahr 2020 die Ergebnisse seiner bundesweiten JuCo-Studien 1 und 2 vorgelegt. Mehr als 6000 (JuCo 1) bzw. 7000 (JuCo 2) junge Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren wurden zu ihren Erfahrungen während der Corona–Pandemie befragt. Der Beitrag analysiert rechtsdidaktisch besonders relevante Aspekte der beiden JuCo-Studien für das Lernen wie das Erleben fehlender Partizipation an Entscheidungsprozessen und physisch vermittelter Grundrechtseingriffe während der Pandemiebewältigung. Außerdem werden normative rechtsdidaktische Schlussfolgerungen gezogen.

Jugendliche und junge Erwachsene erleben die Corona-Pandemie

Der Altersdurchschnitt der Befragten liegt bei 18,8 Jahren (JuCo 1) bzw. 19 Jahren (JuCo 2). Damit erfassen die JuCo-Studien vom Alter her Lernende, die sich gegenwärtig oder demnächst in rechtsdidaktisch relevanten Bildungsgängen befinden. Corona bestimmt nicht mehr nur die aktuelle Lernumgebung (vgl. hierzu den Beitrag auf JuWissBlog vom 7. April 2020 zum Priming), sondern beeinflusst inzwischen einen länger andauernden Erfahrungsraum. Die Corona-Pandemie macht in vielfältiger Weise öffentlich-rechtliche Vorgänge erfahrbar. Bemerkenswert ist dabei das massiv sinnlich und physisch vermittelte Erleben der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bezug auf Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Aus der Perspektive der Pädagogischen Psychologie betrachtet speist dieses Erleben das episodische Gedächtnis. Als Teil des Langzeitgedächtnisses bildet sich hier das Netzwerk sog. heißer Kognition aus, dem eine tragende Rolle bei der Werte- und Überzeugungsbildung zugerechnet wird. Im Gegensatz zu den mentalen Repräsentationen im semantischen Gedächtnis, enthält das episodische Gedächtnis emotionale Bewertungen.

Didaktik thematisiert aber nicht nur, wie Lernen funktioniert oder optimiert werden kann. Sie trifft auch begründete normative Aussagen. Die folgende Analyse ist demnach mit Blick auf beide rechtsdidaktischen Intentionen zu lesen.

Fehlende Partizipation

Ein zentrales Ergebnis der JuCo 1-Studie ist, dass ein Viertel der Befragten den Eindruck hat, mit ihren Anliegen nicht gehört zu werden. Dieser Befund wurde durch die JuCo 2-Studie bestätigt. 65% der Befragten haben eher nicht oder gar nicht den Eindruck, von politisch Verantwortlichen mit ihren Sorgen gehört zu werden. Es liegt nahe, dass derartige Erfahrungen Auswirkungen auf das individuelle Verständnis von möglicher demokratischer Partizipation haben. Aus fachdidaktischer Sicht ist es ratsam, von diffuseren und unspezifischeren Bezugsobjekten des Erlebens durch die Befragten auszugehen, als es die fachliche Perspektive vermuten ließe. Vielfältige Belege dafür finden sich in der (fach)didaktischen Forschung verschiedenster Richtungen. Exemplarisch sei hierzu auf die fachdidaktische Forschungslandschaft im Rahmen der sog. Didaktischen Rekonstruktion verwiesen, in der Vorstellungswelten von Lernenden eine zentrale Rolle einnehmen.

Auch Rechtsdidaktiker*innen sollten in Betracht ziehen, dass das negative Erleben des Nichtgehörtwerdens nicht nur auf die Institutionen, die Akteure oder die Abläufe demokratischer Gesetzgebung beschränkt sein muss. Die Berücksichtigung und Bewertung gerade auch gegenläufiger Interessen ist ein zentrales Denkmuster des Rechts. Abwägungen sind ebenso elementare Voraussetzung verhältnismäßigen Entscheidens wie Charakteristikum ganzer Rechtsgebiete, etwa des Planungsrechts. Nur über das Verständnis von Abwägungsprozessen erschließt sich beispielsweise der vorläufige Rechtsschutz nach §80 Abs. 5 VwGO. Verkürzt gesagt: Nicht mit seinen Interessen gehört zu werden, ist gerade keine typische Denkfigur des Rechtsstaats. Junge Menschen erleben dies aber gerade und inzwischen über einen langen Zeitraum hinweg. Höhere kognitive Hürden für die Lernenden sind hieraus nicht unbedingt zu schlussfolgern. Abwägungsprozesse finden auch zu Zeiten der Pandemie statt. Sie sind erfahrbar. Entscheidend ist aber, dass junge Menschen bestenfalls Beobachter*innen von Abwägungsprozessen sind, in denen es eigentlich auch um ihre Interessen geht. Es wäre ein fragwürdiges rechtsdidaktisches Unterfangen Lernprozesse so anzulegen, dass Lernende kognitiv Abwägungsprozesse lege artes beherrschen, in ihrem autobiographischen Gedächtnis aber Abwägungsepisoden vorhanden sind, in denen Interessen als ausblendbar bzw. grundsätzlich vernachlässigbar erlebt wurden.

Physisches Erleben von Grundrechten

Die JuCo 1-Studie ergab, dass 39,1% der Befragten während der Pandemie Kontakt mit 3 bis 6 Personen hielten. Bei etwa ebenso vielen waren es lediglich 1 bis 2 Personen. Zur Deutung wichtig ist der Befund, dass physische Treffen erst an fünfter Stelle, etwa nach Telefonieren und sozialen Medien, als Form des Kontakts genannt wurden. Der Forschungsverbund betont, dass junge Menschen ihre sozialen Kontakte typischerweise im öffentlichen Raum pflegen. Aus der JuCo 2-Studie wurde deutlich, dass über 80% der Befragten ihre Kontakte, insbesondere mit den für ihre Entwicklung besonders bedeutsamen Peers massiv eingeschränkt haben.

In der Altersspanne der 15- bis 17-jährigen gibt es Überschneidungen zur COPSY-Studie, welche die psychische Gesundheit im Kontext der Corona-Pandemie in der Altersgruppe der 7- bis 17-jährigen untersucht. Bemerkenswert ist hier, dass das Belastungserleben durch reduzierten Kontakt zu Freunden mit 82,8% deutlich stärker ausgeprägt ist als dasjenige durch Homeschooling mit 64,4%. Bezeichnenderweise zeigten die JuCo-Studien, dass Befragte sich während der Pandemie sehr auf ihre Schüler*innen-Rolle reduziert sehen. Zusammengenommen ergibt sich ein (negativer) Erfahrungsraum, der vor allem durch den fehlenden sozialen Kontakt im öffentlichen Raum geprägt ist.

Rechtsdidaktisch betrachtet erleben Jugendliche und junge Erwachsene während der Pandemie einen von ihnen besonders hoch bewerteten Ausschnitt von grundrechtlich geschützter Betätigung, der ihnen nicht möglich ist. Sie erleben sich dabei überproportional viel als Träger*innen von physisch vermittelten Grundrechten – insbesondere aus Art. 2 Abs. 1 und 2 S. 2 GG, Art. 8 GG und Art. 11 GG. Am Maßstab grundrechtsdogmatischer Differenzierungen, die aus fachlicher Sicht vorzunehmen sind, dürfte das Erleben der Jugendlichen und jungen Erwachsenen unspezifischer, aber auch homogener erscheinen. So wird sich die emotionale Bewertung kaum danach unterscheiden, ob bedeutsame Peers infolge einer Kontaktbeschränkung oder infolge eines Einreiseverbotes nicht aufgesucht werden konnten. Es geht hier also nicht primär darum, dass Jugendliche und junge Erwachsene vielleicht erstmals mit Grundrechten in Kontakt kommen und sich näher mit ihnen beschäftigen mussten. Selten aber dürfte eine nicht mögliche Grundrechtsbetätigung derart flächendeckend mit herausragenden Bedürfnissen von Grundrechtsträgern*innen zusammentreffen. Anders als bei anderen Grundrechtserfahrungen spielt hier zudem das physische Erleben eine beachtenswerte Rolle.

Akzeptanz und Vertrauen in das Rechtssystem

Entgegen dem zuweilen verbreiteten medialen Bild regelbrechender Jugendlicher ergab die JuCo 2-Studie, dass 61 % der Befragten die Hygienemaßnahmen akzeptieren und 26% zumindest keine eindeutig ablehnende Haltung dazu haben. Lediglich 12% hielten die Maßnahmen für nicht sinnvoll. Unter dem rechtssoziologischen Aspekt der Normakzeptanz lassen sich rechtsdidaktisch Lernangebote gestalten, welche diesen Befund kontrovers mit dem im vorigen Abschnitt thematisierten Grundrechtserleben verbinden. Ausgehend von persönlich besonders bedeutsamen Episoden des Verzichts auf sozialen Kontakt lassen sich Spannungsbögen entwickeln, deren Spannkraft aus erlebten Einbußen und erlebten inneren Konflikten resultiert. Möglicherweise treffen auch Lernende, die sich, wie die Mehrzahl der Befragten, regelkonform verhalten haben, auf solche, welche sich nicht an rechtlich verbindliche Kontaktbeschränkungen gehalten haben.

Einen ebenfalls rechtssoziologischen Anknüpfungspunkt für Lernangebote bieten die Befunde der JuCo 1-Studie, wonach ca. 75% der Befragten angaben, ihre Rechte in der Pandemie zu kennen. In Hinblick auf die rechtssoziologische Thematik von Rechtskenntnis und Anspruchswissen sind Lernangebote denkbar, welche das Erleben von fehlender Partizipation und nicht möglicher Grundrechtsbetätigung im Kontext der Mobilisierung von Recht thematisieren.

Die JuCo 2-Studie zeigt neben der grundsätzlichen Akzeptanz der Maßnahmen durch die Befragten aber auch ein häufiges Unverständnis bei fehlender Schlüssigkeit der Maßnahmen. Ihr Erleben bezieht sich hier auf wichtige rechtsstaatliche Konzepte wie das Bestimmtheitsgebot oder die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Kognitiv nutzen diese Erfahrungen dem Zugang zu einem Verständnis der dogmatischen Korrelation zwischen Grundrechtsrelevanz und dem Grad der Bestimmtheit. Rechtsdidaktiker*innen stehen überdies in der Verantwortung, Lernende in die Lage zu versetzen, ihr konkretes Erleben und rechtsstaatliche Dogmatik reflektiert in Beziehung zu setzen.

Fazit

In den JuCo-Studien 1 und 2 finden sich zahlreiche Belege dafür, dass die während der Corona-Pandemie 15- bis 30-jährigen eindrückliche Erfahrungen sammeln, welche auch rechtsdidaktisch relevant werden können. Dazu gehört sowohl das Erleben von fehlender Partizipation an Entscheidungsprozessen, als auch die flächendeckende Erfahrung nicht möglicher Grundrechtsbetätigung in für diese Altersgruppe besonders bedeutsamen Lebensbereichen. Die Studien belegen ein hohes Maß an bestehender Normakzeptanz, sowie ein ausgeprägtes rechtsstaatliches Einschätzungsvermögen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Bestimmtheitsgebot. Der Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ lehnt den in der medialen Öffentlichkeit verwendeten Begriff einer Generation Corona ab, weil er eine passive Rolle der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei der Bewältigung der Pandemie impliziert bzw. verfestigt. Auch Rechtsdidaktiker*innen haben es in der Hand Lernprozesse zu initiieren, durch welche sich Lernende als Akteure bei der rechtlichen Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen in den nächsten Jahren begreifen.

 

Zitiervorschlag: Jan-Phillip Steinfeld, Junge Menschen erleben Corona – JuCo-Studien und Rechtsdidaktik, JuWissBlog Nr. 55/2021 v. 26.05.2021, https://www.juwiss.de/55-2021/.

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COVID-19, Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“, Jan-Phillipp Steinfeld, JuCo-Studie, Rechtsdidaktik
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