von CONSTANZE SCHWAGER-WEHMING und OLIVER PIEPER
Am Thema Impfen und Impfflicht scheiden sich die Geister, auch im juristischen Diskurs. Erneuten Aufwind dürfte der Debatte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht mit ihrer Aussage, sich gegen eine Corona-Impfpflicht in Schulen und Kitas zu stellen, gegeben haben. Dabei überzeugt die Absage einer möglichen Pflicht, die sie auf eine fehlende Vergleichbarkeit mit Masern stützt, nicht.
Masern als Vorbild?
Unabhängig von der derzeitigen Pandemie wurde Impfen als Pflicht schon immer sehr kritisch beurteilt, was zuletzt das 2020 in Kraft getretene Masernschutzgesetz erneut verdeutlichte. Durch die Einfügung von § 20 Abs. 8 bis 12 IfSG wurde es für nach dem 31. Dezember 1970 geborene Personen verpflichtend, u.a. bei Besuch oder Tätigkeit in einer Gemeinschaftseinrichtung einen ausreichenden Impfschutz oder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres eine Immunität gegen Masern nachzuweisen. Ausgenommen sind hiervon lediglich Personen mit Kontraindikationen, § 20 Abs. 8 S. 4 IfSG. Eine Übertragung dieser Gesetzeskonzeption, also die Verknüpfung von verpflichtender Impfung und der Arbeit sowie dem Besuch einer Schule oder Kita, auf Covid-19 wäre denkbar. Die relevanten und zu rechtfertigenden Grundrechtseingriffe bleiben dieselben: Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 4 Abs. 1, 2 GG werden ebenso tangiert wie Art. 12 Abs. 1 GG.
Im Falle des Masernschutzgesetzes sind gegenwärtig noch Verfahren vor dem BVerfG anhängig, wohingegen Anträge auf Erlass von einstweiligen Anordnungen im Mai 2020 bereits abgelehnt wurden. Das BVerfG verneinte in einer Folgenabwägung das Überwiegen der Nachteile einer Impfpflicht, sodass sie vorerst nicht zu suspendieren sei. Der Staat verfolge mit der Bekämpfung von Masern legitime Ziele und komme seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nach. Zu ähnlichen Wertungen und Ergebnissen kamen die Richter:innen des EGMR bzgl. der Masernimpfpflicht in Tschechien. Um die Ansicht des BVerfG jedoch final einschätzen zu können, gilt es, das Urteil in der Hauptsache abzuwarten.
Rechtfertigung von Impfpflichten
Die eben angesprochenen Grundrechtseingriffe können potenziell durch kollidierendes Verfassungsrecht in Gestalt der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und dem Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit anderer gerechtfertigt werden. Die Beeinträchtigung des Einzelnen durch die Nebenwirkungen der Impfung und der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht stehen dem Schutz gefährdeter Gruppen durch die Schaffung von Herdenimmunität sowie der Sicherung der medizinischen Infrastruktur gegenüber. In der Angemessenheit müssen somit Impfnebenwirkungen mit der Ansteckungsgefahr und der Gefährlichkeit des Virus abgewogen werden.
Dass Lambrecht nun bei einer möglichen Sars-CoV-2 Impfpflicht an Schulen und Kitas auf die fehlende Vergleichbarkeit zu Masern verweist, ist in der Pauschalität unbegründet. Richtig ist es zunächst, dass sie die Ansteckungsgefahr von Corona Sars-CoV-2 in den Blick nimmt und die höhere Basisreproduktionszahl von Masern – sie liegt zwischen 12 und 18 – im Vergleich zum Covid-19 Erreger mit einem Wert von 2,8 bis 3,8 hervorhebt. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass die Übertragbarkeit von Virusmutationen wie etwa der britischen Corona-Variante SARS-CoV-2 Linie B.1.1.7 höher sein kann, wie auch das Robert Koch Institut betont.
Der alleinige Hinweis auf die fehlende Vergleichbarkeit hinsichtlich der Basisreproduktionszahl greift also zu kurz, da sich die Ansteckungsgefahr nicht nur nach diesem Einzelwert bemisst. Sars-CoV-2 unterscheidet sich in der Weise essenziell von Masern, dass es ein gegenwärtiges pandemisches Geschehen ausgelöst hat. Die Immunisierungsrate in der Bevölkerung ist deutlich geringer und je nach Geschehen kann eine Überlastung des Gesundheitssystems jederzeit drohen. Bei Masern hingegen besteht bereits eine Immunisierungsquote in der Bevölkerung von über 90 %, die zusätzlich ein Leben lang anhält, weswegen es nur zu lokalen Masernausbrüchen kommt, die die medizinische Infrastruktur nicht überlasten. Die Ausgangslagen sind nicht gleichzusetzen. Bei Sars-CoV-2 ist nicht genau feststellbar, wie lange eine Immunisierung anhält. Gerade vor dem Hintergrund immer wieder neu entstehender Mutationen ist es unwahrscheinlich, dass sie über einen längeren Zeitraum bestehen wird. Je länger dem Virus Zeit gegeben wird, sich auszubreiten, desto eher werden sich neuartige Mutationen bilden. Deswegen sollte es das Ziel sein, schnellstmöglich hohe anteilige Immunität in der Bevölkerung herzustellen.
Dem zweiten Einwand Lambrechts, dass Masern Kinder deutlich stärker treffe als Corona, muss entgegengehalten werden, dass Impfpflichten nicht vorwiegend dem Individualschutz, sondern gerade dem Schutz der Gemeinschaft dienen. Es soll die Weitergabe des Virus an gefährdete Personengruppe und Menschen mit Kontraindikationen unterbunden werden. Kinder sind – wie Studien zeigen – genauso oder nur leicht weniger ansteckend als Erwachsene, durch den Schul- und Kitabesuch aber weitaus mobiler und treffen dort in großen Gruppen zusammen, sodass sie einen wesentlichen Verbreitungsfaktor darstellen.
Eine grundsätzliche Absage einer Impfpflicht unter Berufung auf die fehlende Vergleichbarkeit von Sars-CoV-2 und Masern bleibt unbegründet und kann in der Form keinen Bestand haben.
Anknüpfungspunkt – Impfbereitschaft
Dass die Ministerin trotzdem zunächst auf Freiwilligkeit setzen möchte, ist nachvollziehbar und – jedenfalls gegenwärtig – auch zwingend geboten, denn die Einführung einer Impfpflicht wäre bei Erreichen von Herdenimmunität ohne Zwang nicht erforderlich i.S.d. Verhältnismäßigkeit. Während man zu Beginn der Pandemie noch von einer notwendigen Impfquote von circa 60 bis 70 % ausging, steigen mit dem vermehrten Auftreten von Mutationen und dadurch erhöhten Ansteckungsraten auch die Anforderungen an eine Herdenimmunität. Mittlerweile wird von Quoten bis zu 85 % ausgegangen. Mit Blick auf die gegenwärtig hohe Impfbereitschaft von 74 % könnte man dem Ziel nahekommen, wenn es nicht gar erreichen. Nichtsdestotrotz sollten diese ständig schwankenden Zahlen mit Vorsicht genossen werden. Außerdem zeigt die Befragung nicht, inwiefern Eltern dazu bereit wären, ihre Kinder impfen zu lassen, gerade unter dem Aspekt, dass es auch noch keine allgemeine Impfempfehlung der STIKO gibt. Insgesamt scheint zwar ein Trend zu einer höheren Bereitschaft auszumachen zu sein, was im Zusammenhang mit dem zunehmenden Vertrauen der Bevölkerung in die Impfstoffe als auch dem Inaussichtstellen von Lockerungen nach einer Zweitimpfung steht. Inwieweit der ungeimpfte Teil der Bevölkerung jedoch nach umfangreicherem Entfallen der Eindämmungsmaßnahmen noch zu einer Impfung bereit sein wird, bleibt abzuwarten. Es kann also nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass Freiwilligkeit – gerade im Hinblick auf die schwankenden Quoten durch Mutationen – ausreichen wird. Lambrechts Ablehnung sollte deswegen an eine hinreichende Impfbereitschaft gekoppelt und nicht grundsätzlich verneint werden.
Unbekannte Wirksamkeit und Nebenwirkungen
Umgekehrt kann selbst bei Bestehen einer zu niedrigen Impfbereitschaft nicht ohne weiteres von der Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht für den Schul- und Kitabesuch ausgegangen werden. Es besteht noch eine zu große Ungewissheit bezüglich gleich mehrerer Aspekte: Inwiefern schützen die Impfstoffe auch Kinder? Wird die Verbreitung über sie gestoppt? Sind sie verträglich? Abgesehen vom Impfstoff von Biontech (die Zulassung für Kinder ab 12 Jahren steht kurz bevor) gibt es noch keine zugelassenen Vakzine für Kinder. Bis zur Entscheidung darüber wird noch einige Zeit ins Land ziehen, denn – wie Einiges im Falle von Corona – ist noch nicht abschließend geklärt, wie die Impfstoffe auf Kinder im Grundschul- oder Kitaalter wirken. Die STIKO hat dementsprechend noch keine allgemeine Impfempfehlung ausgesprochen. Weitere Studien, Untersuchungen und damit Monate der Wartezeit müssen in Anspruch genommen werden. Letztendlich würde sich die Debatte bei erheblichen Nebenwirkungen oder bei keiner Verhinderung der Ansteckung anderer erübrigen.
Debatte unter Vorbehalt
Der hiesige Appell besteht nicht darin, dass eine Impfpflicht – sei sie allgemeiner oder nur Kinder betreffender Natur – eingeführt werden muss. Sie sollte lediglich als Mittel zur Prävention sowie Bekämpfung nicht aufgrund einer fehlenden Vergleichbarkeit zu Masern pauschal verworfen werden. Dass die Einführung jedoch unter Vorbehalte gestellt werden muss, steht außer Zweifel: Die Ungewissheit über die für Herdenimmunität erforderliche Impfquote sowie die sich stetig ändernde Impfbereitschaft lassen noch nicht erkennen, ob Freiwilligkeit ausreichen wird. Zudem könnte eine Pflicht gekoppelt an den Schul- oder Kitabesuch dann als Maßnahme ausscheiden, sollte die Impfung bei den jüngeren Generationen unvertretbare Nebenwirkungen aufweisen. Insofern sollte die gesamte Diskussion grundsätzlich unter die genannten Vorbehalte gestellt, zeitlich verschoben, dabei aber keinesfalls gänzlich beendet werden.
Zitiervorschlag: Constanze Schwager-Wehming/Oliver Pieper, Absage aus den falschen Gründen – Warum eine Impfpflicht nicht pauschal verneint werden sollte, JuWissBlog Nr. 57/2021 v. 01.06.2021, https://www.juwiss.de/57-2021/.
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[…] in seiner Bedeutung als Selbstbestimmungsrecht über den Körper dar (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) dar (Schwager-Wehming/Pieper; Rixen). Abhängig von der Konstellation und dem Kontext kommen auch weitere Grundrechtseingriffe […]