Aus drei mach eins: Konvergenz des europäischen Grundrechtsschutzes

Von ALEXANDER BRADE und MARKUS GENTZSCH

Der am 1. Juni 2021 veröffentlichte BVerfG-Beschluss, mit dem die Verfassungsbeschwerden zweier Unternehmen gegen die An­er­ken­nung der bri­ti­schen Zu­las­sung eines Kon­kur­renz-Ge­ne­ri­kums zurückgewiesen wurden, mag auf den ersten Blick nur für interessierte Kreise des Arzneimittelrechts von Interesse sein. Bedeutung erlangt die Entscheidung aber deshalb, weil der Zweite Senat im Anschluss an seinen Beschluss vom 1. Dezember 2020 auf dem vom Ersten Senat vorgezeichneten Weg der europäischen Grundrechtskontrolle weiter voranschreitet. Dabei äußert er sich erstmals dezidiert zur Abgrenzung zwischen vollvereinheitlichtem und gestaltungsoffenem Unionsrecht und lotet die wechselseitigen Einflüsse von GRCh, GG und EMRK aus.

Vom Europäischen Haftbefehl III zu Ökotox

Im vorliegenden Beschluss (kurz: „Ökotox“) erhielt der Zweite Senat Gelegenheit, die in der Entscheidung „Europäischer Haftbefehl III“ (EuHB III) entwickelten Maßstäbe anzuwenden. Darin erkannte der Zweite Senat bekanntlich zum ersten Mal die Unionsgrundrechte als unmittelbaren Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde an, wenn es sich um unionsrechtlich vollständig determinierte Materien handelt. Im Ergebnis folgte er mit „EuHB III“ zwar – durchaus überraschend – der Rechtsprechung des Ersten Senats (Recht auf Vergessen II – RaV II). Seine Begründung dafür fiel aber noch ausgesprochen knapp aus (Rn. 37) und wich auch inhaltlich von der des Ersten Senats ab (dazu hier). Die Erklärung liefert der Zweite Senat jetzt nach: Die Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes (GG) und der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) gewährleisteten „einen nach Inhabern, Verpflichteten und Struktur im Wesentlichen funktional vergleichbaren Schutz“ (Rn. 58; näher Rn. 62, 64 ff.). Des Weiteren findet sich – etwas versteckt – ein Hinweis auf das Konzept der Integrationsverantwortung, das der Zweite Senat damit erstmals auf sich selbst als Adressaten bezieht (Rn. 71).

Auch im Übrigen schärft der Zweite Senat gegenüber „EuHB III“ nach und schließt damit zum Ersten Senat auf: Erstens bekennt er sich zu einer auf das jeweilige Einzelgrundrecht bezogenen „Solange-Kontrolle“ (Rn. 39). Neu ist zweitens, dass die Grundrechte des Grundgesetzes nicht nur im Einklang mit der EMRK, sondern auch im Lichte der Charta auszulegen seien (Rn. 46). Auf einer Linie mit „RaV II“ liegen schließlich die Kriterien zur Unterscheidung zwischen vollvereinheitlichtem und gestaltungsoffenem Unionsrecht (Rn. 42 ff.), die nach der Rechtsprechung erforderlich sind, um zu entscheiden, ob die Grundrechte des Grundgesetzes oder diejenigen der Charta anwendbar sind (kritisch hier). Dadurch gelingt es dem Zweiten Senat aber nicht, der Rechtspraxis präzisere Vorgaben für die Abgrenzung an die Hand zu geben. Er nimmt im Gegenteil den Spielball des Ersten Senats, den dieser den Fach(!)gerichten eingeräumt hatte (Rn. 81), gern auf und lässt die Frage nach der Reichweite der Vereinheitlichung letztendlich schlicht dahinstehen.

Abschied von der Grundrechtsvielfalt?

So sehr es zu begrüßen sein mag, dass der Zweite Senat die Konventions- und Unionsgrundrechte als Funktionsäquivalent zu den Grundrechten des Grundgesetzes anerkennt, so sehr ist auf die damit verbundenen Gefahren hinzuweisen. Diese drei Grundrechtskataloge decken sich nämlich trotz ihres gemeinsamen Bezugspunktes – der Würde des Menschen (Rn. 59 ff.) – keineswegs vollständig (siehe hier und hier); welchen Sinn sollte ansonsten auch die vom Ersten Senat in „Recht auf Vergessen I“ (RaV I) besonders herausgestellte „Vielfalt des Grundrechtsschutzes“ haben? Abgesehen davon stellt sich die Frage, woraus das BVerfG die Berechtigung dafür ableitet, die Auslegung der Charta der Grundrechte auch an den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie ihrer höchstrichterlichen Konkretisierung – also unter Einziehung seiner eigenen Rechtsprechung – auszurichten (Rn. 69, 72). Zwar adressiert der Zweite Senat hiermit die in Art. 52 Abs. 3, 4 GRCh anerkannten Maßstäbe; diese laufen jedoch allesamt beim EuGH zusammen, dem insoweit das Auslegungsmonopol zusteht. Hinzu kommt, dass eine derartige Auslegung rechtsvergleichend und unter Einbeziehung sämtlicher Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten – 27 an der Zahl – zu erfolgen hätte. Es handelt sich mit anderen Worten um einen Balanceakt, der von einem einzigen mitgliedstaatlichen Gericht kaum zu leisten ist (Brade/Seyller, EuZW 2021, Heft 10, i.E.).

Aufgedrängte Dogmatik

Wie bereits „RaV I“ und „EuHB III“ (siehe hier und hier) bietet auch der „Ökotox-Beschluss“ Anlass zur Sorge, dass dem insoweit ausschließlich zuständigen EuGH mit einer verfassungsgerichtlichen Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte die innerstaatlich gewonnenen Maßstäbe aufgedrängt werden (vgl. RaV II, Rn. 45). Hier nutzt der Zweite Senat die Gelegenheit, den unionsrechtlichen Eingriffsbegriff näher zu konturieren, indem er der Formulierung in Art. 52 Abs. 1 GRCh („jede Einschränkung“) ein weites Verständnis zugrunde legt (Rn. 77). Zwar wird die unionsgerichtliche Interpretation, wonach „jede nachteilige Auswirkung staatlichen Verhaltens auf die Ausübung eines Grundrechts als Eingriff zu verstehen [ist]“, sowie der Ansatz des EGMR, der auch Realakten Eingriffsqualität beimesse, durch zahlreiche Nachweise belegt. Ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen jedoch staatliche Unterlassungen eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellen, ist in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR allenfalls punktuell entschieden worden. Dennoch betont der Zweite Senat vollmundig, dass der Grundrechtsschutz der EMRK „– ähnlich wie das Grundgesetz – auch Gewährleistungs- und Schutzpflichten [verbürgt]“ (Rn. 65) und dass auch „aus den Grundrechten der Charta – soweit sie nicht horizontal anwendbar sind – Prinzipien abgeleitet [werden], aus denen gegebenenfalls weitere (derivative) Ansprüche folgen“ (Rn. 66). Dass die Maßstäbe dabei alles andere als offensichtlich sind, zeigt eindrucksvoll das vorliegende Verfahren, in dem die Eingriffsqualität einer behördlichen Bezugnahme auf grundrechtlich geschützte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Betroffenen in Frage stand. Dem scheint sich auch der Zweite Senat bewusst gewesen zu sein; es ist daher nur konsequent, das Vorliegen eines Eingriffs in Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 16 GRCh im Ergebnis offen zu lassen (Rn. 100).

Versöhnliches zum Schluss

Einen zentralen Pfeiler des „Kooperationsverhältnisses“ bildet das nunmehr auch vom Zweiten Senat abgegebene Versprechen, dass „bei der Auslegung der Charta keine partikularen, nur in der Rechtspraxis einzelner Mitgliedstaaten nachweisbare Verständnisse unterlegt werden [dürfen]“ und Divergenzen vom EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens i.S.d. Art. 267 AEUV zu klären sind (Rn. 73). Dass eine Vorlage hier noch nicht einmal erwogen wurde, hinterlässt gleichwohl einen faden Beigeschmack. Das betrifft sowohl die Frage nach der Reichweite der Vereinheitlichung als auch die Vereinbarkeit der einschlägigen EU-Richtlinie mit der Charta.

Insgesamt stehen die Zeichen aber weiter auf Entspannung; die vorliegende Entscheidung knüpft insoweit an den Beschluss „EuHB III“ und die zuletzt verworfenen Vollstreckungsanträge in Sachen PSPP an. Der „Frieden“ im europäischen Verfassungsgerichtsverbund hat freilich seinen Preis: Er geht mit einer gewissen Nivellierung der Schutzstandards einher. Der wechselseitige Einfluss der Grundrechtskataloge hat natürlich auch sein Gutes, wie das BVerfG hervorhebt: Er „trägt […] der Einbindung Deutschlands in den europäischen Rechtsraum und seiner Entwicklung Rechnung, fördert die Stärkung gemeineuropäischer Grundrechtsstandards und vermeidet Friktionen und Wertungswidersprüche bei der Gewährleistung des Grundrechtsschutzes im Interesse seiner Effektivität und der Rechtssicherheit“ (Rn. 71). Dass sich die Auslegung der Grundrechtecharta als fruchtbarer Boden für die deutsche Verfassungsdogmatik erweist, wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass der Zweite Senat, womöglich inspiriert durch die Rechtsprechung des EuGH, so deutlich wie selten zuvor den grundgesetzlichen Eingriffsbegriff herausgearbeitet hat (Rn. 54).

 

Zitiervorschlag: Alexander Brade/Markus Gentzsch, Aus drei mach eins: Konvergenz des europäischen Grundrechtsschutzes, JuWissBlog Nr. 58/2021 v. 2.6.2021, https://www.juwiss.de/58-2021/

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Alexander Brade, Durchführung des Unionsrechts, Europäischer Haftbefehl, Grundrechte, Grundrechtecharta, Integrationsverantwortung, Markus Gentzsch, Recht auf Vergessen
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Marcus Schnetter
    3. Juni 2021 12:33

    Danke für eure äußerst schnelle und fundierte Einordnung! „Aufgedrängte Dogmatik“ trifft es auf den Punkt. Endlich ist die Katze aus dem Sack, die in EuHB III Rn. 37 bisher nur vorsichtig herausschaute: Das BVerfG darf jetzt fröhlich nach den Maßstäben und Methoden deutscher Verfassungsrechtsprechungsdogmatik an der Auslegung der EuGRCh teilhaben. Der Zweite Senat entnimmt damit RaV II eine Linie, die darin – soweit ersichtlich – überhaupt nicht angelegt war, gegen die sich der Erste Senat fast eher zu wehren schien*, aber von Kämmerer/Kotzur, NVwZ 2020, 177, 179 wohl vorausahnend als „’Heimholung‘ des Grundrechtsschutzes in die nationale Rechtssphäre“ beschrieben wurde. Ich bin gespannt (Achtung: argumentum ad absurdum), ab wann sich der Zweite Senat dann auch dazu berufen fühlt, beispielsweise die Schweizerische Bundesverfassung im Lichte des Grundgesetzes auszulegen. Die Parallelen zum Grundgesetz und der EMRK sind ja schließlich unübersehbar: Art. 7 chBV nennt die Menschenwürde als primären Referenzpunkt. Mit Art. 35 Abs. 1, 3 chBV werden die Grundrechte für die gesamte Rechtsordnung und auch als drittwirkend in Geltung gebracht. Der zuletzt 2000 reformierte Grundrechtskatalog wurde maßgeblich auch durch die EMRK beeinflußt und letztere genießt als völkerrechtliche Verpflichtung zumindest Berücksichtigung bei Auslegung nationaler Verfassungsbestimmungen (siehe bspw. BGE 139 I 16, 30-31). Übereinstimmungen allerorten: Und da ist (Achtung: wieder Ironie) in Karlsruhe noch niemand auf die Idee gekommen, auch hier „the wealth of experience and doctrinal opulence of German human rights case law“ (Zitat aus Thym, EuConst 2020, 1, 25-26) fruchtbar zu machen?

    * Siehe vielmehr dagegen RaV II Rn. 44-46 und 69-70; warnend auch noch Rn. 71, aber mit dem kryptischen Hinweis auf die zumindest sekundäre (?)/hilfsweise (?) Rückbindung der Auslegung der EuGRCh „an das Grundrechtsverständnis in den Mitgliedstaaten der Union“.

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