von JUDITH SIKORA
Nach jedem Terroranschlag fehlen die Worte. Das geht nicht nur Ariana Grande so, sondern auch vielen von uns. Angesichts der Brutalität des Anschlags, der Anzahl der Toten und Schwerverletzen, des Leids der Angehörigen. Manchmal fehlen die Worte aber auch angesichts der öffentlichen Reaktionen, die immer wieder nach demselben Schema ablaufen und die Frage aufwerfen, ob wir beim Thema Innere Sicherheit dazu lernen.
Chronik eines Anschlags
Der jüngste Anschlag von Manchester ist ein Beispiel dafür. Die erste Reaktion besteht aus Entsetzen, Fassungslosigkeit, Ungläubigkeit. Wenn die Nachricht gesackt ist und sie sich im eigenen Land oder in der Nähe abspielt, folgen Aufforderungen an die Allgemeinheit, ruhig zu bleiben und nicht in Panik auszubrechen – bei Live-Berichten gefolgt von Interviews mit besonnen wirkenden Polizisten, die behaupten, dass die Sicherheitsbehörden alles im Griff hätten. Ist alles vorüber, folgen Solidaritäts- und Beileidsbekundungen aus aller Welt, die Versicherung, man werde „zusammenstehen“ im „Kampf gegen den Terror“ und in der Regel die Absage von Feierlichkeiten. Spätestens am nächsten Tag folgen die Fragen nach dem Wer (klärt sich meistens schnell durch ein Bekennerschreiben) und dem Warum (in der Regel militärisches oder sonstiges Engagement gegen eine bestimmte Gruppe) und Was man dagegen tun kann. Weil das aber keiner so genau weiß, die seit Jahren laufenden Präventionsprogramme nicht anziehen, werden hilflose Forderungen nach mehr „Sicherheit“ laut, gerne in Form von mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum, mehr Befugnisse für Polizei und Nachrichtendienste, Einführung sog. Body-Cams für Polizisten, mehr internationaler Zusammenarbeit, Fußfesseln für Gefährder. Letztere hat es immerhin in § 56 BKAG-Entwurf geschafft, es ist also wahrscheinlich, dass sie noch in dieser Legislaturperiode auf Bundesebene eingeführt wird. Ein bezeichnendes Beispiel für diesen Aktionismus der Politik ist die 206. Innenministerkonferenz, die Anfang der Woche in Dresden stattfand und die erste seit dem Berliner Weihnachtsmarktanschlag war. Dabei wurden nicht nur die Sicherheitsverwahrung von Gefährdern und die Überwachung von Kindern durch Geheimdienste diskutiert, sondern auch der Einsatz von Staatstrojanern, um Messenger-Dienste zu überwachen. Wer sich der Einführung neuer Instrumente der Sicherheitsbehörden entgegenstellt, dem wird vorgeworfen, die Machtlosigkeit der Polizei zu verschärfen, die Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zu achten oder gleich die Opfer des Anschlags zu verachten.
„Es geht um Menschenschutz, nicht um Datenschutz“
Auf diese Phrase von Jacob Applebaum wird gerne zurückgegriffen (dabei fiel das Zitat eigentlich in einem anderen Kontext). Was sind Daten gegenüber Menschenleben? Das Leben unschuldiger Menschen, wie im Fall von Manchester vor allem Kinder und Jugendliche, müsse vorrangig geschützt werden. Ist ja auch eigentlich einleuchtend, oder? Zur Veranschaulichung soll auf ein Lehrbuchbeispiel zur Verhältnismäßigkeit zurückgegriffen werden, und zwar die DNA-Reihenuntersuchung nach § 81h StPO. Wenn ein Mörder gesucht wird, ist die Anordnung einer DNA-Untersuchung von 10 Verdächtigen sicher verhältnismäßig. Wahrscheinlich auch noch die Anordnung von 100 Untersuchungen. Aber wie sieht es mit 1000 aus? Mit 10.000 oder 100.000? Oder gar einer Million? Dürften also sämtliche Einwohner Kölns zur DNA-Probe gebeten werden, um einen Massenmörder zu finden? Über die Frage mag im Einzelfall gestritten werden. Die Richtung aber ist klar.
Übertragen auf das wohl präsenteste Beispiel der Videoüberwachung: Wie viele Menschen sind von einer Befugnis der Bundespolizei zur Videoüberwachung von Bahnhöfen betroffen? Wie viele von einer derartigen Ermächtigung in Landespolizeigesetzen, wenn man an Großstädte wie Hamburg, Frankfurt, Berlin, München denkt?
„Wenn der Staat schon keine Sicherheit garantieren kann, sollte er nicht auch noch die Videokamera verweigern.“
Aussprüche wie diese zeigen, dass die Einsicht noch nicht überall angekommen ist, dass Sicherheit kein Selbstzweck ist. Das Grundgesetz kennt kein „Grundrecht auf Sicherheit“ als solches, Sicherheit wird und soll nur um der Freiheit willen gewährleistet werden, nicht aber als Begründung der Einschränkung von Freiheit dienen.
Christoph Schewe hat sich in seiner Dissertation mit der Frage beschäftigt, ob die Polizei das Sicherheitsgefühl schützen darf. Er kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass das Sicherheitsgefühl zwar für Kriminalitätsverhinderung, das friedliche Zusammenleben der Bürger und letztlich auch die Demokratie eine wichtige Rolle spielt. Trotzdem schützt die Polizei nur Rechtsgüter – das Sicherheitsgefühl ist aber (noch) keines. Aber die Entwicklung der Sicherheitsgesetze scheint zunehmend in diese Richtung zu gehen.
Ich möchte keinen der Anschläge trivialisieren oder bagatellisieren, aber wie so oft in der Politik scheint auch hier zu gelten: Wenn man ein Argument, eine Forderung oft genug wiederholt, bahnt sie sich irgendwann den Weg in ein Gesetzesvorhaben. Hilfreich ist dabei natürlich immer, wenn man die Forderung nicht unbegründet in den Raum wirft, sondern anlässlich eines aktuellen, möglichst schockierenden Ereignisses, das die Öffentlichkeit berührt. Das macht einen seriöseren Eindruck, beruht in Wirklichkeit aber auf Emotionen – genau passend im postfaktischen Zeitalter. Denn die meisten der angestrebten „Verbesserungen“ in der Sicherheitsarchitektur sind in ihrer Wirksamkeit keineswegs unumstritten. So geben etwa auch die Befürworter der elektronischen Fußfessel zu, dass sie kein Allheilmittel sei, nicht überwacht werden könne, mit wem sich der „Gefährder“ treffe oder über was er sich unterhalte. Im Übrigen seien die Reaktionszeiten zu langsam, um wirklich Anschläge zu verhindern – so etwa geschehen in Frankreich im Juli 2016, als ein Attentäter mit Fußfessel einen Priester ermordete. Auch die abschreckende Wirkung der Videoüberwachung im öffentlichen Raum auf Selbstmordattentäter ist umstritten. Zuletzt in St. Petersburg hielt sie den dortigen Attentäter jedenfalls nicht davon ab, seinen Plan auszuführen.
Staatliche Schutzpflicht ja – aber wie?
Natürlich obliegt dem Staat die Pflicht, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Natürlich will niemand bei einem Selbstmordanschlag mit in die Luft gesprengt werden, auch wenn er dagegen ist, dass die Polizei bei entfernten Verdachtsmomenten das private Handy abhören, auf Whatsapp, Facebook und andere soziale Medien zugreifen kann. Dass „Ob“ steht auch nicht in Frage. Es geht um das „Wie“. Um die Frage, ob ich möchte, dass ich jedes Mal, wenn ich zum Bäcker im Hauptbahnhof gehe, von einer Überwachungskamera aufgezeichnet werden will. Ob ich, sobald ich mich an einem „Gefahrengebiet“, d.h. einem als solchen gebrandmarkten sozialen Brennpunkt aufhalte, anlasslosen Identitätskontrollen und Durchsuchungen ausgesetzt sehen will. Ob mein Autokennzeichen, wenn es von einem automatischen Kennzeichenerfassungssystem gesichtet wird, mit dem europaweiten Fahndungsbestand abgeglichen werden soll.
Mehr Befugnisse = Mehr Sicherheit?
Das, was mich mit am Meisten erstaunt, ist, dass die Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden oft als alternativlos dargestellt werden. Als ginge die Gleichung „Mehr Befugnisse = Mehr Sicherheit“ auf. Als ob die Polizei in einem „Meer“ von Befugnissen nur noch nach den Verdächtigen fischen müsste und er ihnen sogleich an den Haken geht. Vereinzelt hört man Forderungen nach besserer Ausstattung der Polizei, mehr Personal und Sachmittel, insb. für die digitale Überwachung. Diese gehen aber meistens in der Sachdiskussion unter. Kostet Geld, wurde schon oft gefordert – daher unpopulär. Dass aber auch neue Instrumente wie andere Überwachungstechniken, Entschlüsselungsprogramme etc. erst einmal Zeit brauchen, in der Praxis anzukommen, etwa weil die zuständigen Polizisten im Umgang geschult und geübt werden müssen, geht dabei unter.
Sascha Lobo belegt in seiner Kolumne auf Spiegel Online nachvollziehbar, dass die Verhinderung von Terroranschlägen in der Regel nicht an vorhandenen Informationen scheitert. Die meisten Attentäter sind polizeibekannt; bei den seit 2014 in den EU-Staaten verübten 13 islamistischen Terroranschlägen waren sogar sämtliche Täter bereits vorher als gewaltaffin aufgefallen. Man muss sich unweigerlich fragen, welche weiteren Informationen und Daten von Sicherheitsbehörden eigentlich noch erfasst werden sollen, um an diesem Befund etwas zu ändern. Bezeichnend ist es in dieser Hinsicht doch auch, dass mittlerweile ein hinreichender Tatverdacht gegen Berliner Polizisten besteht, die verdächtigt werden, Daten bzw. Akten im Nachhinein wieder vernichtet und manipuliert zu haben, um zu vertuschen, dass im Vorfeld des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt ausreichend Hinweise bestanden, um Anis Amri zu verhaften.
Vor allem eins sollte uns der Anschlag in Manchester zu denken geben: Großbritannien hat viel schärfere Sicherheitsgesetze als hierzulande. Die Sicherheitsbehörden dürfen und machen mehr, auch Videoüberwachung, Pass- und Personenkontrolle bei der Einreise. Anschläge passieren trotzdem. Es ist Zeit, dass wir nicht unter dem Eindruck von Anschlägen, geleitet von der Angst, hier könnte der nächste passieren, uns diskussionslos in unserer Freiheit einschränken lassen. Und zwar jeder von uns. Anlasslos. Jeden Tag.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Ich gehöre keineswegs zum Kreis derer, die für die Verschärfung der Sicherheitsgesetze eintreten. Gleichwohl frage ich mich danach, welcher Schluss daraus zu ziehen ist, dass sämtliche islamistische Gefährder vorher bekannt waren.
Verhindern kann man einen Anschlag ohnehin nie mit absoluter Gewissheit. Die Wahrscheinlichkeit kann jedoch gleichwohl nur zum einen durch die Verschärfung der Sicherheitsgesetze erhöht werden, zum anderen durch die konsequentere Anwendung bzw. weite Auslegung der der Ermächtigungsgrundlagen. Kumuliert man beides, dann addiert sich die Reduktion der Wahrscheinlichkeit für einen Anschlag – jedenfalls abstrakt.
Beispiel Anis Amri: In der Tat war er als Gefährder bekannt. Auch seine Gewaltbereitschaft war bekannt. Was hätte man nun tun können?
– Wegsperren? Wohl zumindest nicht für die Delikte – Drogen, Gewaltdelikte – die er getan hat. Bei der Strafzumessung kann vor allem nicht berücksichtigt werden, dass er als IS Sympathisant eine „Gefahr“ ist, denn ein „Gesinnungsstrafrecht“ gilt in Deutschland nicht und dann Strafrecht verfolgt grds. nur repressive Zwecke.
– Zwangsmaßnahmen wegen der Gefahr? Nein, denn es fehlte an Anhaltspunkten für eine konkrete Gefahr iSd Polizeirechts.
– Abschieben? Von Fragen der Verfassungsmäßigkeit des § 58a AufenthG abgesehen und der Fragwürdigkeit ob er sich seinen Weg nicht hätte wieder zurück nach Dtld bahnen können, ist die Frage, ob die Voraussetzungen der Norm vorlägen.
Die – abstrakte – Wahrscheinlichkeit hätte man damit nur erhöhen können, wenn man
1. flächendeckend observiert hätte, wobei fragwürdig ist, ob die Sicherheitsgesetze dies hergegeben hätten. Dh man hätte diese entweder extensiv auslegen müssen und die Kapazitäten dafür haben müssen, dies umsetzen zu können. Zudem könnte die Überwachung durch die Herabsetzung der Voraussetzungen für Zwangsmaßnahmen erleichtert werden können oder
2. zusätzlich mehr Zugriff auf Daten haben müssen, dh ebenfalls die Sicherheitsgesetze ausweiten müssen, um – wenn auch nur potentiell – eventuell Anhaltspunkte für einen Anschlag zu erhalten.
Gleichwohl: Entscheidet sich ein Attentäter spontan zu einem Anschlag, tauscht er sich nicht mit anderen aus oder zumindest in einer Weise, die nicht überwacht werden kann, dann kann ein Anschlag gleichwohl nicht verhindert werden (es sei denn man schafft Sicherheitsgesetze Personen bei dem geringsten Verdacht wegzusperren).
Letztlich bleibt es dabei mE am Ende bei der Abwägung: Was ist es uns an Freiheitseinbuße wert, dass das Risiko von Anschlägen nur graduell/potentiell reduziert wird? Das gilt sowohl für weniger eingriffsintensive Maßnahmen für eine große Anzahl von Menschen (Massenüberwachung), als auch eingriffsintensive Maßnahmen für Leute, die ins Fadenkreuz der Sicherheitsbehörden geraten (zB Präventivgewahrsam).
Die Grenzziehung ist mE nur schwerlich (und allenfalls im Grenzbereich) durch das Verfassungsrecht zu determinieren und in hohem Maße fragil und damit von der öffentlichen Wahrnehmung und der „gefühlten Sicherheit“ abhängig. Zu kurz gegriffen ist mE zumindest die Antwort, dass wir alle Mittel an der Hand haben, um Anschläge zu verhindern und dass die Verschärfung der Sicherheitsarchitektur die Sicherheit in keiner Weise zu verbessern imstande ist (zumindest, wenn die Behörden bei Maßnahmen, die der menschlichen Umsetzung bedürfen, die Kapazitäten haben, diese zu verfolgen).