Von SÖNKE E. SCHULZ
Mit Urteil vom 13.5.2014 hat der EuGH Google verpflichtet, auf Verlangen des Betroffenen bestimmte Ergebnisse aus dem Suchindex zu entfernen (sog. Recht auf Vergessenwerden). Die Bewertung des Urteils ist ambivalent – von einer überfälligen Durchsetzung des Datenschutzrechts ist ebenso die Rede wie von einer Bedrohung der Meinungsvielfalt und Informationsfreiheit. Nachfolgend soll ein Aspekt des Urteils herausgegriffen werden: die (fehlende) Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, Interessen des Suchmaschinenanbieters und Drittbetroffenen.
Persönlichkeitsrelevanz des personenbezogenen Suchindex
Ausgangspunkt nicht nur der – zutreffend unterstellten – datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit der Suchmaschinenanbieter, sondern auch der Abwägung ist, dass die Beeinträchtigung der Art. 7 und 8 GRC nicht aus der Auffindbarkeit einzelner Websites folgt, sondern aus der gebündelten Darstellung aller im Internet auffindbaren Informationen über die betreffende Person. Es ist nicht allein der Umstand, dass auf einer Webseite personenbezogene Daten enthalten sind, der einen Anspruch auf Nichtanzeige geben kann, sondern vielmehr die Persönlichkeitsrechtsverletzung durch die Aggregation. Macht man sich auf die Suche nach der eigenen Online-Persönlichkeit, hilft neben dem Facebook-Profil (das meistens schon einen relativ umfassenden Einblick liefert) auch das Egosurfing. Suchmaschinen kommt eine besondere Bedeutung zu – sie kreieren eine Online-Persönlichkeit nicht, sie (bzw. die zugrunde liegenden Algorithmen1) bieten aber eine komprimierte, jedermann zugängliche Darstellung derselben.
Kein absoluter Vorrang der Betroffenenrechte
Der EuGH scheint sich für einen generellen Vorrang des Daten- und Persönlichkeitsschutzes auszusprechen: „Zwar überwiegen die […] geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen ggü. dem Interesse der Internetnutzer; der Ausgleich kann in besonders gelagerten Fällen aber von der Art der betreffenden Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information abhängen, das u. a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren kann”. Der Widerspruch dieser Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses gegenüber dem Wortlaut des Art. 7 lit. f. der Datenschutzrichtlinie wird nicht aufgeklärt: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten lediglich erfolgen darf, wenn [sie …] zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen […] wahrgenommen wird, [erforderlich ist], sofern nicht das Interesse oder die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person […] überwiegen“.
Dienende Funktion des Schutzes personenbezogener Daten für den Persönlichkeitsschutz
Es ist gerade nicht Intention des (grundrechtlichen) Datenschutzes, allein weil das Grundrecht den Schutz der personenbezogenen Daten berührt, also der Schutzbereich eröffnet ist, zugleich einen Anspruch auf Nichtanzeige (bzw. Löschung) zu gewähren. Es läge so in der Hand des Betroffenen, nahezu jeden Umgang mit personenbezogenen Daten zu untersagen, soweit keine Einwilligung vorliegt. Ausnahmefälle dürften sich – dies deutet der EuGH an – auf das Verhältnis der Presse zu (vermeintlich) Prominenten beschränken. Das Internet besteht zu einem Gutteil aber aus Daten und Informationen von „Normalbürgern“. Zielführend ist es, sich Sinn und Zweck des Datenschutzes zu vergegenwärtigen, der kein absolutes Recht gibt, sondern eine Ausprägung des Persönlichkeitsschutzes ist (vgl. § 1 Abs. 1 BDSG). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht tritt in einer auf Gemeinschaft angelegten Gesellschaft (ein Menschenbild, von dem bspw. das Grundgesetz ausgeht) in ein Spannungsverhältnis mit Freiheitspositionen anderer. Nicht jede Datenverarbeitung ist zugleich eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts, diese muss positiv (zusätzlich zum Vorgang des Verarbeitens) im Rahmen einer Abwägung festgestellt werden.
Ergänzung des Kriterienkataloges des EuGH
Neben der Sensibilität der Daten und der Figur der (relativen und absoluten) Person der Zeitgeschichte, die im EuGH-Urteil anklingt, lassen sich weitere Abwägungsfaktoren benennen:
- Für Meinungsäußerungen stellen Schmähkritik und Verleumdung Grenzen dar, unabhängig davon, ob mit der Meinungsäußerung personenbezogene Daten verbunden sind oder nicht. Die ausdifferenzierte Interessenabwägung außerhalb der Schmähkritik könnte durch einen „datenschutzrechtlichen Ansatz“ untergraben werden, indem der Betroffene schlicht gegen die Datenverarbeitung, nicht aber die (ehrverletzende) Äußerung vorgeht.
- Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgt nach der Lebach-Entscheidung des BVerfG ein Recht auf Resozialisierung. Jeder Täter müsse die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gesellschaft einzuordnen. Dem Öffentlichkeitsinteresse an einer Berichterstattung (hier: Auffindbarkeit über eine Suchmaschine) sind zeitliche Schranken gesetzt, um eine bevorstehende Wiedereingliederung zu ermöglichen.
- Die Ubiquität der Suchergebnisse und der Umstand, dass Informationen aus verschiedensten Quellen und Lebensbereichen aggregiert werden – sodass ein Abbild der Online-Persönlichkeit entsteht –, sprechen für eine hohe Eingriffsintensität. Allerdings führt die Herausnahme von Einzelergebnissen nicht unbedingt zu der vom Betroffenen erwünschten Klar- bzw. Richtigstellung.
- In umgekehrter Herangehensweise als der EuGH ließe sich aus der Rechtmäßigkeit der Ursprungsveröffentlichung die Rechtmäßigkeit des Hinweises auf diese Veröffentlichung ableiten, soweit entgegenstehende Anhaltspunkte fehlen.
- Negativ geht der EuGH zutreffend davon aus, dass der Anspruch auf Nichtanzeige nicht von einem Schaden durch das Aufführen in der Ergebnisliste abhinge, umgekehrt ist ein (drohender) materieller oder immaterieller (Ruf-)Schaden aber ein abwägungsrelevanter Gesichtspunkt.
- Nach der bisherigen Rechtsprechung zum Umgang von Online-Archiven mit Fällen der Verdachtsberichterstattung ist eine erneute Rechtmäßigkeitsprüfung der Ausgangsveröffentlichung nur erforderlich, wenn nicht deutlich gemacht wird, dass es sich um einen Archivbeitrag handelt, also nur, wenn es tatsächlich zu einem erneuten Verarbeitungsvorgang kommt. Da in der Regel jedes Archiv mit einer Suchfunktion versehen ist, muss dies ggf. – ausgehend vom Urteil des EuGH – bereits als erneute Datenverarbeitung angesehen werden. Archive ohne Suchfunktion bleiben aber wertlos.
- Ein „Presseprivileg“ für bestimmte Online-Archive mag auf den ersten Blick zielführend sein, die Vorenthaltung für andere Anbieter erscheint aber willkürlich, vor allem wenn man die Verdienste der Suchmaschinen für die Erschließung der Informationsinhalte des Internets berücksichtigt. So wie eine unerschlossene Sammlung von historischen Akten keinerlei Mehrwert bietet, wäre das Internet ohne Suchmaschinen nicht nutzbar. Nicht nur die dauerhafte Speicherung vergangener Geschehnisse ist für die Informationsfreiheit essenziell, sondern auch die Auffindbarkeit.
- Zu berücksichtigen sind die vergangene Zeitspanne, veränderte persönliche Lebensumstände des Betroffenen (bspw. eine Geschlechtsumwandlung), im Falle von Prominenten ein Rückzug aus der Öffentlichkeit oder der Umstand, dass die relevanten Daten vom Betroffenen ins Netz gestellt wurden. Selbst hinsichtlich der zeitlichen Dimension verbieten sich pauschale Bewertungen: so spricht eine lange Zeitspanne zwar für ein „Verblassen“ des Öffentlichkeitsinteresses, zugleich ist die Persönlichkeitsrelevanz von historischem „Archivwissen“ ggf. aber weniger ausgeprägt.
- Der Umstand, dass viele – auch Normalbürger – ein Interesse daran haben, im Internet aufgefunden zu werden, sie also die Vorteile der Suchmaschinen beanspruchen, nicht aber bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen, kann relevant sein, wenn nur Einzelveröffentlichungen aus dem Suchindex getilgt werden sollen.
- Und schließlich die – vom EuGH in einem Halbsatz abgehandelten – wirtschaftlichen Interessen der Suchmaschinen, deren Geschäftsmodell auf der Zusammenführung möglichst vieler (rechtmäßiger!) Quellen des Internets basiert. In der öffentlichen Diskussion wird oft vernachlässigt, dass die betroffenen Anbieter, auch „amerikanische Großkonzerne“, Träger von Grundrechten sind.
Daher bedarf es (rechtspolitisch) eines Abgleichs dieser grundrechtlich zugrunde zu legenden Abwägungskriterien in (bi- bzw. tripolaren) Verhältnissen mit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung durch Datenschutzrichtlinie und BDSG. Mit diesen kommt der Staat (bzw. die EU) seiner Schutzpflicht für das Persönlichkeitsrecht nach, hat dabei aber einen schonenden Ausgleich (im Sinne der praktischen Konkordanz) mit den Interessen der Anbieter und der interessierten Öffentlichkeit herzustellen. Insofern sollte vor allem bei der Reform des EU-Datenschutzrechts eine Überbetonung des Persönlichkeitsschutzes vermieden werden.
Untaugliche Brückentechnologie auf dem Weg in die Post-Privacy-Ära?
„Je mehr Menschen nach Strategien suchen, ihre Sterblichkeit anders als durch Fortpflanzung zu überwinden, desto weiter wird die Nachfrage nach umfassender digitaler Speicherung steigen. Dies führt zu einer Welt, die auf das Erinnern ausgerichtet ist und wenig Anreize kennt, Dinge zu vergessen.“2 Wie sich in einer solchen, noch dazu ubiquitär und global vernetzten Welt die Datenherrschaft des einzelnen Nutzers rechtlich realisieren lässt, bleibt fraglich. Einen ersten Schritt in diese Richtung ging der EuGH mit der Schaffung eines »Rechts auf Vergessenwerden«. Ob in diesem Zusammenhang mit Sascha Lobo von einer »untauglichen Brückentechnologie« gesprochen werden kann, mag dahinstehen. Die Diskussion zeigt jedoch, dass sich Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung derzeit in einer Übergangsphase befinden, an deren Ende wahrscheinlich noch kaum konkretisierbare Konzepte einer individuellen Datensouveränität, von Datenhoheit oder einer Monetarisierung von personenbezogenen Daten durch den Betroffenen stehen werden. Im Zuge der Reformdebatte müssen derartige Alternativmodelle zum bisherigen Verbotsprinzip diskutiert werden – ohne dass man sofort den Geist einer „Post-Privacy-Ära“ fürchten müsste.
- Zutreffend weist Sascha Lobo darauf hin, dass es auch ohne rechtlich begründete Eingriffe keine „natürliche Ordnung der Suchergebnisse“ gebe. [↩]
- V. Mayer-Schönberger, Delete, 2010, S. 111. [↩]
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Ich finde, da fehlen noch zwei Aspekte:
1.) Beim Ego-Surfen finde ich regelmäßig nicht nur Informationen über mich, sondern auch über den anderen Wolfgang Ksoll. Die Suchmaschine stellt also nicht Fundstellen zu meiner Person, sondern nur Fundstellen zu meinem Namen. Schützt das BDSG die Person oder den Namen?
2.) Wir haben eine Onlineasymmetrie. Wenn ich einer Zeitung zu meiner Person (oder durch mich mittels einer Anzeige) personenbezogene Daten veröffentlicht werden, habe ich kein Recht in allen Bibliotheken dieser Welt, diese meine personenbezogenen Daten löschen zu lassen (aus der Zeitung ausschneiden zu lassen). Jede Bibliothek hätte das Recht, wenn sie es wollte, mich auch in ihrem Katalog zu führen. Bei Onlineveröffentlichungen (und Suchmaschinen finden nur Veröffentlichungen) erfinde ich aber Persönlichkeitsrechte nach BDSG (für Maschinen in USA, China, Russland) die man bei analogen Veröffentlichungen und Katalogen nicht hat. Hier entfernt sich das Online-Richterrecht von dem von Parlamenten kodifizierten Recht für den Persönlichkeitsschutz (abgesehen auch noch von der Unmöglichkeit, jede Suchmaschine verdonnern zu müssen, aber die Quelle darf trotz angeblichen Persönlichkeitsrecht öffentlich zugänglich bleiben).
Auch der Verweis auf das Lebach-Urteil von 1973 zur Einschränkung der Rundfunkfreiheit ist unstimmig mit Hinblick auf die Resozialisierung. Für die Pressefreiheit werden diese Einschränkunegn ja nicht gemacht,. Nirgendwo werden ausgedruckte Zeitungen zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten wieder eingesammelt. Das EUGH sieht eher nach unreifem Schnellschuss aus als nach beständigem Recht, dem auch Parlamente zustimmen könnten.