Lange Wartezeit ade? Vorabentscheidungsfragen werden nun auch vom EuG beantwortet

von CHRISTINA JACOBS

Den EuGH erreichen jedes Jahr hunderte Vorabentscheidungsersuchen. Entsprechend lange dauert es, bis die vorlegenden Gerichte ihre Antworten erhalten. Doch ab dem 1. Oktober 2024 können Vorabentscheidungsfragen in bestimmten Sachbereichen nun auch vom EuG beantwortet werden. Der Gerichtshof hatte Ende 2022 einen entsprechenden Vorschlag zur Satzungsänderung vorgelegt. Diese Änderungen wurden vom Europäischen Parlament und dem Rat unter Mitwirkung des Gerichtshofs und der Kommission beschlossen. Dabei war lange und viel über Möglichkeiten der Arbeitsentlastung des EuGH durch die Einbeziehung des EuG diskutiert worden. Jetzt stellt sich die Frage wie die Zuständigkeit tatsächlich neu aufgeteilt ist und welche möglichen Folgen damit verbunden sind.

Die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens

Das in Art. 267 AEUV und Art. 19 Abs. 3 lit. b EUV verankerte Vorabentscheidungsverfahren soll die einheitliche Interpretation des Unionsrechts sichern. Mitgliedstaatliche Gerichte als Unionsgerichte im funktionellen Sinne können, bzw. müssen in bestimmten Fällen, dem EuGH Fragen betreffend die Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht vorlegen. Gleichzeitig hat das Vorabentscheidungsverfahren eine wichtige Bedeutung für den Individualrechtsschutz in der EU. Die Möglichkeiten, direkten Rechtsschutz vor dem EuGH zu erlangen, sind begrenzt. Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind dafür verantwortlich, wirksamen Rechtsschutz in den durch das Unionsrecht erfassten Bereichen zu leisten, vgl. Art. 19 Abs. 1 S. 3 EUV. Hier spielt der dezentrale Rechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren eine zentrale Rolle. Hält das nationale Gericht in einem Verfahren die Einbeziehung des EuGH für notwendig, so setzt es das Verfahren aus und richtet sein Ersuchen an den EuGH. Für die Beantwortung dieser Vorabentscheidungsfragen ist gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV und Art. 256 Abs. 3 AEUV grundsätzlich der Gerichtshof zuständig.

Hohe Arbeitsbelastung

Die Anzahl an Vorabentscheidungsersuchen die den EuGH erreichen, ist in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen und macht den größten Teil an Verfahren vor dem EuGH aus. Im Jahr 2021 machten von insgesamt 838 neu eingegangenen Verfahren 567 Vorabentscheidungsersuchen aus. Im darauffolgenden Jahr wurden 806 neue Rechtsverfahren verzeichnet, von denen 546 Verfahren nach Art. 267 AEUV waren. Dies entspricht jeweils 67,7 Prozent der neuen Verfahren (Jahresberichte 2021 und 2022). Zum Vergleich: 2007 waren es noch 45,7 Prozent und nur 265 Vorabentscheidungsersuchen. Diese Entwicklung lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen: Neben der gestiegenen Anzahl an Mitgliedstaaten im Vergleich zu vor 20 Jahren hat auch die unionale Rechtsetzung an Umfang zugenommen und betrifft zahlreiche Rechtsbereiche. Nationale Richter:innen sehen sich daher zunehmend mit den Einflüssen des Unionsrechts konfrontiert und wenden sich entsprechend an den EuGH. Die steigende Vorlagefreudigkeit ist auch ein Hinweis darauf, dass die Bereitschaft, den EuGH mit rechtlichen Fragestellungen zu befassen, bei den Richter:innen generell gestiegen ist. Vor dem Hintergrund der Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens ist diese große Anzahl an Vorlagen erfreulich. Kehrseite dessen ist, dass mitgliedstaatliche Gerichte 2022 im Schnitt 17,2 Monate auf die Antwort des Gerichtshofs warten mussten.

Grundlagen der Änderung

Diese Entwicklung haben auch die Mitgliedstaaten erwartet und bereits in den Vertrag von Nizza Art. 256 Abs. 3 AEUV eingefügt. Dieser sieht vor, dass in bestimmten Sachbereichen, die in der Satzung des Gerichtshofs festgelegt werden, das EuG für Vorabentscheidungen zuständig ist. Lange Zeit wurde eine Satzungsänderung mit der Begründung abgelehnt, dass trotz der zunehmenden Anzahl an Anfragen die Verfahrensdauer nicht ansteigen würde. Die Zahl an Ersuchen sowie die Komplexität der Fragestellungen haben in der Gesamtschau ein Niveau erreicht, das eine effiziente Arbeitsweise des Gerichtshofs nicht mehr ermöglicht. Daraus resultiert die Entscheidung, das EuG nach jahrelangen Diskussionen jetzt einzubeziehen. Ein weiterer Punkt betraf die personelle Ausstattung des EuG. Immerhin darf nicht vergessen werden, dass auch das EuG jedes Jahr hunderte neue Verfahren erreichen. Reformen in den letzten Jahren, wie die Erhöhung der Richter:innenstellen sowie die Änderung der Verfahrensordnung zur Beschleunigung der Arbeitsweise haben die Situation erheblich verbessert. Die Sorge, dass auch mit dem EuG die Verfahrensdauer nicht spürbar kürzer wird, ist damit gemildert.

Zukünftige Zuständigkeitsverteilung

Von Art. 256 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV wurde nun Gebrauch gemacht. In diesen sechs Sachbereichen wird ab Oktober das Gericht zuständig sein: Gemeinsames Mehrwertsteuersystem, Verbrauchsteuern, Zollkodex, zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur, Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen und für das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten. Bei der Bestimmung der zu übertragenden Sachgebiete sind verschiedene Kriterien maßgeblich gewesen. Um dem EuG bei seiner Rechtsprechung Orientierungshilfe zu geben sollte es sich um Bereiche handeln, zu denen bereits eine umfassende Rechtsprechung des EuGH vorliegt und die gleichzeitig aus Gründen der Rechtssicherheit von anderen klar abgrenzbar sind. Zudem war auch der Verfahrensanteil ein Faktor. Immerhin soll die Entlastung des EuGH auch deutlich spürbar sein. Aus diesem Grund wurden gezielt Sachgebiete ausgewählt, die in der Regel eine hohen Anteil aller Vorabentscheidungsfragen ausmachen.

Fällt ein Ersuchen in diese Bereiche, so läuft das Verfahren nach dem neu eingefügten Art. 50b wie folgt ab: Die nationalen Gerichte legen ihre Fragen weiterhin dem Gerichtshof vor. Nachdem dieser festgestellt hat, dass das Vorabentscheidungsersuchen ausschließlich in eines oder mehrere der ausgewiesenen Sachgebiete fällt, leitet er es an das Gericht weiter. Kritische Stimmen und auch der Gerichtshof selbst sahen durch eine teilweise Zuständigkeitsübertragung auf das EuG die Kohärenz und Einheit der Rechtsprechung gefährdet. Dieser Sorge wurde im Reformprozess begegnet: Auch wenn die Fragen im Ausgang in eines oder mehrere dieser ausgewiesenen Sachgebiete fallen, bleibt der Gerichtshof dann zuständig, wenn durch das Vorabentscheidungsersuchen eigenständige Fragen der Auslegung des Primärrechts, des Völkerrechts, der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts oder der Charta auftreten. Daneben kann auch das Gericht selbst eine Rechtssache zur Entscheidung an den Gerichtshof verweisen, wenn es der Auffassung ist, dass eine Grundsatzentscheidung erforderlich ist, die die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berühren könnte. Vorabentscheidungsurteile des EuG können in Ausnahmefällen vom Gerichtshof überprüft werden, wenn die ernste Gefahr besteht, dass die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berührt wird, vgl. Art. 256 Abs. 3 UAbs. 2, 3 AEUV. Als Garant für die Kohärenz der Rechtsprechung fungiert durch diese Absicherungen also nach wie vor der EuGH.

Fazit

Die Einbeziehung des EuG kann einen entscheidenden Beitrag zur notwendigen Verfahrensbeschleunigung des EuGH leisten. Durch die Entlastung wird dieser in die Lage versetzt, sich verstärkt auf die Bearbeitung von Verfahren konzentrieren, die zentrale Grundsatzfragen aufwerfen. Ein solcher Fokus ermöglicht es, sich mit komplexen Fragen noch ausführlicher befassen und den notwendigen Austausch mit vorlegenden Gerichten zu suchen. Ob das EuG angesichts seiner Arbeitsbelastung tatsächlich in der Lage ist die Vorabentscheidungsfragen zügig zu bearbeiten, wird sich zeigen. Im besten Fall können die vorlegenden Gerichte durch schnellere Antworten rascher verbindliche Entscheidungen treffen. Zeitnaher Rechtsschutz stärkt das Vertrauen in das unionale Rechtssystem und fördert die Rechtssicherheit.  Falls die Verkürzung der Verfahrensdauer bei den nationalen Gerichten aber zu einem deutlichen Anstieg der Vorlagefreudigkeit führt und EuGH sowie EuG dadurch erneut überlastet werden, müssen die Institutionen neue Reformen erarbeiten, um dieser Entwicklung zu begegnen und die Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens zu sichern.

Zitiervorschlag: Jacobs, Christina, Lange Wartezeit ade? Vorabentscheidungsfragen werden nun auch vom EuG beantwortet, JuWissBlog Nr. 65/2024 v. 26.09.2024, https://www.juwiss.de/65-2024/.

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