von MARVIN KLEIN
Am 26.09.2024 spielte sich im Thüringer Landtag medienwirksam ein politisches und verfassungsrechtliches Drama ab: Die Konstituierung des Landtags scheiterte zunächst an der eigenwilligen und verfassungswidrigen Sitzungsleitung des Alterspräsidenten Jürgen Treutler (AfD). Der Thüringer Verfassungsgerichtshof („VerfGH“) erteilte schließlich mit Beschluss vom 27.09.2024 allen Beteiligten eine klare Lektion zur Parlamentsautonomie.
Anlass des Dramas vom 26.09.2024
Die Landtagswahl von Thüringen hat das politische Kräfteverhältnis im Freistaat maßgeblich geändert. Die AFD stellt 32 der 88 Abgeordneten und hat so nicht nur eine Sperrminorität erworben, sondern nimmt für sich als stärkste Fraktion auch ein alleiniges Vorschlagsrecht nach der bisher geltenden Geschäftsordnung (§ 2 Abs. 2 GOLTTH) in Anspruch (ob dieses Verständnis so korrekt ist und ob aus dem Vorschlagsrecht der Geschäftsordnung auch eine Pflicht besteht, einen Landtagspräsidenten zu wählen, hat bei JuWiss Rico Neidinger diskutiert).
Die bisherige Präsidentin des 7. Landtags Birgit Pommer verschickte die Einladung zur konstitutiven Sitzung mit einer vorläufigen Tagesordnung, die vor der Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten des 8. Landtages einen Antrag zur Änderung der Geschäftsführung vorsah.
Wie zuvor schon zu erwarten war, kam es zum Eklat bei der konstituierenden Sitzung (der zeitliche Verlauf und die Eskalation wurde dezidiert im Verfassungsblog dargestellt). Der von der AFD gestellte Alterspräsident verweigerte die Feststellung der Beschlussfähigkeit sowie die Abstimmung über die neue Geschäftsordnung vor der Wahl von Präsidentin oder Präsident des Landtages. Der Alterspräsident präsentierte mit Rückendeckung der AFD-Fraktion eine Rechtsmeinung, die dem Selbstorganisationsrecht des Parlamentes diametral entgegensteht. Demnach sollte sich aus der Reihenfolge der Absätze in Art. 57 ThürVerfG ergeben, dass zunächst die Wahl erfolgen müsse, ehe sich der Landtag eine neue Geschäftsordnung geben könne. Die alte Geschäftsordnung gelte so lange nach § 1 ThürGOG fort (zu den rechtlichen Zweifeln an eine solche Wirkung etwa Fabian Michl). Demgegenüber hat der VerfGH für Klarheit gesorgt und sich der Auffassung der CDU angeschlossen, wonach die Festlegung der Tagesordnung in der konstituierenden Sitzung Teil der Parlamentsautonomie ist (VerfGH, 36/24).
Wesentliche Grundaussagen des Beschlusses
1. Grundsatz der Diskontinuität
Jedes Parlament genieße die „Geschäftsordnungsautonomie“ als Ausdruck der Parlamentsautonomie. Sie gelte für die Dauer der Wahlperiode für das Parlament. Eine Bindung für nachfolgende Parlamente sei rechtlich nicht möglich („Grundsatz der Diskontinuität“). Dies hat bereits das Bundesverfassungsgericht für die Geschäftsordnung des Bundestages klargestellt (BVerfGE 1, 144 [148]) (und für das Landrecht gilt hier nichts anderes.
Für gewöhnlich teile daher die sitzungsleitende Person bei einem konstituierenden Parlament zu Beginn mit, dass bis zur Beschlussfassung vorläufig nach der alten Geschäftsordnung verfahren werde. Das regelmäßige Schweigen daraufhin gelte als konkludente Billigung. In Thüringen bedürfe es einer solchen konkludenten Anwendung der bisherigen Geschäftsordnung jedoch nicht, da sie gemäß § 1 des Thüringer Geschäftsordnungsgesetzes („ThürGOG“) fortgelte. Da dieses Gesetz jedoch nur ein einfaches Gesetz sei und somit im Rang unter der Thüringer Verfassung stehe, könne es die landesverfassungsrechtlich verankerte Parlaments- und Geschäftsordnungsautonomie nicht beschränken. Gleichwohl habe die Geschäftsordnung des 7. Landtags bis zum Antrag auf deren Änderung fortgegolten.
2. Tagesordnung wird durch Plenum festgesetzt
Nach der Geltung der alten Geschäftsordnung hätte der Alterspräsident danach fragen müssen, ob der vorläufigen Tagesordnung, die durch die Einladung übermittelt worden sei, widersprochen werde (§ 21 Abs. 2 Satz 1 ThürGOLT). Fehle ein Widerspruch, gelte die Tagesordnung als festgesetzt (§ 21 Abs. 2 Satz 2 ThürGOLT). Würde der Tagesordnung widersprochen, so stelle das Plenum die Tagesordnung fest (§ 21 Abs. 3 S. 1 ThürGOLT).
Dieses aus der Geschäftsordnung abgeleitete Recht ist Ausdruck des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts. Das Parlament, und nicht der Alterspräsident, entscheidet durch seine autonome Willensbildung über den Beratungsgegenstand. Dieses Recht umfasst nicht nur den Gegenstand, sondern auch den Zeitpunkt der Abstimmung.
3. Abstimmung über Geschäftsordnung in Konstituierungsphase möglich!
Der Alterspräsident leitete demgegenüber aus § 1 Abs. 4 ThürGOLT, wonach der Landtag nach Feststellung der Beschlussfähigkeit die Präsidentin oder den Präsidenten des Landtags zu wählen habe, her, dass eine Abstimmung über die Geschäftsordnung erst danach erfolgen könne.
Dieser Auffassung tritt der VerfGH entgegen. Die fortgeltende Geschäftsordnung hindere das Parlament nicht daran, bereits in der Konstituierungsphase, also vor der Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten, eine neue Geschäftsordnung zu beschließen. Auch Art. 57 ThürVerfG und die Abfolge der sonstigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen gäben keine konkrete Reihenfolge der Konstituierungshandlungen vor. Da es keine verfassungsrechtlich zwingende Reihenfolge gebe, stehe dem Parlament im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts die Befugnis zu, in jeder Phase der Konstituierung über eine neue Geschäftsordnung zu debattieren und abzustimmen. Lediglich müssten zuvor die einzelnen Mitglieder aufgerufen und die Beschlussfähigkeit des neuen Landtags festgestellt werden. Dafür spreche auch der Grundsatz der Diskontinuität, der im Regelfall vorsähe, dass sich ein Parlament zunächst über seine Arbeitsgrundlage einigt, bevor es – etwa über die Präsidentin oder den Präsidenten – abstimme.
4. Kein verfassungsrechtliches Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion
Nach der bisherigen Geschäftsordnung schlägt die stärkste Fraktion den Landtagspräsidenten oder die Landtagspräsidentin vor. Durch die zur Abstimmung gebrachte neue Geschäftsordnung soll das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion zukünftig entfallen.
Der VerfGH stellt in seiner Eilentscheidung klar, dass eine Abkehr vom Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion verfassungskonform ist. Art. 57 Abs. 1 ThürVerf schreibt lediglich vor, dass „der Landtag aus seiner Mitte den Präsidenten, die Vizepräsidenten und die Schriftführer“ wählt. Aus dem Wortlaut „aus seiner Mitte“ ergebe sich, so der ThürVerfGH, dass verfassungsrechtlich kein Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion vorgesehen sei. Würde nur die stärkste Fraktion einen Kandidaten benennen dürfen, würde dies faktisch bedeuten, dass keine Wahl „aus seiner Mitte“ mehr möglich sei. Auch die Entstehungsgeschichte der Thüringer Verfassung lasse keinen Anspruch der stärksten Fraktion erkennen.
Auch aus Verfassungsgewohnheitsrecht lasse sich kein Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion ableiten. Der VerfGH statuiere, dass Verfassungsgewohnheitsrecht durch eine über längere Zeit „geübte Staatspraxis“ entstehen könne, die von den Beteiligten als rechtlich verbindlich angesehen werde. Der Gerichtshof stellt zwar fest, dass eine solche verfassungsgewohnheitsrechtliche Praxis für die Wahl des Bundestagspräsidenten oder der Bundestagspräsidentin angenommen werde, doch anders als im Bund (wo dies seit 1920 praktiziert werde), gebe es in Thüringen weder eine so lange Praxis noch Anhaltspunkte für eine Rechtsüberzeugung der verfassungsrechtlich Verpflichteten.
Fazit
Die Entscheidung und Begründung des VerfGH ist verfassungsrechtlich und demokratietheoretisch überzeugend und entgegen den massenhaft wahrnehmbaren Äußerungen auf X (ehemals Twitter) und anderen Social-Media-Plattformen kein Ausdruck eines „Altparteienkartells“, das auch vor der Unabhängigkeit von Gerichten keinen Halt mache. Das Parlament genießt Autonomie und muss sich – ungebunden von vergangenen Geschäftsordnungen – eine eigene Arbeitsgrundlage und Tagesordnung geben können. Eine zwingende Konstituierungsreihenfolge gibt die Landesverfassung nicht vor. § 1 ThürGOG und die fortgeltende Geschäftsordnung können diese Parlamentsautonomie nicht beschneiden.
Vor dem Hintergrund der starken Begründung des Gerichtes erscheint es misslich, dass Richter Jörg Geibert an der Entscheidung mitgewirkt hat. Ein gesetzlicher Ausschluss nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 ThürVerfGHG dürfte jedenfalls deswegen ausscheiden, da die Fraktion eine rechtsfähige Vereinigung ist, mit der Richter Geibert naturgemäß nicht verwandt sein kann. Trotz der engen Voraussetzung der Befangenheit wäre es zumindest legitimatorisch empfehlenswert gewesen, wenn sich Richter Geibert selbst für Befangen erklärt hätte (§ 14 Abs. 4 ThürVerfGHG). So hat die Entscheidung jedenfalls – trotz großer Überzeugungskraft -– einen unnötigen und fahlen Beigeschmack.
Immerhin hat sich der Alterspräsident bei der Fortsetzung der konstituierenden Sitzung am Samstag an die einstweilige Verfügung des VerfGH gehalten, sodass die Konstituierung unter einer neuen Geschäftsordnung und mit der Wahl eines Präsidenten (König, CDU) abgeschlossen werden konnte.
Zitiervorschlag: Klein, Marvin, Die Parlamentsautonomie des Thüringer Landestages vor dem Verfassungsgerichthof, JuWissBlog Nr. 66/2024 v. 3.10.2024, https://www.juwiss.de/66-2024/.
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