von LEA KÖHNE
Seit den erneuten israelischen Angriffen auf Stellungen der Hisbollah auf libanesischem Staatsgebiet sitzen 1.800 deutsche Staatbürger*innen de facto fest. Für reguläre Flüge gibt es kaum noch Tickets. Einige Diplomat*innen sollen sich bereits mit privat bezahlten Luxusbooten aus dem Libanon absetzen. Allen anderen ausländischen Staatsbürger*innen im Libanon bleibt nur eine Hoffnung: Eine Rettung durch den Heimatstaat. Doch ob ein Recht auf Repatriierung (von lat.: patria = Heimat und re = zurück), also Rettung, aus dem Ausland besteht, ist (völker)rechtlich unklar. Die Bundesregierung macht es sich jedenfalls zu leicht, wenn sie anmahnt, dass Deutsche sich nicht auf eine Rettungsmission verlassen sollen. Der Beitrag gibt einen Einblick in die verfassungs-, europa- und völkerrechtlichen Debatten rund um ein Recht auf Repatriierung bzw. Rettung, die sich gerade unmittelbar auf das Leben der betroffenen Menschen auswirken. Rettungen gegen den Willen des Staates, aus dem evakuiert wird, bleiben dabei außen vor.
Der deutsche Rechtsrahmen
Ein Recht auf Schutzgewährung bei „kriegerischen oder revolutionären Verwicklungen“ ergibt sich einfachgesetzlich bereits aus § 6 Konsulargesetz. Demnach muss der Staat seinen Bürger*innen Schutz gewähren. Es werden jedoch keine Angaben zu den konkreten Modalitäten gemacht, sondern lediglich auf „erforderliche Maßnahmen“ abgestellt. Eine spezifische Pflicht zur Rückführung ergibt sich daher nicht direkt aus dem Gesetz.
Gegebenenfalls ließe sich ein Recht auf Repatriierung aber aus verfassungsrechtlichen Schutzpflichten herleiten. Hier könnte jedoch bereits die Anwendbarkeit des Grundgesetzes problematisch sein: Die betroffenen Personen befinden sich außerhalb Deutschlands und damit theoretisch auch außerhalb des Wirkrahmens des Grundgesetzes. Das Grundgesetz stellt aber den Menschen in das Zentrum des Grundgesetzes – etwaige Schutzpflichten für Staatsangehörige können damit nicht an der Grenze enden. Insofern hatte das BVerfG bereits mehrfach festgestellt, dass staatliche Schutzpflichten bestehen, wenn Rechtspositionen deutscher Staatsbürger*innen durch oder in fremden Staaten beeinträchtigt werden und insofern schutzbedürftig sind (z.B. hier, Rn. 136; hier, Rn. 16.)
Beispiel IS-Rückkehrerin
Die Frage nach einem Recht auf Rückführung bzw. Rettung wurde 2019 vor dem VG Berlin sowie darauffolgend dem OVG Berlin-Brandenburg, verhandelt. Die Gerichte setzten sich mit der Frage auseinander, ob eine deutsche Frau und ihre drei Kinder einen Anspruch auf Rückführung nach Deutschland besitzen. Die Frau war mit ihrer Familie nach Syrien gereist und hatte sich dort dem IS angeschlossen. Seit dem Sieg über den IS lebten sie und ihre Kinder in einem der vielfältigen Internierungscamps, die immer wieder für die menschenunwürdigen Lebensbedingungen kritisiert wurden (etwa hier). Die Bundesregierung sprach sich wegen der (potenziellen) Sicherheitsgefährdungen für die Bundesrepublik und außenpolitischer Belange gegen eine Repatriierung aus. Das Gericht gab der Klägerin recht und leitete – jedenfalls für die betroffenen Kinder – einen Schutzanspruch aus Art. 2 II 1 GG her. Der Staat ist verpflichtet, sich dort schützend und fördernd vor die betroffenen Rechtsgüter des*der Einzelnen zu stellen, wo diese*r nicht selbst für seine*ihre Integrität sorgen kann. Hier bestünde eine solche Gefahr für Leib und Leben.
Ein Anspruch auf Tätigwerden bestand insofern laut Gericht (VG Berlin, para. 14). Bezüglich der Art und Weise der Schutzpflichterfüllung aus Art. 2 II 1 GG lasse sich den Grundrechten regelmäßig keine konkreten Anforderungen entnehmen (vgl. hier, Rn. 24). Der Exekutive komme ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Dieses verdichte sich jedoch wegen der lebensfeindlichen Situation in den Camps aber auf die Herbeiführung der Rückkehr der Antragsteller*innen nach Deutschland, da Hilfe vor Ort nicht möglich und andere Maßnahmen daher gänzlich ungeeignet seien (OVG Berlin, Rn. 23 f.; ähnlich VG Berlin, Rn. 20). Die Gerichte stellten zudem fest, dass eine Rückführung trotz fehlender örtlicher Zuständigkeit nicht unmöglich sei: Unter Heranziehung von Nichtregierungsorganisation, die zur Hilfeleistung bereit seien und mit Einverständnis der Transitstaaten sei eine Rückführung aus dem kurdischen Autonomiegebiet vielleicht schwierig, aber jedenfalls nicht unmöglich (OVG Berlin, Rn. 49.).
Im vorliegenden Fall hat sich die abstrakte Pflicht zur Schutzgewährung durch eine Ermessensreduzierung konkret auf eine Rückführung zugespitzt. Wie der Staat diese Rückführungspflicht umsetzt (Chartern von Flügen, Nutzung von Militärflugzeugen etc.), hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Zwar spielen sich die Entscheidungen im Kontext der Repatriierung von IS-Sympathisant*innen ab, zeigen aber umso mehr, dass weder die fehlende territoriale Zuständigkeit noch die „Schwierigkeit“ der Rückführung eine Pflicht zur Rettung grundsätzlich verhindert. Die Entscheidung fokussiert sich primär auf die Schutzwürdigkeit der Kinder. Grundsätzlich wird jedoch deutlich, dass die Bundesregierung bei einer nachweisbar konkreten Gefahr für Leib oder Leben gut begründen muss, inwieweit ausreichender Schutz vor Ort existiert und ob eine Rettung tatsächlich unmöglich ist.
Dieser Rechtsgedanke ist einfachgesetzlich auch in § 5 VII Konsulargesetz verankert, der besagt, dass die Hilfeleistung bei vorherigem Missbrauch abgelehnt werden kann – es sei denn, dass im Falle der Ablehnung ein ernster Nachteil an Leib, Leben oder Gesundheit erlitten würde. Diese Erwägungen können auch mit Blick auf Evakuierung aus anderen Krisengebieten, wie dem Libanon, fruchtbar gemacht werden: Hier forderte die Bundesrepublik ihre Bürger*innen mehrmals zur Rückreise auf, repatriiert die Bürger*innen aber auch bei bzw. trotz Missachtens etwaiger Warnungen (vgl. hier, 18515).
Europarechtliche (Pflicht zur?) Kooperation
Im Europarecht bleibt die Schutzdichte wesentlich hinter dem nationalen Recht zurück. Grundsätzlich verbleibt die primäre Zuständigkeit des Katastrophenschutzes gem. Art. 6 f. AEUV bei den einzelnen Mitgliedsstaaten. In der Praxis wird die Krisenbewältigung oft über den EU Civil Protection Mechanism abgewickelt, durch welchen sich die Staaten gegenseitig logistisch und planerisch unterstützen können. In diesem Rahmen wurden bereits mehrmals Repatriierung durchgeführt, etwa in Afghanistan (2021) und während der Covid-19 Pandemie (2020/21). Über diese rein zwischenstaatliche Kooperationsmöglichkeit hinaus, könnte sich eine individualschützende Wirkung im Falle einer menschen- oder naturverursachten Katastrophe allenfalls aus einer Zusammenschau der Art. 46 GRCh und Art. 20 II c), 23 AEUV ergeben. Danach können sich EU-Bürger*innen für Repatriierung oder Nothilfe an die Botschaften anderer EU-Mitgliedstaaten wenden, wenn sie Hilfe benötigen, z.B. weil der eigene Mitgliedstaat keine Botschaft oder kein Konsulat in einem Drittland hat oder keinen konsularischen Schutz gewähren kann (vgl. dazu: Art. 2 Richtlinie (EU) 2015/637 des Rates v. 20.04.2015). Dieser Schutz kann gem. Art. 9 e) der Richtlinie explizit auch die Repatriierung umfassen. Den Mitgliedstaaten kommt dabei jedoch ein besonders großer Beurteilungsspielraum zu.
Der völkerrechtliche Blick
Ergibt sich aus völkerrechtlichen Rechtsquellen ein Recht auf Rettung? Das kommt drauf an, wen man fragt. Sowohl einzene UN-Vertragsorgane als auch der EGMR haben sich zu einem „Recht auf Repatriierung“ eingelassen. Auch hier stand die Rettung von in Gefängnislagern im Nordosten Syriens internierten Frauen und Kindern im Zentrum – dieses Mal gegenüber Frankreich. Der UN-Folter- und der Kinderausschuss kamen zu dem Ergebnis, dass sich unter anderem aus spezifisch kinderrechtlichen Regelungen sowie aus dem Recht auf Leben und dem Recht gegen Folter ein solches „Recht zur Repatriierung“ ergibt. Diese Entscheidungen waren größerer Kritik ausgesetzt, da die Anwendung der Anti-Folter- und der Kinderrechtskonvention Hoheitsgewalt („jurisdiction“) des Staates voraussetzt (vgl. etwa Milanovic und Emberland). Hatte es bis dato der effektiven Kontrolle bedurft, sollte nun die Fähigkeit, Schutz zu gewähren, ausreichen.
Kurz darauf entschied der EGMR – im Gegensatz zu den Vertragsorganen –, dass ein Recht zur Repatriierung nicht bestehe. Seitens Frankreich läge schon mangels Hoheitsgewalt kein Verstoß gegen das Folterverbot vor (Rn. 189 ff.; dazu die Analysen von Mittrop und Lepoutre). Hingegen bestehe ein Recht auf Einreise aus Art. 3 II des vierten Zusatzprotokolls zur EMRK. Dieses vermittle aber kein Recht auf aktive Rückführung, sondern nur ein Recht darauf, dass die Entscheidung über die Rückführung gegen Willkürlichkeit gesichert ist (Rn. 272 ff.).
Hieran wird deutlich: Zwar gibt es ein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Rückkehr ins eigene Staatsgebiet (vgl. Art. 12 IV IPbpR, Art. 3 II Viertes EMRK-Protokoll; Art. 22 V Amerikanische Konvention über Menschenrechte; Art. 12 II Afrikanische Charta der Menschenrechte; Art. 13 II Universelle Erklärung der Menschenrechte), dieses entpuppt sich in vielen Situationen aber als stumpfes Schwert. Ein bloßes Recht auf Rückkehr ohne eine aktive Pflicht der Staaten, diese Rückkehr zu ermöglichen, kann in manchen Konstellationen so sein, wie dem Häftling den Schlüssel zur Zelle zu zeigen, ohne ihm oder ihr diesen zu reichen (dazu Mehra/Paulussen).
Fazit
Je weiter man sich aus dem Souveränitätsverbund Deutschlands löst, desto mehr nehmen die Pflichten ab: Im Europa- und Völkerrecht bestehen – wenn überhaupt – bezüglich des „ob“ der Schutzgewährung rudimentäre Schutzpflichten. Die Einschätzungsprärogative bezüglich des „Wie“ ist hier besonders weit. Demgegenüber bietet das Grundgesetz einen vergleichsweise soliden Schutzstandard: Über den Bund der Staatsangehörigkeit bestehen bei Gefahren für Leib und Leben Schutzpflichten, die sich, wenn Hilfe vor Ort nicht möglich ist, zu einer Rückführungs-, also Rettungspflicht nach Deutschland verdichten. Staatsangehörige sind demnach im Ausland nicht schutzlos gestellt und dürfen sich auf staatliche Unterstützung verlassen. Ob diese Schutzpflicht im Endeffekt so weit reicht, dass Staatsbürger*innen im Ernstfall auch freigekämpft werden müssen, ist mit Blick auf die Rechtslage hingegen stark zu bezweifeln.
Zitiervorschlag: Köhne, Lea, Recht auf Rettung oder rette sich, wer kann? Der rechtliche Rahmen von Evakuierungsmissionen, JuWissBlog Nr. 68/2024 v. 10.10.2024, https://www.juwiss.de/68-2024/
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