Mit seiner Anordnung vom 22.11.2013 hat der Internationale Seegerichtshof (ISGH) entschieden, dass Russland die festgesetzten Greenpeace-Aktivisten und das unter niederländischer Flagge fahrende Schiff Arctic Sunrise gegen eine Kaution von 3,6 Mio. € freilassen muss. In dem Verfahren ging es, wie bereits berichtet, allein um die Anordnung vorläufiger Maßnahmen und nicht um eine Entscheidung in der Hauptsache. Dafür ist weiterhin ein noch einzusetzendes Schiedsgericht nach Annex VII des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) zuständig. Mittlerweile sind alle Aktivisten auf Kaution freigelassen worden, dürfen das Land aber nicht verlassen. Damit kommt Russland der Anordnung des ISGH bislang nicht nach.
Eine Mehrheit ohne Gründe
Mit deutlicher Mehrheit (19 zu 2 Stimmen) entschied der ISGH im Sinne der Niederlande. Allerdings enthält die Entscheidung keine Begründung, sondern erschöpft sich in einer Wiedergabe der niederländischen Argumente zusammen mit der Entscheidung, zu welcher der ISGH gekommen ist. Dieser Mangel an Gründen wird in dem gemeinsamen Sondervotum der Richter Wolfrum und Kelly heftig angegriffen (Rn. 5: „The Order of the Tribunal (…) appears to be over diplomatic.“). Gleichzeitig setzen die beiden Richter sich mit dem Vorbehalt auseinander, auf welchen Russland sein Nichterscheinen stützt.
Nach Ansicht des russischen Richters Golistyn, neben dem ukrainischen Richter Kulyk die einzige Gegenstimme, ist der Antrag der Niederlande auf die Anordnung vorläufiger Maßnahmen bereits unzulässig, weil der Antragsteller zuvor zum Meinungsaustausch mit dem Antragsgegner verpflichtet sei, Art. 283 SRÜ. Diese Verpflichtung besteht tatsächlich. Nach der Aussage der Niederlande gab es vor der Anrufung des ISGH bereits Gespräche zwischen den jeweiligen Außenministerien. Ob diese Gespräche der Verpflichtung zum Meinungsaustausch genügen, ist ohne weitere Informationen schwer abzuschätzen. Hierbei handelt es sich um eine typische Einwendung, welche der Antragsgegner, sofern er zum Verfahren erscheint, auf der Grundlage eigener Informationen geltend machen kann. Russland hat dies nicht getan, sondern ist dem Verfahren bewusst ferngeblieben. Folglich musste der ISGH sich mit den Informationen begnügen, welche die niederländische Seite dem Gericht zur Verfügung gestellt hat.
Geht es hier noch um die Anordnung vorläufiger Maßnahmen?
So sehr man dem Seegerichtshof im Ergebnis zustimmen möchte: in der Form von vorläufigen Maßnahmen überrascht die Entscheidung schon. Dafür muss man sich die unterschiedlichen Funktionen eines Verfahren in der Hauptsache und der Anordnung vorläufiger Maßnahmen vor Augen führen. Während in einem Hauptsacheverfahren festgestellt werden soll, ob Russland bei der Erstürmung der Arctic Sunrise tatsächlich Völkerrecht verletzt hat, geht es bei vorläufigen Maßnahmen allein darum „bis zur endgültigen Entscheidung die Rechte jeder Streitpartei zu sichern“ (Art. 290 Abs. 1 SRÜ). Durch eine solche Anordnung soll also allein weiteren Rechtsverletzungen vorgebeugt bzw. die Rechte des beantragenden Staates soweit wie möglich erhalten werden.
Dem Antrag der Niederlande zufolge hat Russland gegen eigene Rechte des Staates sowie gegen Rechte der Besatzung verstoßen, welche von den Niederlanden im Wege des diplomatischen Schutzes geltend gemacht werden. Das möglicherweise verletzte Recht der Niederlande ist die exklusive Ausübung von Souveränität des Flaggenstaates über Schiffe unter seiner Flagge. Dieses Recht wurde in dem Moment verletzt, als russische Sicherheitskräfte die Arctic Sunrise ohne die Zustimmung aus Den Haag stürmten. Aber ist dieses Recht der Niederlande immer noch in Gefahr? Die Rechtsverletzung mag in dem Sinne andauern, als dass sowohl Schiff wie auch Mannschaft seitdem niederländischer Hoheitsgewalt entzogen sind. Die jetzige Situation lässt aber keine weiteren Rechtsverletzungen erwarten, die über die bereits geschehenen hinausgehen. Allein auf vergangene Rechtsverletzungen abzustellen, würde jedoch eine Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen. Ähnlich wie im deutschen System vorläufigen Rechtsschutzes könnte man aber daran denken, Ausnahmen zuzulassen, wenn die einstweilige Anordnung zwar eine Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würde, gleichzeitig aber nur so effektiver Rechtsschutz gewährt werden kann. Dies wäre etwa der Fall, wenn die zu erwartenden Nachteile einer einstweiligen Anordnung unzumutbar sind. Hier könnte man darauf abstellen, dass Untersuchungshaft angesichts der vorgeworfenen Straftaten unverhältnismäßig ist. Dafür muss man aber auf die (Menschen-) Rechte der Aktivisten selbst abstellen.
Über das Instrument des diplomatischen Schutzes rügen die Niederlande neben der Verletzung eigener Rechte zudem die Verletzung von Rechten der Crewmitglieder der Arctic Sunrise. Mangels Kodifizierung beruht das Instrument des diplomatischen Schutzes derzeit allein auf Völkergewohnheitsrecht. An dieser Stelle sei aber auf die Draft Articles on Diplomatic Protection hingewiesen, welche den Stand des Völkergewohnheitsrechts teilweise wiedergeben. Art. 18 dieser Draft Articles sieht auch das Rechte des Flaggenstaates vor, diplomatischen Schutz zugunsten von Crewmitgliedern auszuüben. Details bleiben trotzdem unklar, denn zumindest implizit üben die Niederlande diplomatischen Schutz zugunsten aller Crewmitglieder aus, also auch solchen russischer Nationalität. Aber kann ein Staat tatsächlich diplomatischen Schutz zugunsten eines Individuums anderer Nationalität gegen den Heimatstaat dieses Individuums ausüben? Im Zusammenhang mit Flaggenstaaten ist dies nicht eindeutig geklärt. Eine ähnliche, eventuell sogar vergleichbare, Situation findet sich in Art. 8 Draft Articles. Danach können Staaten, die nicht der Heimatstaat eines Individuums sind, diplomatischen Schutz zugunsten von u.a. Flüchtlingen ausüben. Dies gilt nach Abs. 3 jedoch nicht für diplomatischen Schutz gegen den Heimatstaat. Wendet man diese Ausnahme auf den Fall der Arctic Sunrise an, so könnten die Niederlande diplomatischen Schutz nicht zugunsten der beiden russischen Aktivisten ausüben. Dennoch hat der ISGH die Freilassung aller 30 Crewmitglieder angeordnet ohne dieses Problem anzusprechen oder auch nur den Begriff „diplomatic protection“ zu erwähnen.
Daneben bleibt unklar, welche Rechte der Crewmitglieder verletzt wurden. Der Antrag spricht hier nur schwammig von „their right to liberty and security as well as their right to leave the territory“ ohne auf die völkerrechtlichen Grundlagen dieser Rechte einzugehen.
Fazit
Der ISGH trifft eine im Ergebnis sicherlich begrüßenswerte Entscheidung. Vor dem Hintergrund, dass es hier „nur“ um vorläufige Maßnahmen ging, verwirrt sie aber eher, insbesondere weil viele Punkte ungeklärt bleiben. Dies betrifft in erster Linie die Voraussetzungen, unter welchen der Gerichtshof vorläufige Maßnahmen anordnet. Die heftige Kritik von Richter Golitsyn („What is utterly incomprehensible in this connection is how the Tribunal can prescribe a provisional measure calling for all detained persons to be allowed to leave the territory under the jurisdiction of the Russian Federation, including, and this is the most astounding, the Russian nationals among them.” Rn. 46) trifft daher teilweise zu. Einige dieser Unklarheiten hätten durch eine Anwesenheit einer Gegenseite vermieden werden können.
Der ISGH äußert sich zur Frage, auf welche Rechte bei der Rechtsverletzung abstellt werden muss, wahrscheinlich deshalb nicht, weil er erkannt hat, dass beide Alternativen Probleme mit sich bringen. Stellt man allein auf die unmittelbaren Rechte der Niederlande ab, so wäre die Darlegung der Dringlichkeit schwierig geworden. Stellt man auf die von den Niederlanden über diplomatischen Schutz geltend gemachten Verletzungen der Menschenrechte der Crewmitglieder ab, so hätte sich der Gerichtshof mit den Voraussetzungen für die Ausübung von diplomatischem Schutz auseinandersetzen müssen. So oder so nähert sich der ISGH aber der Frage, ob aus dem Seegerichtshof ein Menschenrechtsgerichtshof wird.