Keine Haftung für Kunduz?

von PHILIPP STÖCKLE

Philipp StöckleDas Oberlandesgericht Köln hat am 30. April die Berufung gegen das Urteil des Landgericht Bonn zur Haftung Deutschlands für den ISAF-Luftangriff bei Kunduz vom 4. September 2009 zurückgewiesen. Der Staatshaftungsprozess, der nun wohl vor dem Bundesgerichtshof fortgeführt werden wird, ist das vorerst letzte Kapitel in den juristischen und politischen Auseinandersetzungen um Verantwortung für den Angriff, dessen Opferzahl bis heute nicht vollständig geklärt wurde.

Das Oberlandesgericht Köln hat am 30. April die Berufung gegen das Urteil des Landgericht Bonn zur Haftung Deutschlands für den ISAF-Luftangriff bei Kunduz vom 4. September 2009 zurückgewiesen. Der Staatshaftungsprozess, der nun wohl vor dem Bundesgerichtshof fortgeführt werden wird, ist das vorerst letzte Kapitel in den juristischen und politischen Auseinandersetzungen um Verantwortung für den Angriff, dessen Opferzahl bis heute nicht vollständig geklärt wurde (das OLG verweist auf die Zahl von 74 getöteten Zivilisten). In Anerkennung einer humanitären Pflicht, und gleichzeitiger Ablehnung einer Haftung, zahlte Deutschland im Jahr 2010 jeweils 5,000 $ an betroffene Familien. Im Jahr 2011 erhoben zwei Opfer, ein Mann, dessen Söhne bei dem Angriff getötet worden seien, und eine Frau, die ihren Vater und Ehemann verloren habe, Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld bzw. auf Ersatz von Unterhaltsschäden in Höhe von 40,000 € bzw. 50,000 €. Im Dezember 2013 wies das LG Bonn ihre Klagen ab. Die Begründung der Entscheidung des OLG ist seit vergangener Woche online abrufbar.

Haftung für Kriegsschäden: Kein prinzipielles Problem mehr

Neben der Beurteilung der Rechtswidrigkeit des Angriffs stellen sich bei Haftungsansprüchen von individuellen Opfern militärischer Handlungen einige weitere grundsätzliche Fragen, die zumindest in Deutschland mittlerweile jedoch geklärt erscheinen. So sind völkerrechtliche Ansprüche des Heimatstaats, hier also Afghanistans, wegen Schädigung seiner Staatsbürger nicht die „exklusive“ Form der Kriegsfolgenregulierung – die deutsche Rechtsordnung kann zudem individuelle Ansprüche gewähren. Aus dem Völkerrecht ergeben sich solche individuellen Ansprüche gleichwohl nicht: Nach Ansicht von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht ist die Geltendmachung von Haftungsansprüchen für Verletzungen des humanitären Völkerrechts weiterhin allein Staaten vorbehalten. Doch können sich solche Ansprüche aus dem deutschen Staatshaftungsrecht ergeben. Die überwiegende Meinung in der Literatur, und auch das OLG Köln in einem Urteil von 2005, halten den Amtshaftungsanspruch aus § 839 Abs. 1 BGB iVm Art. 34 S. 1 GG sachlich auf Militärhandlungen anwendbar. Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht haben diese Frage noch offen gelassen. Nicht anwendbar ist nach überwiegender Meinung hingegen der gewohnheitsrechtliche Aufopferungsanspruch, denn dieser sei auf den haftungsrechtlichen „Normalfall“ begrenzt, nicht aber auf Militärhandlungen.

Das OLG Köln geht, wie zuvor das Landgericht, von der Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs aus und hat allein diesen geprüft. Was in vielen anderen Staaten ausgeschlossen ist, nämlich individuelle Staatshaftungsansprüche für Kriegsfolgen, scheint in Deutschland somit Realität zu werden. Die oft erhobenen rechtspolitischen Bedenken gegen solche Klagen, eine Überlastung und Überforderung der Gerichte, haben sich jedenfalls im Kunduz-Verfahren erkennbar nicht verwirklicht. Angesichts des grundgesetzlich und völkerrechtlich verbürgten Rechts auf effektiven Rechtsschutz und der Interessen der, wohl unvermeidlichen, zukünftigen Opfer von deutschen Militärhandlungen ist die Anwendung des Staatshaftungsanspruchs nur zu begrüßen.

Der Luftangriff: Eine schuldhafte Amtspflichtverletzung?

Der Kern des Kunduz-Verfahrens betrifft die Verletzung drittschützender Normen des humanitären Völkerrechts. Das humanitäre Völkerrecht ist im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt in Afghanistan anwendbar und seine Beachtung gehört zu den Amtspflichten eines Soldaten. Dass der „Zweck – und nicht lediglich Reflex – des humanitären Völkerrechts und insbesondere der Zusatzprotokolle [es ist], die von bewaffneten Konflikten betroffenen Individuen zu schützen“, die Amtspflicht also gem. § 839 Abs. 3 BGB drittgerichtet ist, hatte das Landgericht erstmals ausdrücklich festgestellt. Das OLG ließ diese Frage hingegen ausdrücklich offen. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass das humanitäre Völkerrecht auch Individuen schützen und, wie das Bundesverfassungsgericht schreibt, den betroffenen Personen einen „Primäranspruch auf Einhaltung“ seiner Verbote verleihen kann. Nicht zu den drittgerichteten Amtspflichten zählt das OLG hingegen die „Rules of Engagement“ (RoE) der NATO. Die mangelnde Außenwirkung begründet es insbesondere damit, dass die Wirkung dieser Einsatzregeln „auf den internen Bereich des Militärs beschränkt“ sei, was sich schon aus deren Geheimhaltung ergebe. Für eine Berücksichtigung spricht jedoch, dass Amtspflichten sich gerade nicht nur auf das Außenrechtsverhältnis des Staates zum Bürger erstrecken, sondern sich auch aus allgemeinen Dienst- und Verwaltungsvorschriften ergeben können. Es kommt also allein darauf an, ob bestimmte RoE auch den Schutz von Zivilisten bezwecken. Das Sondervotum der SPD im Kunduz-Untersuchungsausschuss hatte einen Verstoß gegen die RoE festgestellt. Problematisch bleibt im Prozess jedoch die Einstufung der RoE als Verschlusssache.

Die Amtshaftung setzt schließlich Verschulden voraus. Fahrlässigkeitsmaßstab ist die Sorgfalt eines „objektiven Durchschnittsbeamten“. Diese Einschränkung ist im Ergebnis gleichlaufend mit den Maßstäben des humanitären Völkerrechts, das etwa zur tatbestandlichen Bewertung von unverhältnismäßigen Angriffen auf die ex-ante-Sicht eines „sorgfältigen Durchschnittssoldaten“ an der Stelle des Verantwortlichen abstellt. Das OLG differenziert in seiner Prüfung entsprechend nicht zwischen Amtspflichtverletzung und Verschulden. Eine ex-post Betrachtung, wie sie etwa die Haftungsregelungen in den Polizeigesetzen der Länder enthalten, sieht der Amtshaftungsanspruch hingegen nicht vor. Dessen Begründung de lege ferenda könnte aus Opferschutzgründen zumindest bei besonders folgenschweren Militärhandlungen gefordert sein, das humanitäre Völkerrecht fordert eine solche strikte Haftung jedoch nicht.

Nach diesen Maßstäben verneinte das OLG eine Verletzung des humanitären Völkerrechts. Es hielt sich dabei an die Feststellungen des Landgerichts gebunden, wonach Oberst Klein bei der Anordnung des Angriffs nicht von der Anwesenheit von Zivilisten in der Nähe der anvisierten Tanklaster und Taliban wusste. Ferner bestätigte es die Wertung, dass „alle in der konkreten Planungs- und Entscheidungssituation praktisch möglichen Aufklärungsmaßnahmen getroffen“ worden seien, um sicherzugehen, dass es sich bei dem Ziel nicht um Zivilisten handelte. Das OLG wies dabei insbesondere den Hinweis auf die Ablehnung einer „Show of Force“ mittels der im Luftraum befindlichen Kampfjets zurück. Es sei nicht ersichtlich, „dass ein solcher Tiefflug zu Abschreckungszwecken bessere Erkenntnisse über die Einordnung des Angriffsziels als militärisches oder ziviles Ziel erbracht hätte.“ Ein Verstoß gegen das Verbot von Angriffen auf die Zivilbevölkerung und das Gebot von Vorsichtsmaßnahmen lag aus ex-ante-Sicht also nicht vor. Das OLG verneinte ferner einen Verstoß gegen das Schonungsgebot, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Warnungsgebot, da „aus der Sicht eines objektiv pflichtgemäß handelnden Befehlshabers in der Position des PRT-Kommandeurs mit der Anwesenheit von Zivilpersonen im Zielbereich des Angriffs nicht zu rechnen war“. Wie schon das Landgericht wandte das OLG dabei auch die Regelungen des internationalen bewaffneten Konflikts an, die im nicht-internationalen Konflikt in Afghanistan allerdings nicht direkt anwendbar waren.

Ausblick: Ein Verfahren mit Vorbildfunktion

Aufgrund der eingeschränkten Tatsachenüberprüfung in der Berufung und der maßgeblichen ex-ante-Sicht war eine Aufhebung des Urteils des Landgerichts kaum zu erwarten. Beide Instanzen haben sich offensichtlich die Ablehnung tatbestandlicher Beurteilungsspielräume durch das Bundesverfassungsgericht zu Herzen genommen und überprüften die Anordnung des Luftschlags umfangreich am Maßstab des humanitären Völkerrechts. Wenngleich im Kunduz-Fall, trotz einiger Kritikpunkte, eine Verurteilung Deutschlands durch den BGH nicht zu erwarten ist, hat das Verfahren doch prinzipielle Bedeutung. Das Verfahren zeigt, dass Haftungsansprüche von Opfern bewaffneter Konflikte zumindest in Deutschland handhabbare Realität geworden sind. Dies stärkt die Kritik an der weiterhin rechtlich prekären Situation von Opfern bewaffneter Konflikte.

Kunduz, Philipp Stöckle, Staatshaftungsrecht, Völkerrecht
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Oliver Daum
    13. Mai 2015 16:53

    Hallo Philipp,

    du hast geschrieben: „Wie schon das Landgericht wandte das OLG dabei auch die Regelungen des internationalen bewaffneten Konflikts an, die im nicht-internationalen Konflikt in Afghanistan allerdings nicht direkt anwendbar waren.“

    Das ICTY hat im Tadic-Fall von 1995 festgelegt, dass die Regelungen des Humanitären Völkerrechts auf jeden bewaffneten Konflikt, also unabhängig einer Einordnung in international und nicht-international, angewendet werden und unterschied dabei nicht zwischen einer „direkten“ und „nicht direkten“ Anwendung.

    Mir war die Unterscheidung zwischen direkter und nicht direkter Anwendbarkeit des Humanitären Völkerrechts – ehrlich gesagt – auch fremd. Woher kommt diese interessante Unterscheidung? Und was bewirkt sie?

    Mit den besten Grüßen aus Kiel

    Antworten
  • Philipp Stöckle
    14. Mai 2015 11:00

    Hallo Oliver,

    ich benutze „direkte“ und „indirekte“ Anwendung hier folgendermaßen:

    da es sich in Afghanistan nach den Feststellungen beider Gerichte um einen nicht-internationalen Konflikt handelte kann Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Angriffs nur der Gemeinsame Artikel 3 und das Zweite Zusatzprotokoll von 1977 sein. Das erste Zusatzprotokoll ist nicht anwendbar. Das LG hatte das erste Zusatzprotokoll jedoch „direkt“ angewandt weil der Schutz der Zivilbevölkerung im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt nicht geringer sein dürfe. Das OLG prüft die Regeln des ZP 1 ausdrücklich, lässt die Frage ob sie anwendbar sind aber offen, weil es keine Verletzung feststellen kann.

    Mit „indirekter“ Anwendbarkeit meine ich das Heranziehen der Regeln des internationalen bewaffneten Konflikts in Afghanistan auf andere Weise, insbesondere bei der Auslegung des gemeinsamen Artikel 3 oder der Bestimmung des Völkergewohnheitsrechts. Die Verpflichtungen aus Art. 51 und Art. 57 ZP 1 sind „indirekt“ auch Teil des Rechts des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts.

    Viele Grüße!

    Philipp

    Antworten

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