Frau Fontana und Herr Seiler, jetzt reicht’s! Eine erzürnte Erwiderung auf „Früher galt, was in der Verfassung stand“

VON DOMINIK ELSER

DominikElserWas ist hier nur los? Zum wiederholten Mal verbreiten ein Bundesrichter und eine NZZ-Journalistin Halbwahrheiten. In Form des einander zuspielenden Interview-Pingpongs bekämpfen Hansjörg Seiler und Katharina Fontana den Vorrang des Völkerrechts. Dieses Interview ist nur der neueste Streich in einer grösseren Desinformationskampagne über die Stellung des Völkerrechts in der schweizerischen Rechtsordnung. (Hier und hier und hier finden sich die früheren Untaten.)

Eine Szene aus dem Alltag des öffentlich-rechtlichen Nachwuchses: Man ruft die neuesten Nachrichten aus dem Netz ab. Man freut sich, dass die (ehemals) grosse NZZ ein staatsrechtliches Thema an erster Stelle behandelt. Man liest die Überschrift und die ersten paar Sätze und will rufen: „Was für ein Blödsinn! Die wissen doch, dass das nicht stimmt! Warum lässt man die das schreiben!“ Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hat, wollen wir die Behauptungen von Frau Fontana und Herr Seiler genauer untersuchen.

Aussagen zwischen Unfug und Irreführung

Dieser Blogbeitrag will nicht noch einmal erklären, wie Völkerrecht und Landesrecht zueinander stehen. Nein, das ist bekannt: Völkerrecht geht vor! Das ergibt sich aus der Verfassung, das sagen die Gerichte, und das sagt auch das Völkerrecht selbst. Stefan Schlegel, Mitglied des JuWiss-Editorial-Boards, hat an anderer Stelle ausgeführt, wie Katharina Fontanas Aussagen zu diesem Thema fehlgehen. Auch der JuWissBlog hat das schon einmal behandelt.

Dieser Beitrag will vielmehr die Unverfrorenheit eines Richters und einer Kommentatorin exponieren, mit der eine juristisch-wissenschaftliche Frage politisch-polemisch umgestaltet wird. Es beginnt schon mit dem Titel: „Früher galt, was in der Verfassung stand“. Das gilt auch heute noch! Der Vorrang des Völkerrechts steht in der Verfassung selbst (Art. 190 BV). Und weiter: „Nun vertreten weite Kreise die Auffassung, dass völkerrechtliche Verpflichtungen dem Landesrecht stets vorzugehen haben…“ Diese „Auffassung“ auf ominöse „Kreise“ zu reduzieren, ist irreführend: Dieser Vorrang ist geltendes Recht, Punkt.

„Bei der Menschenrechtsdiskussion herrscht die Auffassung vor, dass nur ein paar wenige ‚Weisen‘ wissen, was richtig ist und was nicht.“ Die Grundrechte werden hier unnötig verteufelt. Solche Aussagen spielen in die Strategie der SVP, die Grundrechte der schweizerischen Rechtsordnung zu entfremden, sie als abstrakt-ungreifbar – und vor allem fremd – darzustellen. Das ist grober Unfug: Die Schweizer Verfassung stellt einen Grundrechtekatalog noch vor die Aufgabennormen und die Staatsorganisation (Art. 7–34 BV). Grundrechte sind schweizerische Rechte, und sie bilden die Basis unserer Rechtsordnung.

„Die Politik scheint mit der Volksmitsprache zunehmend Mühe zu haben – unabhängig vom Völkerrecht. So wird immer häufiger behauptet, dass es Verfassungsprinzipien gebe, die nicht angetastet werden dürften, wie das Verhältnismässigkeitsprinzip.“ Dieser Konflikt ist nicht der Politik anzulasten. Volksinitiativen, die an der Verhältnismässigkeit oder am zwingenden Völkerrecht kratzen, sind eine neue Erscheinung. Im Vertrauen auf einen vernünftigen Gebrauch der Volksrechte hat die Verfassung auf prohibitive Schranken verzichtet. Wenn Initiativkomitees nun Zurückhaltung vermissen lassen, und offen gefestigte Prinzipien angreifen, ist das kein Beweis für Volksfeindlichkeit der Politik.

Verhältnismässigkeit als Feindin der Volksrechte?

Überhaupt ist es ziemlich absurd, das Verhältnismässigkeitsprinzip als Gegenpol zu Volksinitiativen zu problematisieren. Man darf nicht so tun, als sei es normal, wenn Volksinitiativen völkerrechtswidrig sind oder grundlegende Bestimmungen der Verfassung einschränken. Das sind Grundfesten unserer liberalen und rechtsstaatlichen Ordnung. Gerade die Grundsätze des staatlichen Handelns, wie sie Art. 5 BV festschreibt, sichern die individuelle Freiheit und binden den Staat zurück. Die Gesetzmässigkeit, das öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit unterziehen das staatliche Handeln einer Rechtfertigungspflicht, ohne die Willkür und ausufernde Staatsmacht zu befürchten wären.

Diese Grundsätze sind derart grundlegende Bestandteile unserer Rechtsordnung, dass ihre Einschränkung einer Revolution gleichkommt. Weshalb gerade Juristinnen und Juristen, die dem freiheitsliebenden bürgerlich-konservativen Lager zuzurechnen sind, dies nicht einsehen wollen, soll mir mal jemand erklären. Sie müssten doch ein besonderes Interesse daran haben, den Staat in enge Handlungsschranken zu weisen.

Selektive Wahrnehmung der Staatsprinzipien

Wie selektiv die Kritik von Seiler und Fontana an Verfassungsprinzipien und Völkerrecht ist, möchte ich anhand einer Analogie darstellen. Man stelle sich vor, eine Volksinitiative wolle gewisse Sachbereiche von der direktdemokratischen Mitbestimmung ausnehmen. Weil materielle Schranken fehlen, wäre eine solche Initiative möglich. Man könnte zum Beispiel festschreiben: „Initiativen und Referenden im Ausländerrecht, inklusive Bürger- und Asylrecht, sind ausgeschlossen.“

Ein solches Vorhaben würde (zu Recht) als Angriff auf die Grundwerte, auf den Kern der Demokratie verschrien. Als Bürger, dem die Verfassung und unser Staatssystem lieb sind, möchte ich jede Beschränkung des Verhältnismässigkeitsprinzips ebenso bezeichnen. Solche Relativierungen sind nicht ohne weiteres hinzunehmen; solche Vorstösse sind Ausdruck von Geringschätzung gegenüber der Verfassung.

Keine Macht der Desinformation!

Ich möchte nicht bestreiten, dass kontroverse Ansichten über den Vorrang des Völkerrechts angebracht sind – aber diese Frage ist nun mal de lege lata entschieden. Meine erzürnte Aufregung kommt daher, dass gewichtige Stimmen nun so tun, als sei das keineswegs geklärt. Als müsste die Politik hier noch etwas entscheiden. Als gäbe es da noch was zu rütteln. Katharina Fontana und Hansjörg Seiler betreiben eine bedenkliche Desinformationskampagne. Es ist unverständlich, weshalb die NZZ so etwas zulässt, und weshalb ein amtierender Bundesrichter relativ unbehelligt solche Aussagen verbreiten kann. Es wäre zu wünschen, dass eine so wichtige Stimme in staatspolitischen Debatten wie die NZZ irreführendem Unfug keinen Platz einräumen würde. Ebenso wäre zu wünschen, dass Bundesrichter, die es kraft ihres Amtes besser wissen müssen, nicht mit nachweislich falschen Aussagen eine sachliche Diskussion polemisieren.

Allen, denen etwas am Schweizer Staatsrecht liegt, sollte das sauer aufstossen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als bei jeder Gelegenheit diese Desinformation offen zu legen und dagegen anzukämpfen.

Demokratie, Desinformation, Dominik Elser, Hansjörg Seiler, Katharina Fontana, NZZ, Schweiz, Verfassung, Völkerrecht
Nächster Beitrag
Keynote Speech: The Protection of Human Rights in the United Kingdom
Vorheriger Beitrag
Arktischer Sonnenaufgang in Hamburg [Update]: Aktivisten frei, Juristen ratlos

Ähnliche Beiträge

von CHRISTOPH SMETS Aus der Sicht eines Rechtswissenschaftlers, der mit Prof. Di Fabio im Staat keine Bedrohung der Freiheit, sondern ihren Garanten sieht, hinterlässt die Tagung den Eindruck, dass die Mehrheit der jungen Wissenschaft im öffentlichen Recht den Nationalstaat für ein grundlegendes, aber eben nicht notwendiges Übel hält, seine Errungenschaften…
Weiterlesen
von IRENE GROHSMANN Sowohl gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als auch gestützt auf die Schweizerische Bundesverfassung dürfen Frau und Mann nicht aufgrund traditioneller Rollenverteilungen und Geschlechterstereotypen unterschiedlich behandelt werden. Trotzdem haben in der Schweiz nach der Geburt eines Kindes nur Frauen einen Anspruch auf Mutterschaftsurlaub; Vaterschaftsurlaub…
Weiterlesen

3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Tobias Schaffner
    7. Dezember 2013 11:50

    Um die Bemerkung zur Revolution auf den Punkt zu bringen: Die SVP und ihre Anhängerschaft wollen eine ABSOLUTISTISCHE DEMOKRATIE einrichten. Sie wollen die konstitutionelle Demokratie stürzen.

    Antworten
  • Guter Beitrag Herr Elser!

    Ich habe auf meinem Blog in Bezug auf die Debatte über Durchsetzunginitiative auch darauf hingewiesen, dass es in der Bundesverfassung ein klares Bekenntnis zum Völkerrecht gibt. (Siehe Art. 5 Absatz 4 BV, Art. 139 Absatz 3 und eben Art. 190 BV.) Gerade bei der Diskussion um die Durchsetzungsinitiative sieht man wie die SVP dazu steht. Sie will in ihrer Initiative das zwingende Völkerrecht definieren, etwas was einfach nicht geht, da es eben kein Landesrecht ist, das von der Schweiz alleine festgelegt werden kann. Aber viele Stimmbürger verstehen das zu wenig und hier gilt es die Stimmbürger sachlich aufzuklären.

    Natürlich kann das Volk die Bundesverfassung ändern (siehe Art. 138 und 139 BV), es kann auch die EMRK kündigen. Doch solange das nicht der Fall ist, gilt das geltende Recht.

    Ich finde in der Diskussion um die EMRK noch interessant wie einige führende SVPler zur EMRK stehen. Toni Brunner sprach sich anfangs Jahr für die Kündigung der EMRK aus, wenige Monate später berief sich der Anwalt von Christoph Mörgeli für seinen Mandanten auf die EMRK, der Anwalt ist übrigens selber SVP-Kantonsrat. Sieht so eine glaubwürdige Politik aus? Was wollen denn die jetzt nun eigentlich? Die EMRK zeitweise kündigen wenn es aufgrund von SVP-Initiativen von Vorteil ist, sie aber wieder ratifizieren wenn es zum eigenen Vorteil ist? Eine glaubwürdige Politik sieht anders aus.

    Es wäre eine wichtige demokratische Aufgabe der Medien, die Stimmbürger richtig zu informieren und ihnen die rechtlichen Zusammenhänge aufzuzeigen. Gesetze werden dann Anerkannt, wenn sie vom Volk verstanden werden. Desinformation und politische Agitation ist da nur hinderlich.

    Ich hätte eine Idee, wie Probleme mit Initiativen künftig vermieden werden könnten. Schaffen wir ein Verfassungsgericht, welches prüft ob Initiativen gültig sind oder nicht. Ein Verfassungsgericht könnte das besser als die Legislative. Selbstverständlich müsste so etwas vom Volk genehmigt werden (Verfassungsänderung). Die Parlamentarier entscheiden einfach viel zu politisch und zuwenig pragmatisch.

    Antworten
  • Georg Müller
    11. Dezember 2013 14:24

    Den Zorn eines jungen Wissenschafters im öffentlichen Recht kann ich zwar bis zu einem gewissen Grad verstehen. Man sollte aber nicht vergessen, dass in der NZZ immer wieder redaktionelle Beiträge – vor allem von Claudia Schoch – erscheinen, in welchen rechtsstaatliche Standpunkte klar und überzeugend vertreten werden, etwa im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit, dem Verhältnis von Völkerrrecht und Landesrecht oder der Frage der Gültigkeit von Volksinitiativen.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.