von UDO MOEWES
Im derzeit gefährlichsten Konflikt in Europa hat jüngst der frühere brandenburgische Ministerpräsident, Matthias Platzeck, dazu aufgefordert, die Annexion der Krim im Nachhinein zu legalisieren. Nach Kritik – auch aus den eigenen Reihen – sah er sich zwar zu einer Relativierung seiner Aussagen gezwungen, hält jedoch daran fest, dass die gewaltsame Einverleibung der Halbinsel völkerrechtlich auf legale Füße gestellt werden müsse. Derzeit wird der Ausschluss Platzecks vom sog. „Petersburger Dialog“ diskutiert.
Mit seiner Haltung liegt der Alt-Ministerpräsident anscheinend auf der Linie seines Parteigenossen und Alt-Kanzlers Helmut Schmidt, der zwar nicht ausdrücklich eine Legalisierung der Annexion fordert, jedoch ihre Rückgängigmachung für ausgeschlossen hält.
Das Gewaltverbot und die Herrschaft des Rechts
Für den völkerrechtlichen Laien mag eine Legalisierung von gewaltsamer Staatsgebietseroberung möglich erscheinen, nicht jedoch für einen, der einen Blick in Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta geworfen hat. Das darin verankerte Gewaltverbot, ausgeformt in der resolution of definition of aggression, verpflichtet den Aggressor zur Unterlassung von Gewalt, also den Einsatz militärischer Mittel gegen einen anderen Staat (Russland gegen Ukraine). Durch den Einmarsch auf der Krim und in der Ostukraine hat Russland das allgemeine Gewaltverbot, wie es sich aus der UN-Charta und völkergewohnheitsrechtlich ergibt, verletzt und damit seine Verpflichtungen – nicht nur gegenüber dem UN-Mitgliedstaat Ukraine – sondern gegenüber jedem UN-Mitgliedstaat gebrochen. Denn das Gewaltverbot wirkt erga omnes und nicht nur inter pares.
Eine Annexion kann niemals auf legale Füße gestützt werden, auch nicht im Nachhinein. Zumindest müsste man sich damit auseinandersetzen, warum in diesem Fall das Gewaltverbot nicht gelten solle oder aufgeweicht werden könne. Die Folgen für andere Konflikte wären unabsehbar. Darauf hat der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Niels Annen, zu Recht hingewiesen.
Und das ist die Dimension von Platzecks Äußerungen: Er legt die Axt an das Gewaltverbot, das sich die Staatengemeinschaft beim Niedergang des Zweiten Weltkrieges mühsam erarbeiten musste. Indirekt ruft er damit zu einer Aufgabe der Herrschaft des Rechts auf, frei nach dem Motto „Jetzt lasst mal gut sein“. Dies mag aus politischen Erwägungen gerechtfertigt erscheinen, nicht jedoch aus rechtlichen.
Dass ein solcher Vorschlag kurz nach der Äußerung von Wladimir Putin, der Hitler-Stalin-Pakt sei „keine schlechte Idee gewesen“ (sic!), ergeht, lässt am Urteilsvermögen von Matthias Platzeck und seiner Eignung als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums erheblich zweifeln. Denn in dem Pakt haben die Diktatoren nicht nur einen Nicht-Angriffspakt besiegelt, sondern Polen, das Baltikum und Bessarabien bereits vor Ausbruch des Krieges unter sich aufgeteilt und damit eine gewaltsame Einverleibung souveräner Staaten von Vornherein geplant. Putins Äußerungen sind nicht nur obszön, sondern lassen tief in seine Langzeit-Ziele blicken.
Das Fehlen von Rechtfertigungstiteln
Gleichzeitig fehlt es Russland an einem Rechtfertigungsgrund für den Bruch des Gewaltverbots. Sie wurden nicht angegriffen, handeln also nicht in Selbstverteidigung (Art. 51 UN Charta).
Einzig ernsthaft diskutieren könnte man den von russischer Seite propagierten Schutz eigener Staatsangehöriger in den ukrainischen Gebieten. Dass sich dies im Endeffekt als unberechtigter Vorwand erweist, zumindest die Anwendung von militärischer Gewalt und die Annexion von Staatsgebiet dazu vollkommen außer Verhältnis steht, scheint selbst Platzeck klar zu sein, denn hierauf beruft selbst er sich nicht. Sicherlich würde eine Zustimmung der Ukraine in den Gebietsverlust rechtlich als Legalisierungstitel herhalten können; wahrscheinlich ist das jedoch nicht und kann einem souveränen Staat auch nicht abverlangt werden.
Eine Resolution des Sicherheitsrates, die den Gebietserwerb im Nachhinein billigt, ist aufgrund der Veto-Lage ebenfalls unwahrscheinlich. Ungeachtet dessen würde eine Debatte über die Kompetenzen des Sicherheitsrates, sich zulasten eines Mitgliedstaates über das Gewaltverbot hinwegzusetzen, notwendig sein.
Die vermeintliche Parallele Kosovo
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Kosovokrieg, den der SPD-Alt-Kanzler Gerhard Schröder vergleichend zur Ukrainekrise herangezogen hat. Er habe damals selbst das Völkerrecht gebrochen, daher solle man nun vorsichtig sein „mit einem erhobenen Zeigefinger“.
Der Vergleich zu Kosovo scheint auf den ersten Blick zu passen, hinkt dann jedoch sehr. Im Kosovo erlebten wir einen Bruch des Völkerrechts, denn die NATO hatte kein UN-Mandat. Darin erschöpft sich jedoch die schröder’sche Vergleichbarkeit. Anders als im Kosovo erlebten wir in der Ukraine, wenn man den Medienberichten bis dahin Glauben schenken wollte, keinen Genozid. Ein nicht unerheblicher Teil der Literatur sah im Fall Kosovo die berechtigte spontane humanitäre Intervention (zu Recht) als Rechtfertigungsgrund an, denn ganze Volksgruppen waren von der Vernichtung bedroht. Dies mag man rechtlich für falsch halten, jedoch wird man die unabhängige Rechtsprechung des IGH respektieren müssen: Dieser hat die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo für völkerrechtmäßig erklärt. Ein Volk, dem faktisch die Auslöschung droht, kann sich mitunter nicht anders helfen als durch eine gewaltsame Staatsgründung.
Was Herr Schröder übersieht oder übersehen will, ist, dass die ostukrainischen Separatisten wohl kaum von einem Genozid bedroht waren. Anders als im Kosovokrieg wird das Staatsgebiet im aktuellen Konflikt von einem anderen Staat, also von Außen, aufgebrochen. Großjugoslawien dagegen zerbrach von innen her. Das Selbstverteidigungsrecht der Völker mag im Fall des Genozids eine Staatsgründung erforderlich machen; eine Annexion dagegen kann dies nicht.
Die historische Verantwortung Deutschlands
Der von Platzeck gerne erhobene moralische Zeigefinger, dass Deutschland sich gegenüber Russland seiner historischen Verantwortung bewusst sein müsse, versagt hier. Denn diese Verantwortung haben wir nicht nur gegenüber einem Land, sondern gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft, konkret: gegenüber dem Gewaltverbot.
Es ist die verfassungsrechtliche (!) Pflicht unseres Landes, sich in der Staatengemeinschaft, insbesondere der eines friedlichen Europas zu integrieren und die völkerrechtlichen Regeln einzuhalten. Diese Friedlichkeit lässt sich wohl weniger mit der platzeck’schen vermeintlichen Gutmenschenmentalität („Jetzt kommt doch mal zur Ruhe“) erreichen als mit einem Festhalten an den Werten und Normen, denen wir uns nach dem Zweiten Weltkrieg (zu Recht) unterworfen haben.
Platzeck bleibt demgegenüber eine Erklärung schuldig, warum wir nicht nur gegen die UN-Charta, sondern auch gegen Art. 25 GG verstoßen sollen bzw. ein Verstoß nicht gegeben sein soll.
Fazit
Eine Annexion im Nachhinein rechtlich glattzuziehen, zeugt entweder von einem bewussten Außerachtlassen der völkerrechtlichen Regeln, deren Geltung für sich Deutschland mühsam erarbeiten musste, oder vom Unverständnis dieses Rechts.
Eine weitere Eskalation des Konflikts führt ganz sicher nicht zu einer vernünftigen Lösung. Ein Strecken der Waffen und eine Resignation über unsere verfassungs- und völkerrechtlichen Wertvorstellungen jedoch auch nicht.
Die Parole heißt: Empört Euch!
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Hallo Udo,
gelungener Beitrag! Ich habe 1. eine Anmerkung und 2. eine Frage dazu:
1. Mittlerweile dürften keine Zweifel mehr daran bestehen, dass Russland mit der Dislozierung tausender Truppen auf die Krim zulasten der Ukraine gegen das Gewaltverbot verstoßen hat. Nunmehr könnte weiter gefragt werden, ob aus dem Gewaltverbot auch eine Pflicht abgeleitet werden könnte, wonach Russland den völkerrechtswidrigen Zustand beenden und sich diesbezüglich wieder (völker-) rechtstreu verhalten muss. Eine solche Pflicht ist in der Aggressionsdefinition nicht begründet. Die Aggressionsdefinition listet nur diejenigen Handlungen auf, die einen Verstoß gegen das Gewaltverbot konstituieren. Über das Verhalten des Aggressors NACH seinem Verstoß findet sich hingegen kein Anhaltspunkt.
2. Im Kosovo-Gutachten hat der IGH festgestellt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstößt; hier gelangen wir zu dem gleichen Ergebnis. Aber kann man daraus wirklich den Schluss ziehen, dass die Unabhängigkeitserklärung völkerrechtmäßig ist? Ich lese das Gutachten so, wonach der IGH der Ansicht war, dass die Unabhängigkeitserklärung gar nicht Gegenstand des Völkerrechts war. Daraus folgt, dass das Völkerrecht hier gar keine Wertung trifft, die Unabhängigkeitserklärung also nicht völkerrechtmäßig sein kann. Anders ausgedrückt: Weil die Unabhängigkeitserklärung keine Handlung im Sinne des Völkerrechts ist, kann sie weder völkerrechtmäßig noch völkerrechtswidrig sein.
Mit den besten Grüßen aus Trier
Oliver
Lieber Oliver,
zu Deiner Anmerkung:
Es stimmt, dass die DoA-Res. nichts zur Rechtsfolge sagt. Man müsste mal in den Beratungsprotokollen schauen, wie es damals gesehen wurde. Ich kann mir gut vorstellen, dass man über die Rechtsfolge nicht einer Meinung war. Würden wir an dieser Stelle stehen bleiben, wäre – wie so häufig – ein Fragezeichen über der Rechtsfolge.
Abhilfe naht durch völkerrechtliche Übung i.V.m. opinio iuris: Die Rechtsfolge, dass auf einen völkerrechtlich wrongful act eine Wiedergutmachung zu leisten ist, dürfte Völkergewohnheitsrecht darstellen. Hierzu die Art. 28 ff. des ILC-Entwurfs zur state responsibility, konkret Art. 31. Der Nachteil, den die Ukraine erleidet, ist der Verlust der Möglichkeit der Ausübung effektiver Staatsgewalt über das ihr angehörende Gebiet. Das dürfte i.S.v. Art. 31 Abs. 2 ILC-E ein materieller Schaden sein.
Zu Deiner Frage:
Man kann das IGH-Gutachten mit Deiner Lesart sehr gut lesen. Und dafür spricht in der Tat Einiges, v.a. eine gewisse sprachliche Zurückhaltung des Gerichtshofs. Und dann wäre zugegebenermaßen in meinem Beitrag eine Umformulierung angezeigt.
Was hältst Du von dieser Leseart, mit der meine Formulierung gehalten werden könnte?
„Durch die Staatsgründung des Kosovo ist nicht die Hoheit eines anderes Staates zu Unrecht und insofern keine absolut geschützte völkerrechtliche Rechtspostion verletzt worden.“
Ob die Unabhängigkeitserklärung keine Handlung im völkerrechtliche Sinne sein soll, überlasse ich lieber den Völkerrechtstheoretikern zur Beantwortung. Hier kann ich ohne Weiteres keine dezidierte Aussage treffen.
Die Gründung des Kosovo – als im ursprünglichen Sinne des Wortes „genuin“ – erfolgte Staatsgenese dürfte demgegenüber schon als Handlung i.S.d. Völkerrechts zu bezeichnen sein.
Aus Potsdam nach Trier mit den besten Grüßen
Udo
Ich muss mal ganz unwissenschaftlich und empört sagen: was ist eigentlich mit den „Eliten“ los. Schröder und seine 2Millioneneurobiografie, wer will denn dem noch folgen? Und Platzek und leider auch Wagenknecht: mögen von mir aus das russische Volk, die russische Geschichte, den Sozialismus im Herzen lieben, aber das hat doch nichts mit Putins Aggressionen zu tun. Wie er die Opposition unterdrückt und „den Westen“ an der Nase herumführt mit seiner verdrehten „Wahrheit“, zeigt nur eins: das Konzept der Wahrheit und der Werte, die diese Wahrheit mit bestimmen, ist noch nicht überflüssig geworden.