von AURELIO CORNEO
Beim Vorbeigehen an der russischen Botschaft in Berlin fallen die Blumen und vielen Bilder auf, die an den Angriffskrieg gegen die Ukraine und den verstorbenen Alexei Nawalny erinnern. Im Hintergrund erhebt sich die einschüchternde Fassade des Botschaftsgebäudes, die Anfang dieses Jahres Gegenstand eines Rechtsstreits war. Dabei ging es um die Frage, wie weit Protest vor (und gegen) Botschaften gehen darf.
Am 24. Februar 2024, dem zweiten Jahrestag des Beginns der russischen Invasion, fand eine Demonstration vor der russischen Botschaft statt. Die Veranstalter beabsichtigten, während der Demonstration eine Stunde lang Bilder und Videos vom Krieg in der Ukraine an die Fassade des Botschaftsgebäudes zu projizieren. Dies wurde indes von der Berliner Polizei als Versammlungsbehörde untersagt. Hiergegen wandten sich die Veranstalter im Wege vorläufigen Rechtsschutzes über die Verwaltungsgerichte bis nach Karlsruhe, doch die Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (siehe VG Berlin, OVG Berlin-Brandenburg und Bundesverfassungsgericht).
Dieser Fall ist nicht der einzige, bei dem Proteste vor russischen Vertretungen im Kontext des Ukrainekriegs bekannt wurden. In Berlin wurde Anfang 2023 über die Aufstellung eines Panzerwracks vor der russischen Botschaft vor Gericht gestritten. In Warschau wurde dem russischen Botschafter ein Misthaufen vor die Residenz geschüttet. Und vor der russischen Botschaft in den USA liefern sich Aktivisten seit Längerem ein kreatives „Gefecht“ mit dem Botschaftspersonal, wobei ebenfalls Projektionen im Mittelpunkt stehen.
In diesem Beitrag soll anhand des geschilderten Falls die völkerrechtliche Dimension solchen Protests durch Projektion und deren Konflikt mit den Grundrechten umrissen werden.
Versammlungsrechtliche Einordnung
Ausgangspunkt der rechtlichen Betrachtung des Falles ist die versammlungsrechtliche Generalklausel, hier § 14 Absatz 1 des Berliner Versammlungsfreiheitsgesetzes (VersFG). Auf Tatbestandsseite war zu prüfen, ob durch das Anstrahlen der russischen Botschaft eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit drohte.
Zu der vom Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfassten objektiven Rechtsordnung zählt auch Artikel 22 Absatz 2 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen von 1961 (WÜD), das durch Vertragsgesetz Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden ist. Diese Norm verpflichtet die Staaten, „alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, […] um zu verhindern, dass der Friede der Mission gestört oder ihre Würde beeinträchtigt wird.“
Ob eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestand, hing vorliegend also maßgeblich davon ab, ob das geplante Anstrahlen des Botschaftsgebäudes den Frieden oder die Würde der Mission beeinträchtigen würde.
Was heißt das überhaupt?
Das Diplomatenrecht dient dazu, stabile Beziehungen zwischen Staaten zu ermöglichen und zu erhalten. Hierzu gewährt das WÜD der diplomatischen Mission (also insbesondere Botschaften) und ihrem Personal erhebliche Vorrechte, zu denen der in Artikel 22 verbürgte Grundsatz der Unverletzlichkeit zählt. Diese Vorrechte gelten unabhängig davon, wie es um die gegenwärtigen politischen Beziehungen zwischen Empfangs- und Entsendestaat bestellt ist. Es ist gerade Sinn und Zweck des WÜD, auch in Zeiten internationaler Konflikte den zwischenstaatlichen Verkehr auf Augenhöhe zu gewährleisten. Dass die Einhaltung dieser Norm die „unverzichtbare institutionelle Mindestvoraussetzung für das diplomatische Verhältnis souveräner Staaten“ darstellt (BVerfG, Rn. 11), ist unbestritten. Schwieriger ist aber die Frage, was genau als Beeinträchtigung des Friedens und der Würde zu qualifizieren ist.
Wie (und ob) die Dimensionen „Friede“ und „Würde“ der Mission voneinander abzugrenzen sind, ist ungeklärt. Der Wortlaut spricht aber dafür, unter Beeinträchtigungen des Friedens solche Aktivitäten zu subsumieren, die die Arbeitsfähigkeit der Mission betreffen (etwa andauernder Lärm, vgl. auch US Supreme Court) oder gewaltsamen Charakter haben (etwa das Werfen von Steinen auf das Missionsgelände), während die Würde vor allem immaterielle Aspekte umfasst (Denza, S. 143). Jedenfalls handelt es sich um eine aktive Schutzpflicht des Empfangsstaates (Denza, S. 110).
Angesichts der auch auf völkerrechtlicher Ebene verbürgten Meinungs- und Versammlungsfreiheit (vgl. Artikel 10, 11 EMRK, Artikel 19, 21 UN-Zivilpakt) ist der Begriff „Beeinträchtigung der Würde“ durchaus im Kontext ebendieser Freiheiten auszulegen (vgl. Artikel 31 Absatz 3 Buchstabe c Wiener Vertragsrechtskonvention, wonach bei der Auslegung einer Vertragsnorm auch „jeder […] einschlägige Völkerrechtssatz“ zu berücksichtigen ist). Friedliche Demonstrationen vor der Mission beeinträchtigen deren Würde daher regelmäßig nicht. Ob dies auch für beleidigende oder ehrverletzende Protestformen gilt, ist nicht eindeutig zu beantworten und dürfte wohl stets eine Einzelfalluntersuchung voraussetzen.
Im Beschluss des BVerfG zum vorliegenden Fall heißt es, es gebe „keine Pflicht des Empfangsstaates, die Mission des Entsendestaates vor der Wahrnehmbarkeit von Kritik und entsprechenden Meinungsäußerungen zu schützen und friedliche Demonstrationen vor diplomatischen Vertretungen zu unterbinden“ (BVerfG, Rn. 10).
Projektionen unter der (diplomatischen) Würde?
Eine Beeinträchtigung der Würde sahen die Verwaltungsgerichte – ohne Beanstandung durch das Verfassungsgericht – aber in der Nutzung des Botschaftsgebäudes als Projektionsfläche. Demnach umfasse Artikel 22 Absatz 2 WÜD „den Schutz vor einem Eigentumszugriff, durch den ein Botschaftsgebäude für eine Meinungsäußerung Dritter instrumentalisiert werden soll“ (BVerfG, Rn. 10).
Weiter äußert das BVerfG, „gerade durch die Nutzung der Fassade als Projektionsfläche solle das Erscheinungsbild der Botschaft verändert werden, wobei auch damit zu rechnen sei, dass diese Veränderung durch Bild- und Videoaufnahmen eine die einstündige Versammlungszeit überdauernde, längerfristige Wirkung haben könne“ (Rn. 9). Im Beschluss des VG heißt es: „Gerade das Erscheinungsbild des Botschaftsgebäudes als Repräsentanz eines Staates ist bei der Erfüllung diplomatischer Aufgaben essenziell.“
Ähnliche Geschehnisse im Ausland hatten unterschiedliche Folgen: In Washington dient die dortige russische Botschaft schon länger regelmäßig als Projektionsfläche für pro-ukrainische Protester. Soweit ersichtlich, wurde das WÜD in diesem Kontext bislang nicht bemüht. Statt auf rechtlicher Grundlage zu argumentieren, versuchen russische Diplomaten dort mit eigenen Lichtern die Projektion zu unterbinden. Auch in London wurde die russische Botschaft von kritischen Demonstranten angestrahlt, ohne dass rechtliche Diskussionen bekannt wurden. In Ottawa hingegen, wo ebenfalls die russische Botschaft angestrahlt werden sollte, untersagten die Behörden das Vorhaben mit einer strafrechtlichen Begründung. Den Medien zufolge äußerte die Botschaft, man erwarte, dass kanadische Behörden die erforderlichen Maßnahmen nach Artikel 22 und 29 WÜD ergreifen würden. Insgesamt ist jedenfalls nicht erkennbar, dass das Anstrahlen eines Botschaftsgebäudes universell als Beeinträchtigung der Würde der Mission angesehen wird.
Die Ansicht der deutschen Gerichte verdient hier dennoch Zustimmung. Die Würde der Mission umfasst das Recht, die äußere Erscheinung der Botschaft uneingeschränkt selbst zu bestimmen. Auch eine nur vorübergehende Nutzung der Botschaftsfassade als Projektionsfläche stellt eine Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes dar. Erfolgt dies gegen den Willen der Botschaft, beeinträchtigt es die Repräsentationsfunktion des Botschaftsgebäudes. Sie prägt das äußere Bild, das bei Beobachtern von der Botschaft entsteht. Hierin liegt der Unterschied zum Einsatz einer Leinwand auf der Straße oder zu Transparenten und sonstigen Mitteln, die auf Demonstrationen üblich sind.
Zu restriktiv scheint mir daher ein Urteil des VGH München aus 2003, auf das die Verwaltungsgerichte im vorliegenden Fall Bezug nahmen (Beschl. v. 26.06.2003, Az. 24 CS 03.1636). Dort sah das Gericht im Zeigen von Transparenten mit kritischem Inhalt in unmittelbarer Nähe zum chinesischen Generalkonsulat eine Verletzung des Art. 22 Absatz 2 WÜD. Unabhängig davon, dass für Konsulate nicht das WÜD, sondern das WÜK (hier Art. 31 Absatz 3) Anwendung findet, wird diese Entscheidung der Rolle der Versammlungsfreiheit nicht gerecht. Bei Grundrechten ist im Zweifel für die Freiheit zu entscheiden; die diplomatische Würde dagegen sollte angesichts dieses Spannungsfeldes eng verstanden werden. Auch die Ehre einzelner Amtsträger verletzende Transparente beeinträchtigen die Würde der Mission nicht. Kritik müssen Diplomaten aushalten, aber die Mission selbst darf nicht von Demonstranten als Werkzeug zur Kritik eingesetzt werden.
Im Berliner Projektions-Fall nicht zu überzeugen vermag außerdem das Argument, die Projektion berge die Gefahr, dass der Mission eine von ihr nicht geäußerte oder gebilligte Meinung unzutreffend zugeschrieben werde (BVerfG, Rn. 9). Es scheint mir unwahrscheinlich, dass ein durchschnittlicher Beobachter die während der Demonstration angestrahlten Bilder als Äußerung der Botschaft missverstehen könnte. Darauf kommt es aber auch nicht an: die ungewollte Beeinflussung der äußeren Erscheinung der Botschaft genügt.
Versammlungsfreiheit vs. Völkerrecht?
Auf Rechtsfolgenseite eröffnet § 14 Absatz 1 VersFG der Polizei einen Ermessensspielraum. Die Gestattung der Projektion hätte jedoch, wie erläutert, einen Verstoß gegen Artikel 22 Absatz 2 WÜD zur Folge. Andererseits stellte eine Untersagung eine Beeinträchtigung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 5, 8 GG) dar. Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung musste der Eingriff daher verhältnismäßig sein.
Zweck der Untersagung war es, einen Verstoß gegen das Völkerrecht zu verhindern. Dies stellt ein legitimes Ziel dar – aufgrund des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes hat die Vermeidung von Völkerrechtsverstößen sogar Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 318). Die Untersagung müsste aber auch angemessen gewesen sein. Hier war die Schwere des Eingriffs in Versammlungs- und Meinungsfreiheit in Relation zum verfolgten Ziel zu setzen. Dabei kann vorliegend nicht derselbe Maßstab angewandt werden wie beim Anstrahlen eines deutschen Regierungsgebäudes oder einer privaten Einrichtung, denn diese genießen nicht den besonderen Schutz des WÜD.
Das Verbot der direkten Nutzung des Botschaftsgebäudes als Projektionsfläche stellt eine eher geringfügige Beschränkung dar. Insbesondere bestand die Möglichkeit, auf der Straße eine Leinwand für die Projektion aufzustellen. Auch der Versammlungsort – unmittelbar vor der Botschaft – blieb der gleiche. Der mit dem Verbot verfolgte Zweck ist ein hohes Gut von Verfassungsrang. Die Beachtung des Diplomatenrechts ist Grundlage für die internationalen Beziehungen, es zählt zu den ältesten, fundamentalsten und unumstrittensten Regeln des Völkerrechts (IGH, Rn. 86, 91; Denza). Vor diesem Hintergrund stand der Eingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck. Folglich war die Untersagung als angemessen zu beurteilen und gerechtfertigt.
Im Interesse des Völkerrechts
Im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat wohl niemand Mitleid mit russischen Diplomaten. Aber in der rechtlichen Würdigung kann dieser weitere Kontext, sowohl der Hintergrund des Protests als auch die russischen Völkerrechtsverstöße, nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Die Schutzgüter des WÜD müssen losgelöst betrachtet werden von den gegenwärtigen politischen Beziehungen und anderweitigen Völkerrechtsverstößen. Das Verbot der Projektion war daher im Interesse des Völkerrechts.
Zitiervorschlag: Corneo, Aurelio, Protest durch Projektion: Wider der Würde der Mission?, JuWissBlog Nr. 73/2024 v. 05.11.2024, https://www.juwiss.de/73-2024/
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