von HENNER GÖTT
Die Lehre von den Völkerrechtssubjekten gehört zu den zentralen Themenfeldern der allgemeinen Völkerrechtslehre. Auch denen, die sich bisher nur kursorisch mit dem Völkerrecht befasst haben, dürfte die dabei verbreitet anzutreffende Kategorisierung der Völkerrechtssubjekte in verschiedene Arten schon einmal begegnet sein. Diese Typologie ist staatszentriert – und hinkt damit der rapiden Entfaltung der internationalen Rechtsordnung hinterher. Ein Anlass für eine Akzentverschiebung.
Das Leitmotiv dieser Lehre ist das Völkerrecht als Recht zwischen gleichförmigen, quasi-omnipotenten Staaten. Die „neuen“ Völkerrechtssubjekte werden nur jeweils im Vergleich mit dem „prototypischen“ Staat dargestellt. Die zahlreichen im letzten Jahrhundert neu hinzugekommenen Völkerrechtssubjekte haben aber dazu geführt, dass das Völkerrecht längst kein reines Koordinationsrecht zwischen Staaten mehr ist. Es regelt heute die Rechtsbeziehungen zwischen vielen, oft sehr unterschiedlichen Subjekten. Vor diesem Hintergrund erscheint die klassische Typologie zunehmend missverständlich und immer weniger aussagekräftig.
Daheim geht’s ohne – Ein Vergleich mit dem nationalen Recht
Rechtssubjekt ist jeder, der (selbst) Träger von Rechten oder Pflichten ist. Das gilt zunächst unterschiedslos für die nationalen Rechtsordnungen wie auch für das Völkerrecht. Ein Völkerrechtssubjekt ist also, wer Träger von (genuin) völkerrechtlichen Rechten oder Pflichten ist. So weit, so (vermeintlich) trivial.
Wie eingangs skizziert, geht die Lehre von den Völkerrechtssubjekten aber weiter, wenn sie mittels ihrer Gegensatzpaare unterschiedliche Arten von Subjekten beschreibt. Vergleicht man diese Lehre mit der Lehre im nationalen Recht, so fällt auf, dass die völkerrechtlichen Gegensatzpaare dort keine Entsprechung finden. Im nationalen Recht ist Rechtssubjekt schlicht jeder, dem (irgend-)eine Norm des nationalen Rechts (irgendwelche) Rechte verleiht oder Pflichten auferlegt. Dort gibt es zwar ebenfalls einzelne Unterscheidungen (natürliche Person, juristische Person, Personengesellschaft usw.), jedoch werden dort nicht im selben Maße qualitative Unterschiede hinsichtlich der Subjektqualität selbst suggeriert oder gar tatsächlich gemacht.
Im nationalen Recht ist für die Subjektqualität allein entscheidend, ob überhaupt Rechte oder Pflichten bestehen. Die Frage, welche Rechte oder Pflichten bestehen, wird im nationalen Recht zumeist unter Schlagwörtern wie „Kompetenz“, „Rechtszuständigkeit“, „Geschäftsfähigkeit“ usw. behandelt. Eine dem Völkerrecht vergleichbare Typologie erschiene im nationalen Recht sonderbar. So würde etwa die Frage, wer im nationalen Recht „derivatives“ oder „originäres“ Rechtssubjekt sei, befremdlich anmuten. Suchte man gar ein „unbeschränktes“ (also omnipotentes) Rechtssubjekt, stünde man vor der Schwierigkeit, dass im verfassten Staat kein Rechtssubjekt unbeschränkte Rechte hat. Stattdessen haben so unterschiedliche Rechtssubjekte wie der Bund, ein Minderjähriger, eine GmbH oder die Stiftung Preußischer Kulturbesitz jeweils einen eigenen, beschränkten Rechtskreis, welcher sich von dem anderer Rechtssubjekte unterscheidet. Sie wären damit allesamt „partielle“ Rechtssubjekte.
Die klassische Typologie stößt an ihre Grenzen
Braucht man also für das Völkerrecht den „Sonderweg“ der Gegensatzpaare? Bejahend könnte man einwenden, dass völkerrechtliche Normen trotz des Aufkommens zusätzlicher Völkerrechtssubjekte wohl noch immer überwiegend (auch) Staaten berechtigen oder verpflichten und daher eine typologische Sonderstellung des Staates angezeigt sein könnte. Auch könnte man für eine „Sonderbehandlung“ auf die herausgehobene Stellung der Staaten als primäre völkerrechtliche Normgeber und Hoheitsträger abstellen.
Natürlich besteht kein Zweifel daran, dass Staaten in der Völkerrechtsordnung Akteure von herausragender Bedeutung sind. Allerdings sind die klassischen Gegensatzpaare viel zu ungenau, um diesen Befund angemessen abzubilden. Das beginnt schon bei der Erkenntnis, dass der einzelne Staat im Völkerrecht eben nicht „unbeschränkt“ ist. Er kann z.B. nicht Territorium durch Annexion erwerben, rechtswirksam entgegen einer Norm des ius cogens Verträge schließen, Menschenrechte im Wege der Individualbeschwerde geltend machen oder sich im Sinne des Völkerstrafrechts strafbar machen. Auch die Normgebungskompetenz der Staaten macht den einzelnen Staat nicht zu einem „unbeschränkten“ Völkerrechtssubjekt.
Der einzelne Staat kann nämlich unilateral nur sich selbst neue Pflichten auferlegen1, nicht aber neue Rechte einräumen. Abgesehen davon kann er neues Recht nur im Zusammenwirken mit anderen Staaten durch Vertrag oder Gewohnheit setzen. Schließlich kann sich auch der souveräne einzelne Staat den o.g. Beschränkungen unilateral nur entledigen, soweit Änderungs- oder Beendigungstatbestände einschlägig sind, was besonders im Gewohnheitsrecht nur selten der Fall sein dürfte. Spiegelbildlich dazu sagt die – quantitative – Bezeichnung „partiell“ noch nichts über den jeweiligen Rechts- und Pflichtenkreis von so heterogenen Subjekten wie etwa einer internationalen Organisation oder einem Individuum aus.
Die Bezeichnung von Staaten als „originär“ besagt im Grunde nur, dass die Tatbestandsmerkmale (die „drei Elemente“ Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt) der juristischen Person „Staat“ gewohnheitsrechtlich anerkannt sind und es daher zur Errichtung eines Staates nur der Erfüllung dieser Tatbestandsmerkmale, nicht aber (wie bei „derivativen“ Subjekten) eines gesonderten Vertrages bedarf. Dabei wird aber oft übersehen, dass ansonsten die Rechte und Pflichten sowohl von Staaten als auch allen anderen Völkerrechtssubjekten in gleichem Maße von einschlägigem Vertrags- und Gewohnheitsrecht bestimmt werden.
Angesichts der Anerkennung etwa von Individualrechten im Gewohnheitsrecht mag man zudem fragen, ob Individuen nur deshalb „derivative“ Subjekte sein sollen, weil ihre Rechte auch von Verträgen herrühren. Soll schließlich „derivativ“ mit „aufgrund eines staatlichen Normsetzungsaktes errichtet“ gleichgesetzt werden, muss bedacht werden, dass auch die „Drei-Elemente-Lehre“ staatlich gesetztes Gewohnheitsrecht darstellt.
Am ehesten aussagekräftig erscheint – wegen der pacta tertiis-Regel – noch die Unterscheidung „absolut“ und „relativ“. Doch auch hier gibt es zahlreiche Sonderfälle (die „absolute“ UN 2 sowie politisch umstrittene „relative Staaten“ wie etwa Südossetien, Palästina usw. sind nur einige augenfällige Beispiele).
Entscheidend sind die konkreten Rechte und Pflichten
So wie sich das ehemals rein zwischenstaatliche Völkerrecht zusehends für andere Akteure öffnet, sollte dies auch die Völkerrechtslehre tun. Wenn – wie z.B. Walter zutreffend ausführt3 – potenziell jeder Akteur Völkerrechtssubjekt sein kann, rücken statt der Subjektqualität der Akteure deren konkrete Rechte und Pflichten in den Fokus. Die klassischen Gegensatzpaare erfassen die zunehmenden Unterschiede in Art und Umfang der den Subjekten jeweils zugeordneten Rechte und Pflichten nur unzureichend, weil sie in missverständlicher Weise die für die Subjektqualität allein entscheidende Frage, ob überhaupt Rechte bestehen, mit der nachgelagerten Frage vermengen, welche konkreten Rechte dies sind.
Es wäre wohl hilfreich, zukünftig strikt zwischen beidem zu unterscheiden. Hinsichtlich der Subjektqualität bestehen zwischen Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten keine Unterschiede, weil alle gleichermaßen Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten sind. Die Unterschiede ergeben sich vielmehr auf der nachfolgenden Stufe der unterschiedlichen Zuordnung konkreter Rechte und Pflichten. Will man die völkerrechtlichen Akteure sinnvoll kategorisieren, muss man also bei dieser Zuordnung ansetzen. Anregungen hierzu gebe ich in der längeren Version dieses Beitrags im Editorial des aktuellen AjV-Newsletters, welche freilich nur als erste Impulse für eine viel breitere Diskussion anzusehen sind.
- IGH, Nuclear Tests Case, ICJ Reports 1974, S. 457, 472 [↩]
- IGH, Reparations for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, ICJ Reports 1949, S. 174 (185). [↩]
- C. Walter, Subjects of International Law, in: EPIL, Stand 2012, Rn. 29 ff; ders., International Law in a Process of Constitutionalization, in: Nijman/Nollkaemper, New Perspectives on the Divide Between National and International Law, OUP 2007, S. 191 ff. [↩]
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Die begrenzende (unter anderem) an der Relativierung von Staatlichkeit anknüpfende These des Autors zur klassischen Typologie der Völkerrechtssubjekte verdient Zustimmung.
Mit Habermas hat er hier einen ganz besonderen Mitstreiter.
Selbiger postulierte bereits in seiner Schrift zur postnationalen Konstellation eine Einbuße autonomer staatlicher Handlungsfähigkeit (Habermas, Die Postnationale Konstellation, Suhrkamp 1998). In seinen m.E. zutreffenden Erwägungen verweist Habermas auf den weitestgehenden Verlust der eigenständigen staatlichen Entscheidung über Krieg und Frieden innerhalb der internationalen Gemeinschaft.
Er greift dies erneut in seinem Plädoyer für eine Europapolitik der abgestuften Integration auf (Habermas, Ach, Europa, Suhrkamp 2008) und stellt dabei einen Verringerung der staatlichen Steuerungsfähigkeit in den Bereichen klassischer Staatsfunktionen – der Sicherung von Frieden sowie die Garantie von Freiheit, Rechtssicherheit und demokratischer Legitimation – als Ergebnis eine globalisierten Weltwirtschaft fest.
Diese Entwicklung ist zur Kenntnis zu nehmen; Götts gedankliche Erstreckung nationalstaatlicher Realitäten auf die völkerrechtliche Typologie folglich konsequent.