von JASPER FINKE
Auf der Assistententagung in Bern dreht sich alles um das „letzte Wort“. Grund genug, sich etwas ausführlicher mit dem Begriff auseinanderzusetzen. Gibt es das „letzte Wort“ überhaupt? Welche unterschiedlichen Bedeutungen können dahinterstehen? Und wann ist es sinnvoll, diese eingängige Metapher zu verwenden?
In seinem Thesenpapier wendet sich Andrej Lang gegen die Metapher vom letzten Wort. Und obwohl ich an seine Überlegungen anknüpfe, möchte ich sie, die Metapher, nicht negieren, sondern versuchen, sie zu entflechten, indem ich zwei Perspektiven auf das „letzte Wort“ – die des Diskurses und die der Entscheidung – entwickle. Dies ermöglicht auch eine differenzierte Sichtweise auf den im Hintergrund schwelenden Konflikt zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Legitimation. Außerdem kann ein entsprechendes Problembewusstsein für die verfassungsrechtsprechende Instanz in politischen Krisenzeiten handlungsleitend sein. Vor diesem Hintergrund ist auch die Positionierung des Bundesverfassungsgerichts in der Euro- und Staatsschuldenkrise zu begrüßen.
Das „letzte Wort“ – eine Relationsvokabel
Die Metapher vom „letzten Wort“ ist meines Erachtens hilfreich, um bestimmte Situationen im Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischem Gesetzgeber zu beschreiben. Denn Recht wird nicht nur durch den Diskurs geprägt, sondern auch durch Entscheidungen. Es ist nicht nur System, sondern wird genauso durch den jeweiligen Einzelfall beeinflusst. Außerdem ist das Verhältnis von Gericht und Gesetzgeber nicht nur normativ geprägt, sondern auch faktisch, d.h. auch wenn das Gericht normativ über das letzte Wort verfügen sollte, kann dies tatsächlich unerheblich sein und umgekehrt. Diese Gegensatzpaare – Diskurs und Entscheidung, System und Einzelfall, normativ und faktisch – können als Orientierungspunkte für die Diskussion dienen und als Koordinaten für die eigene Positionsbestimmung genutzt werden. Dieser Gegenüberstellung entspricht auch eine zeitliche Dimension: Geht es um einen konkreten Fall und dessen normative oder tatsächliche Konsequenzen oder betrachten wir im Nachhinein langfristige Entwicklungszusammenhänge, in denen Entscheidungen eines Gerichts und Reaktionen seitens des Gesetzgebers in ein Geflecht von Wechselwirkungen eintreten?
Das „letztes Wort“ im Diskurs
In seinem Thesenpapier wendet sich Andrej Lang gegen die Metapher vom letzten Wort. Der Verfassungsdiskurs ende gerade nicht mit dem Urteil. Vielmehr werde er anderweitig fortgesetzt und fände teilweise seinen Weg zurück ins Gericht, wenn auch in abgewandelter Form. Etwas umgangssprachlicher lässt sich dies auch mit dem Schlagwort „nach dem Urteil ist vor dem Urteil“ umschreiben. Um diesen Diskurscharakter in der Auseinandersetzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber zu unterstreichen, schlägt Andrej Lang vor, die Funktion von Verfassungsgerichten mit denen eines Wegweisers zu vergleichen, „der einen bestimmten Weg vorgibt, ihn aber nicht selbst beschreitet und auch nicht kontrollieren kann, ob der Weg tatsächlich beschritten wird (…)“.
Diesem Ansatz ist aus einer prozesshaften Perspektive auf Recht nur zuzustimmen. Denn Verfassungsinterpretation ist eine sich ständig fortsetzende Abfolge von Entscheidungen, so dass ein Urteil kein endgültiges Ergebnis darstellt, sondern nur den Ausgangspunkt der weiteren Auseinandersetzung.
Die Kraft der Entscheidung
Allerdings droht diese Perspektive, den finalen Aspekt von Entscheidungen sowie ihre faktischen Wirkungen zu vernachlässigen. Die wiederum sind von den tatsächlichen Umständen abhängig, in denen die Entscheidungen getroffen werden. Denn auch das Bild des Wegweisers beinhaltet die Beschränkung von Handlungsoptionen, indem Verfassungsgerichte den Gesetzgebern bestimmte Wege abschneiden. Abgesehen von den Fällen, in denen das Gericht seine eigene Rechtsprechung korrigiert, behält es das letzte Wort – nicht positiv in dem Sinn, dass es sagt, wo die Reise hingeht, sondern negativ: „Hier geht es nicht lang.“ Auch wenn sich daran eine Diskussion anschließt, in der primär die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der Urteilsbegründung im Mittelpunkt stehen dürfte, so ist in Bezug auf den zu Grunde liegenden Fall das letzte Wort gesprochen worden – zunächst einmal.
Kruzifix und Euro-Krise: Diskurs oder Entscheidung?
Ich möchte die unterschiedlichen Perspektiven auf das letzte Wort anhand von zwei Beispielen verdeutlichen, wobei das eine zur besseren Veranschaulichung ein hypothetisches ist. Der diskursive Prozess der Verfassungsinterpretation lässt sich meines Erachtens exemplarisch an der Kruzifix-Debatte aufzeigen. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 (1 BvR 1087/91) hatte gerade nicht zur Konsequenz, dass in bayrischen Grundschulklassenzimmern keine Kreuze mehr hängen. Ganz im Gegenteil: das Bayrische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz bestimmt dies nach wie vor (Art. 7 IV). Erst wenn Betroffene ernsthafte und einsehbare Gründe gegen die Anbringung vortragen, muss sich die Schulleitung um eine gütliche Einigung bemühen. Zwar ist die Vereinbarkeit dieser doch beträchtlichen Hürde mit Art. 4 Abs. 1 GG nicht wieder bis vor das Bundesverfassungsgericht gelangt. Dennoch ließe sich die These aufstellen, dass gerade darin der Einfluss des politischen und gesellschaftlichen Diskurses über Kreuze in Klassenzimmern zum Ausdruck kommt.
Ein völlig andere Situation hätte sich in der Euro- bzw. Staatsschulden-Krise ergeben können, wenn das Bundesverfassungsgericht am 12. September 2012 die Ratifikation des Vertrages zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus aufgrund eines Verstoßes gegen das Demokratieprinzip iVm der sog. Ewigkeitsklausel für verfassungswidrig erklärt hätte. Natürlich hätte sich daran zwangsläufig ein Diskurs über Demokratie, Staatlichkeit und das „Art. 38 I, 20 I, 79 III GG-Konstrukt“ des Verfassungsgerichts angeschlossen. Aber mit welcher Konsequenz? Entweder hätte der ESM mit weniger „Feuerkraft“ ausgestattet werden müssen. Oder (bzw. und) wir hätten in kürzester Zeit eine neue Verfassung gebraucht. Beide Maßnahmen wären wohl kaum geeignet gewesen, den Herausforderungen durch die Euro-Krise effizient und zeitnah zu begegnen.
Das „letzte Wort“ in der Krise
Ich möchte mich an dieser Stelle nicht damit auseinanderzusetzen, ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum ESM richtig war. Statt um die Sache selbst zu streiten, will ich die Bedeutung einer solchen Entscheidung für das „letzte Wort“ in den Vordergrund stellen.
Sie zeigt, dass es – unabhängig von der normentheoretischen Unterscheidung zwischen Text (d.h. der Verfassung selbst) und dessen Auslegung durch das Gericht sowie der Ausgestaltung des institutionellen Machtgefüges – Situationen gibt, in denen es tatsächlich um das letzte Wort geht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es nicht nur um die Auslegung von Verfassungsvorschriften geht, sondern um die Grundannahmen und Wertungen, die der Verfassungsinterpretation vorausgehen. Stellen sich diese Fragen in Krisenzeiten, die geprägt sind von Unsicherheit, Entscheidungszwang und Zeitdruck, können Entscheidungen von Verfassungsgerichten eine Eigendynamik gewinnen, die einem Gericht faktisch das letzte Wort ermöglichen. Im Rahmen der Euro-Krise ist das Problem nicht die Verschiebung von Staatlichkeit an sich, sondern deren faktische Endgültigkeit. Es geht um grundlegende Annahmen und Wertungen wie z.B. die Frage nach einem unantastbaren Kern von Staatlichkeit, der nicht übertragbar ist und wer diesen ggf. bestimmt. Hätte das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit des ESM z.B. aus diesen Gründen verneint, hätte es tatsächlich „das letzte Wort“ gehabt.
Handlungsorientierung in Krisenzeiten?
Natürlich stellt sich die Frage, was mit dieser Differenzierung gewonnen ist. Im Idealfall hilft sie, die verschiedenen Bedeutungszusammenhänge zu veranschaulichen, in denen die Metapher vom letzten Wort verwendet werden kann. Außerdem soll sie den Blick schärfen für charakteristische Merkmale des Rechts, die insbesondere im universitären Bereich zu leicht aus dem Blickfeld geraten: die Relevanz von Entscheidungen im Einzelfall und deren faktischen Konsequenzen im Gegensatz zur Betonung von Diskurs, System und Normativität.
Darüber hinaus erlaubt die Entflechtung des letzten Worts eine differenzierte Sichtweise auf den latent im Hintergrund schwelenden Konflikt zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Legitimation und die damit einhergehende Frage, wem von beiden das letzte Wort zukommt oder zukommen sollte. Wenn in den meisten Fällen ohnehin der Grundsatz gilt „nach dem Urteil ist vor dem Urteil“, dann relativiert sich auch dieser Konflikt. Denn die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist nur der Ausgangspunkt einer weiteren inhaltlichen Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Akteuren und damit Bestandteil eines kontinuierlichen Prozesses, in dem um die Bedeutung der Verfassung gerungen wird. Der Einwand unzureichender demokratischer Legitimation ist dann lediglich ein institutionelles Scheinargument. Dies gilt zumindest in den Fällen, in denen sich die Kritik nicht gegen das Gericht an sich richtet, sondern gegen den Inhalt einer bestimmten Entscheidung.
In Krisenzeiten ist die Situation jedoch eine grundlegend andere. Die sich in Krisen stellende Notwendigkeit von Entscheidungen, die Ungewissheit ihrer Konsequenzen und die dem Begriff der Dynamik innewohnende Beschleunigung der Ereignisse können dazu führen, dass für einen Diskurs kein Raum bleibt. Weil Entscheidungen eine sofortige Reaktion erfordern und ein Ab- oder Zuwarten schlicht unmöglich ist, kann in einem solchen Kontext ein Urteil doch das sein, was es in Nicht-Krisenzeiten gerade nicht ist: das letzte Wort. Handelt es sich bei den zu entscheidenden Rechtsfragen dann auch noch um umstrittene Grundannahmen und Wertungen, die sich nicht unmittelbar aus dem Text ableiten lassen, sondern die der Verfassung vorausgehen, sollten Verfassungsgerichte sich zurückhalten. Dies gilt selbst für den Fall, dass daraus mittelbar eine Neubewertung von Verfassungsinhalten resultiert. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zumindest in der Euro- und Staatsschuldenkrise entsprechend verhalten. Es hat den demokratischen Prozess gestärkt, ohne die Entscheidung in der Sache selbst zu stoppen. Dadurch hat es gerade nicht das letzte Wort für sich in Anspruch genommen, sondern einen Beitrag für den weiteren Diskurs geliefert. Demokratietheoretisch ist dies auf jeden Fall richtig.