von JAKOB WEICKERT
Das Bundesverfassungsgericht soll besser geschützt werden. Darüber besteht – mittlerweile – Einigkeit unter den demokratischen Parteien. Nach monatelangen Verhandlungen wird nun ein Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen und der Union beraten. Dass in turbulenten Zeiten alle demokratischen Kräfte einen besseren Schutz unserer Verfassungshüter und damit der Verfassung selbst vorantreiben, gibt Grund zur Hoffnung. Doch der Befund bleibt: Vieles was andernorts Verfassungsgerichte lahmlegte (vgl. Gärditz) bleibt weiterhin möglich. Helfen kann hier noch einer: der Bundesrat. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz muss dafür zum Zustimmungsgesetz werden.
Ein Verfassungsorgan mit Verfassungsrang
Der Gesetzentwurf schreibt wichtige Strukturmerkmale des Gerichts im Grundgesetz fest und sieht für den Fall einer Blockade einen Ersatzwahlmechanismus vor. Die entsprechende Regelung des BVerfGG ist Teil des Gesetzgebungsprozesses. All das sind sinnvolle Änderungsvorschläge, für die seit Jahren (Karpenstein NJW 48, Editorial, 2019) geworben wird.
Es bleiben jedoch zwei große Einfallstore: Erstens soll das Zweidrittelquorum für die Richterwahlen weiterhin nur im BVerfGG geregelt bleiben. Zweitens wäre die Verfassung des Verfassungsgerichts – und damit auch das gesamte Prozessrecht – mit einfacher Regierungsmehrheit änderbar. Für beides bietet die Zustimmungspflicht des Bundesrats zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine sachgerechte und umfassende Lösung.
Sicherung der Überparteilichkeit
Breit gefordert (vgl. Britz/Eichberger, FAZ v. 11.02.2024; Voßkuhle, Zeit v. 16.11.2023) und noch breiter diskutiert wurde die Sicherung der erforderlichen Zweidrittelmehrheit (§ 7 BVerfGG) für die Wahl der Richter:innen zum Gericht. Sie garantierte bis dato die – weitgehende – Überparteilichkeit des Gerichts. Anders als beispielsweise der US-Supreme-Court (dazu hier) ist das Bundesverfassungsgericht bisher nicht mit einer besonderen politischen Schlagseite aufgefallen. Am Bundesverfassungsgericht werden keine (partei-)politischen Argumente bemüht, so jedenfalls berichten es ehemalige Richter:innen. Die Beratungen werden auch als sehr konsensorientiert beschrieben (Lübbe-Wolf, Beratungskulturen, S. 38 ff.). All das lässt sich normativ nicht fassen, hängt aber an den Personen, die im Gericht tätig sind. Menschen, die bisher eine breite Mehrheit auf sich vereinen mussten.
Diese Regelung will der Ampel-Union-Kompromiss gerade nicht sichern. Begründen ließe sich dies mit der Gefahr, dass eine destruktive Opposition Richter:innenwahlen blockieren könnte. Doch gerade dafür wurde der innovative Ersatzwahlmechanismus geschaffen.
Im vorliegenden Entwurf verbleibt hier eine Leerstelle (so auch Schweickhardt/Schüpferling, Spieker & Nußberger). Im Ergebnis bliebe diese fundamentale Vorschrift in der Hand der einfachen parlamentarischen Mehrheit im Bundestag. Eine Regierung, die entsprechend gewillt ist, könnte weiterhin § 7 BVerfGG ändern und dann ihre Regierungsmehrheit nutzen, um jedenfalls die dem Bundestag zustehende Hälfte der Richter:innen zu besetzen. Eine formale Stimmenmehrheit im Gericht ließe sich dadurch nicht erlangen, doch braucht es die vielleicht noch gar nicht, um die so wichtigen Beratungskulturen am Gericht zu verändern. Auch einzelne Richter:innen könnten das Klima der Beratung verändern, insbesondere wenn sie die Vertraulichkeit der Beratungen nicht respektieren. Auch könnte ein:e einzelne:r Richter:in mit taktischer Bitte um sofortige Entlassung aus dem Amt (§ 12 BVerfGG) große laufende Verfahren verzögern. Dieses Szenario – mag es fernliegend erscheinen – liegt diesem Gesetzentwurf zu Grunde. Entsprechend sollte hier folgerichtig auch die Zwei-Drittel-Mehrheit besser abgesichert sein.
Aus Karlsruhe Warschau machen?
Das zweite Einfallstor sind die Modalitäten der Entscheidungsfindung. Bis auf die Unterteilung in zwei Senate verbleiben diese Regelungen vollständig im einfachen Bundesverfassungsgerichtsgesetz. In Polen wurden gerade formale Regelungen genutzt, um das dortige Verfassungsgericht lahmzulegen (vgl. Venedig-Kommission, S. 96). Was in Warschau möglich war, bliebe auch in Karlsruhe möglich. Dass autoritäre Populisten demokratische Institutionen missbrauchen, hat die AfD in Thüringen spätestens in der konstituierenden Sitzung des Landtags bewiesen. Wenn es eine Möglichkeit zur Obstruktion gibt, ist sie diesen Akteuren bekannt und wird genutzt. Deutlich wird das insbesondere durch wiederholte Angriffe im Nachgang der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs. Die AFD stellte hierzu insbesondere Strafanzeigen gegen einzelne Richter*innen.
Für das Bundesverfassungsgericht wäre hier exemplarisch die Entscheidungsfindung in Kammern zu betrachten. In Karlsruhe gehen pro Jahr tausende Verfahren ein (4.934 in 2022), die Senate selbst entscheiden hiervon lediglich einige Dutzend (39 in 2022, 61 in 2021). Der Rest wird innerhalb der Kammern entschieden, die mit drei Richter:innen besetzt sind.
Die Rechtsgrundlage für die Bildung von Kammern findet sich in § 15a BVerfGG. Würde man diesen abschaffen, dem Gericht gar die Errichtung von Kammern verbieten, hätte eine autoritär-populistische Bundestagsmehrheit erfolgreich die bisherige Arbeitsweise des Gerichts blockiert. Stützen könnte sie sich dabei auch auf Stimmen aus der Rechtswissenschaft, die den Entscheidungsmodus in Kammerverfahren mit durchaus überzeugenden Argumenten kritisieren (vgl. Lamprecht, NJW 2001, 419; gar Böckenförde, ZRP 1996, 281). Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung im Minutentakt, von Lamprecht anschaulich ausgerechnet, ist vor dem Hintergrund von Art. 101 GG durchaus bedenklich. Dennoch ist sie bei tausenden Verfassungsbeschwerden eine Voraussetzung für das „Bürgergericht“.
Hier könnte die autoritär-populistische Strategie ansetzen, Verfassungsprozessrecht als Instrument verwenden und damit eine Schlüsselinstitution des liberalen Rechtsstaats schwächen. Sie müsste keine Lösung für das Problem präsentieren, dass ein Gericht knapp 6000 Verfahren nicht in nur 2 Gremien bearbeiten kann. Sie könnte die bestehende inhärente Schwäche nutzen, um die Kammern ersatz- und alternativlos zu beseitigen. Das entsprechende Narrativ ließe sich wohl problemlos stricken. Karlsruhe entscheide ohnehin zu viel. Außerdem dürfe das Volk ja wohl erwarten, dass sich alle Richter an einer Entscheidung beteiligen. So skandalisierten und obstruieren autoritär-populistische Parteien bereits erfolgreich die arbeitsteiligen Entscheidungsprozesse anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Bundestages.
Entscheidungen in eigener Sache
Mit solchen Regelungen ließe sich das Gericht lahmlegen, oder jedenfalls empfindlich stören – und das Kammerverfahren ist nur ein Beispiel, wie eine Regelung im BVerfGG instrumentell ausgenutzt werden könnte. Mit dem vorliegenden Entwurf hätte das Gericht zwar einen Schutzschild, den es in die Hand nehmen könnte – die eigene Organstellung. Art. 93 Abs. 1 GG-E könnte dem Gericht die Grundlage bieten, entsprechende einfachgesetzliche Angriffe abzuwehren.
Eine Entscheidung in eigener Sache, könnte jedoch das Gericht selbst beschädigen. Der größte Trumpf des Verfassungsgerichts ist das Vertrauen von Politik, Verwaltung und Bevölkerung. Verfassungsgerichte in Deutschland genießen dieses Vertrauen. Ein Gericht „ohne Truppen“ ist darauf angewiesen, dass seinen Entscheidungen aus Überzeugung gefolgt wird. In diesem Szenario müsste sich das Gericht in eigener Sache gegen den demokratisch legitimierten Gesetzgeber stellen und eigene Interessen durchsetzen. Es hätte an dieser Stelle die eigene Organstellung zu verteidigen, gegen eine parlamentarische Mehrheit. Ob dieses Gericht dann noch weiterhin „von einer breiten gesellschaftlichen Wertschätzung“ getragen würde ist nicht abzusehen. Eines verrät auch hier der Blick über den Atlantik, das Vertrauen in die Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht in Stein gemeißelt. Während noch 2019 68% die Arbeit des Supreme Courts insgesamt als positiv bewerteten, sind es heute nur noch 44%. Täte das Gericht hingegen nichts, würden Fälle liegen bleiben und damit gingen die Türen auf für exekutiven Machtmissbrauch.
Föderalismus als Sicherungsanker
Die Gefahr einer Entscheidung in eigener Sache lässt sich reduzieren. Durch institutionelle Verschränkungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahren, kurz: Das BVerfGG muss zum Zustimmungsgesetz werden. Eine Änderung des BVerfGG müsste nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat eine Mehrheit erringen. Das erfordert einen breiteren politischen Konsens (vgl. Forck und Spieker). Diese Forderung machte sich zuletzt auch der Bundesrat selbst zu eigen (vgl. Drs. 457/24).
So lägen die beschriebenen Strukturregelungen nicht mehr in der alleinigen Hand der Regierungsmehrheit. Dafür sprechen schon institutionell die besseren Gründe: Der Bundesrat ist bereits gleichberechtigtes Kreationsorgan für das Gericht. Forck argumentiert zurecht, dass dem Gericht gerade im föderalen System auch Entscheidungen über die Kompetenzen der Länder zukommen. Diese sind zudem an die Entscheidungen des Gerichts gebunden (vgl. jüngst hier und hier). Dazu könnte die Rolle der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit auch in Landesangelegenheiten wachsen. Sollten angesichts möglicher Turbulenzen der eigenen Landesverfassungsgerichtsbarkeit einzelne Länder von der Organleihe (Art. 99 GG) Gebrauch machen, hätten diese ein gesteigertes Interesse an einem funktionsfähigen Bundesverfassungsgericht. In Thüringen und gerade auch Brandenburg drohen schon jetzt Blockaden der Richter:innenwahl, ein Ausweg aus diesen könnte die Einsetzung des Bundesverfassungsgerichts als Landesverfassungsgericht sein. Damit besteht kein Grund die Länder von „ihrem Gericht auszuschließen.
Hinzu kommt: Zustimmungsgesetze sind politischer und rechtlicher Alltag. Das Verfahren ist erprobt. Eine Verzögerung entsteht jedenfalls aus dem ordinären Verfahren nicht, schließlich sind Änderungsvorschläge am BVerfGG der Staatspraxis nach, ohne hin schon diesem selbst zu zuleiten. Der Bundesrat wird gem. Art. 76 Abs. 2 S. 1 bei Regierungsentwürfen beteiligt. Es besteht auch anders als bei den meisten zustimmungsbedürftigen Gesetzen keine Schere zwischen Bund und Ländern, nach der der Gesetzgeber des Bundes bestellt und die Länder den Verwaltungsaufwand tragen. Auch die Änderungshäufigkeit des BVerfGG spricht gegen einen Bedarf an Flexibilität. Seit Inkrafttreten wurde es 38-mal und damit bedeutend seltener als andere (zustimmungsbedürftige) Gesetze geändert.
Zweifelsfrei sind Blockaden und auch Verzögerungen durch eine stärkere Einbindung der Länder nicht auszuschließen. Doch sind ihre Effekte keineswegs gravierend. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass das BVerfG mit seiner aktuellen normativen Grundlage ein arbeitsfähiges Gericht ist und das auch in Zukunft sein wird. Eine mögliche Blockade auf diesem Status-quo scheint daher angesichts der aufgezeigten Bedrohungslage das deutlich geringere Übel. Auch bedürfen Änderungen des Verfassungsprozessrechts selten besonderer Eile.
Gerade wenn eine Überfrachtung des Grundgesetzes vermieden werden soll, sind prozedurale Sicherungen angezeigt. Sie zwingen alle Akteure dazu, einen breiten Konsens herzustellen, wie es im Rahmen der Organverschränkung verfassungsmäßig vorgezeichnet ist. Der Bundesrat ist Teil der robusten Demokratie des Grundgesetzes, das zeigt sich schon in der Notkompetenz aus Art. 81 Abs. 1 GG. Es ist folgerichtig, dieses Organ einzubinden, um das Bundesverfassungsgericht zu sichern. Er ist Kristallisationspunkt der grundgesetzlichen Verhandlungsdemokratie, genau deren Resilienz sollte genutzt und mit einer Zustimmungspflicht gestärkt werden.
Jetzt den Anker setzen
Die Gefahr einer autoritär-populistischen Mehrheit im Bundestag mag – glücklicherweise – fern erscheinen. Szenarien wie in diesem Beitrag skizziert sind, zumindest aktuell, nicht hoch wahrscheinlich. Jedoch schließt sich gegebenenfalls schon bald das Fenster, in dem die Verfassung noch robuster gemacht werden kann. Sobald sich im Bundestag eine destruktive Sperrminorität findet, werden Verfassungsänderungen nicht mehr möglich sein. Das kann schneller gehen als man denken mag, Thüringen und insbesondere Brandenburg lassen grüßen. Gerade deshalb sollte die Absicherung des Bundesverfassungsgerichts noch vor einer möglichen Neuwahl erfolgen und sie sollte möglichst umfassend sein und die Zustimmungspflicht des Bundesrats umfassen.
Zitiervorschlag: Weickert, Jakob, Sicherungsanker Bundesrat: Warum das Bundesverfassungsgericht die Länder braucht, JuWissBlog Nr. 74/2024 v. 13.11.2024, https://www.juwiss.de/74-2024/
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