Die Vorfälle in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Augsburg-Gablingen beschäftigen nach wie vor die Republik. Gefangene sollen gefoltert, insbesondere von JVA-Personal geschlagen worden sein. Immer neue Details werden bekannt. Der Kreis von Bediensteten, gegen die staatsanwaltschaftlich ermittelt wird, wird größer. Auch die politische Empörung nimmt zu. Dabei ist der nächste Vorfall schon in Sicht. Diesmal in Thüringen.
Im Rahmen dieser Gemengelage möchte ich nicht Stimmung gegen den Strafvollzug oder sein Personal machen. Es geht mir vielmehr um den kritischen Blick auf unser Vollzugssystem, der vor allem dann nötig ist, wenn Fehler passieren und Probleme auftauchen. Diesen kritischen Blick müssen der Staat und die Justiz aushalten – immerhin sperren sie Straftäter ein. Nicht zu vergessen: Das Einsperren ist kein Selbstzweck. Es geht im Strafvollzug vor allem um Resozialisierung, also darum, Menschen auf ein straffreies Leben in Freiheit vorzubereiten. Rache und Vergeltung sind hier kein Leitmotiv (mehr).
Ohne Kritik keine Resozialisierung
Resozialisierung ist mit Blick auf die im Vollzug gleichfalls zu gewährleistende Sicherheit gewiss keine leichte Aufgabe. Wer das aber anerkennt, wird sich über Kritik nicht ärgern, sondern sie als das nehmen, was sie in diesem Fall tatsächlich ist: als Teil des Umgangs mit unserem Vollzugssystem. Historisch betrachtet hat dieser kritische Umgang weg vom Ideal des Verwahrvollzugs hin zum heutigen Leitgedanken des modernen Resozialisierungsvollzugs geführt. Durch kritische Blicke – und eine gerichtliche Kontrolle – wurden wichtige Erkenntnisse gewonnen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass auch Gefangene Grundrechtsträger sind und sich ihre Grundrechte nur auf Grundlage eines förmlichen Gesetzes, des Strafvollzugsgesetzes, beschränken lassen (sogenannte Strafgefangenen-Entscheidung des BVerfG – Beschluss vom 14.3.1972, Az. 2 BvR 41/71).
Wer den Weg hin zu einem modernen Resozialisierungsvollzug konsequent weiterbeschreiten will, sollte daher wachsam bleiben und Vorfälle ernstnehmen, bei denen es um Eingriffe in die Rechte von Gefangenen geht. Denn ungerechtfertigte Eingriffe können Rückschritt bedeuten. Dass die JVA Augsburg-Gablingen kein Einzelfall ist, dürfte insofern kaum überraschen. Eingriffe – und dabei auch Fehler – passieren überall, vor allem dort, wo Menschen mit Menschen arbeiten, und vor allem dann, wenn es weder Aufsicht noch Kontrolle gibt. Wichtiger ist die Frage, ob es sich um einen einmaligen Vorfall handelt oder um ein strukturelles Problem. Das zu unterscheiden ist nicht immer leicht, aber wichtig, wenn man Probleme lösen und Fehler vermeiden will. Hier kommt es auf eine genaue Betrachtung des Einzelfalls an. Das gilt umso mehr, als der gesetzliche Rahmen für den Strafvollzug nicht mehr bundeseinheitlich, sondern von den Bundesländern vorgegeben wird.
Urinkontrolle von Gefangenen
Passend dazu ein aktueller Fall aus Thüringen – der Beschluss des Landgerichts Meiningen vom 25. September 2024 (Az. 4 StVK 550/24 Vollz).
Im Juni 2024 ordnete die JVA Untermaßfeld gegen einen Strafgefangenen die Durchführung einer Urinkontrolle an. So sollte festgestellt werden, ob er Betäubungsmittel konsumiert hatte, da der Verdacht auf unerlaubten Betäubungsmittelkonsum bestand. Zur Durchführung der – beaufsichtigten – Kontrolle forderte die Anstalt vom Gefangenen die vollständige Entkleidung. Als er dies verweigerte und die Kontrolle deshalb nicht durchgeführt wurde, erließ die Anstalt folgende Anordnungen: Beschränkung von Telefonaten für die Dauer von drei Monaten, Trennvorrichtung bei Besuchen und Briefüberwachung (Rn. 2).
Der Gefangene wandte sich an das Gericht. Er führte über seinen Anwalt aus, dass dies seiner Meinung nach Disziplinarmaßnahmen seien. Er sei „grundsätzlich zur Mitwirkung an einer Urinkontrolle bereit gewesen. Jedoch sei für ihn aus rechtlichen, persönlichen und religiösen Gründen nicht hinnehmbar, sich in Gegenwart aller Justizvollzugsbeamten vollständig zu entkleiden. Er habe angeboten, dass die Urinkontrolle unter Aufsicht, jedoch ohne vollständiges Entkleiden durchgeführt wird“ (Rn. 3). Dazu ist die Anstalt nicht bereit gewesen. Die Strafvollstreckungskammer kam nach Prüfung schließlich zu dem Ergebnis, dass die von der JVA angeordneten Maßnahmen rechtswidrig und daher aufzuheben waren.
Wie gesagt: Fehler passieren. Warum der Fall dennoch kritisch zu sehen ist? Hier geben die Ausführungen des Landgerichts zum von der Anstalt geforderten Ablauf der Urinkontrolle Aufschluss. Es sei demzufolge nicht nachvollziehbar, „weshalb die Antragsgegnerin zur effektiven Durchführung der Urinkontrolle eine vollständige Entkleidung und eine durchgängige Beaufsichtigung für erforderlich erachtet“ (Rn. 21).
Diese deutlichen Worte lassen aufhorchen. Das Landgericht legt damit den Finger in die Wunde. Denn bei Urinkontrollen mit freier Sicht auf den Genitalbereich wird das Schamgefühl der Gefangenen verletzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könne es – so die Kammer weiter – „gerade der besonderen Rücksichtnahme auf das Schamgefühl des Gefangenen entsprechen, wenn diesem die Wahl gelassen wird, ob er mit einer vorherigen Durchsuchung einverstanden ist – mit der Folge, dass die Urinabgabe ohne Blick der Aufsichtsperson auf das entkleidete Glied erfolgen könnte – oder ob die Urinabgabe unter Aufsicht erfolgen soll“ (Rn. 22).
Diese Erwägungen stammen aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2022 (Az. 2 BvR 1630/21). Sie zeigen, dass die Urinkontrolle unter Beaufsichtigung ein erheblicher Grundrechtseingriff ist und dass die thüringische Anstalt hier über weniger schamverletzende Kontrollmöglichkeiten hätte nachdenken müssen. Das Landgericht verweist auf „schonendere Methoden“, die dem – auch – im Strafvollzug geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht werden, wobei mildere, alternative Maßnahmen schon die Erforderlichkeit ausschließen. Im Jahresbericht 2023 (S. 68) der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter wird etwa über einen Abstrich im Mund für Berlin und Sachsen oder über den Einsatz eines Markersystems im Saarland berichtet.
Thüringer Einzelfall oder strukturelles Problem?
Die Entscheidung des Landgerichts Meiningen kann jedoch auch ein Fingerzeig auf ein strukturelles Problem mit Urinkontrollen im Strafvollzug sein. Offenbar ist die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2022 in der JVA Untermaßfeld auch im Jahr 2024 noch nicht angekommen. Es könnte ein Fehler im Einzelfall sein, der künftig nicht mehr vorkommt. Es könnte aber auch sein, dass hier ein weiterer kritischer Blick auf die thüringische Vollzugspraxis in Sachen Urinkontrollen nötig wird. Denn Urinkontrollen mit Blick auf die Genitalien können nicht nur rechtswidrig, sondern sogar verfassungswidrig sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss von 2022 eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts festgestellt.
Wie der Passauer Strafrechtsprofessor Robert Esser in seinem Praxiskommentar (NStZ-RR 2022, 325) zutreffend schreibt, kann dieses Vorgehen in die Intimsphäre und damit auch in die Menschenwürde der Gefangenen eingreifen. Aus der Entscheidung des Landgerichts Meiningen folgt für die Justizverwaltung also der Auftrag, sich über grundrechtsschonendere Kontrollen Gedanken zu machen. Das gilt umso mehr, als die Anstalt dem Gefangenen keine milderen Kontrollmittel angeboten hat und dessen Angebot ohne nachvollziehbare Gründe abgelehnt hat, die Urinkontrolle zwar unter Aufsicht, aber ohne vollständiges Entkleiden durchzuführen.
Insofern lohnt auch ein erneuter Blick in den Jahresbericht 2023. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter hatte (S. 68) festgestellt, dass in „den besuchten JVAen in Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen sowie in der JA in Niedersachsen“ die Drogenkontrollen „ausschließlich mittels Urinabgabe unter direkter Beobachtung“ erfolgten. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2022 führte dort jedoch zu einem Anschauungswandel. So liest man weiter, dass von den zuständigen Landesjustizministerien unter Bezugnahme auf die Karlsruher Entscheidung folgende Schritte angekündigt wurden:
„Während die Einführung eines Markersystems als freiwillige Alternative zur Schonung des Schamgefühls der Gefangenen in Baden-Württemberg zeitnah erfolgen soll und in Hessen gegenwärtig der Einsatz eines solchen Markersystems in der JVA Schwalmstadt getestet wird, teilte das Niedersächsische Justizministerium mit, dass das Angebot alternativer Testmöglichkeiten geprüft werde“ (S. 68).
Recht so! Um hier die offensichtlich notwendige Rechtsklarheit und Rechtssicherheit hinter Gittern zu schaffen, erscheint auch eine gesetzliche Anpassung erwägenswert. Zumindest im Hinblick auf das Wahlrecht des Gefangenen, wie die Kontrolle durchgeführt werden soll.
Wir müssen weiter hinsehen bei Vorfällen im Vollzug.
Zitiervorschlag: Bode, Lorenz, Hinsehen bei Vorfällen im Vollzug!, JuWissBlog Nr. 75/2024 v. 14.11.2024, https://www.juwiss.de/75-2024/
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