Hard cases make (good) law!? – Zur Immunität amtierender Regierungschefs

von BENJAMIN RASIDOVIC und EMINA RASIDOVIC

Mit der Entscheidung der Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zum Erlass eines Haftbefehls gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu hat die Frage nach der Immunität amtierender Staats- und Regierungschefs eine neue Aktualität erlangt. Die Frage, ob nun alle Vertragsstaaten des IStGH – darunter Deutschland – im Falle einer Einreise Netanjahus zur Festnahme und Überstellung nach Den Haag  verpflichtet wären, ist bereits nach der Beantragung des Haftbefehls durch den IStGH Chefankläger medial breit diskutiert worden (siehe etwa die gegenläufigen Einschätzungen in der FAZ: hier und hier). Dieser Beitrag soll die völkerrechtlichen Prämissen der Debatte zusammenfassen und möchte aufzeigen, warum gerade eine potenzielle Verhaftung Netanjahus (analog zum Fall Wladimir Putins) einen beachtlichen Präzedenzfall für die Verfestigung der völkerrechtlich relevanten Staatenpraxis darstellen könnte.

1. Persönliche und funktionale Immunitäten als Korrelate der Staatenimmunität

(Völker)rechtlicher Dreh- und Angelpunkt der Debatte ist die Reichweite der aus dem Grundsatz der Staatenimmunität folgenden persönlichen Immunität von Staats- und Regierungschefs gegenüber ausländischer Gerichtsbarkeit. Diese Form der persönlichen Immunität amtierender Staats- und Regierungschefs, die als Grundvoraussetzung für die Funktionsfähigkeit politischer Beziehungen zwischen den Staaten verstanden wird und deshalb umfassend gilt, muss zunächst von der teilweise gleichlaufenden funktionalen Immunität unterschieden werden (siehe dazu etwa hier), wobei letztere (hoheitliche) Amtshandlungen materiell von der Gerichtsbarkeit anderer Staaten freistellt aber in der jüngeren völkerstrafrechtlichen Praxis im Namen des sog. Weltrechtsprinzips bereits eine umfassende Relativierung erfahren hat (siehe etwa anlässlich der jüngsten VStGB Reform: hier und hier),  die nunmehr auch in § 20 Abs. 2 S. 2 GVG niedergelegt ist.

2. Keine persönliche Immunität vor dem IStGH im vertikalen Verhältnis

Auch im Hinblick auf die persönliche Immunität ist die Lage im Verhältnis zum IStGH selbst eindeutig: Die Vertragsstaaten des IStGH haben sich im Römischen Statut gem. Art. 27 Abs. 1 des Immunitätseinwands gegenüber dem Gerichtshof unmittelbar völkervertragsrechtlich entsagt.  Für Israel als Nicht-Vertragspartei ist dies zwar nicht der Fall. Auch für Drittstaaten ist aber in diesem „vertikalen Verhältnis“ zwischen einem Staat, dessen Staats- oder Regierungschef völkerstrafrechtlich verfolgt wird, und dem IStGH eine Immunitätsdurchbrechung völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Hier sind in der Staatenpraxis diverse Präzedenzfälle ersichtlich (siehe die aktuellen Darstellungen: hier und hier), deren Anknüpfungspunkte bis auf die Erscheinung des Völkerstrafrechts selbst mit den Nachkriegsprozessen von Nürnberg und Tokio zurückgehen. In der einschlägigen Rechtsprechung internationaler Gerichtshöfe findet sich entsprechend der Nachweis einer umfassenden (völkergewohnheitsrechtlichen) Immunitätsdurchbrechung vor internationalen Gerichtshöfen, etwa in der IStGH Entscheidung bzgl. des Haftbefehls gegen den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Bashir, im Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien bzgl. des ehemaligen Präsidenten Milošević oder in der IGH-Entscheidung im sog. „Arrest Warrant Fall“ (Dem. Rep. Kongo gegen Belgien).

3. (K)eine Staatenpraxis bezüglich Immunitätsverzicht im horizontalen Verhältnis?

Zu berücksichtigen bleibt aber, dass die Situation der Verhaftung und Überstellung eines amtierenden Staats- oder Regierungschefs mangels eigener Exekutivkräfte des IStGH, die einen Haftbefehl vollstrecken könnten, zwangsläufig auch das „horizontale“ Verhältnis zwischen dem haftbefehlsvollstreckenden Vertragsstaat und dem jeweiligen Drittstaat betrifft.  Auch in diesem Verhältnis bedarf es zumindest einer Rechtfertigung der Durchbrechung des Grundsatzes der Immunität eines amtierenden Staats- bzw. Regierungschefs. Dies kann auch nicht vollständig mit dem Hinweis darauf ausgeblendet werden, der jeweils vollstreckende Staat handele nicht im eigenen Namen, sondern stellvertretend für den IStGH oder die gesamte Staatengemeinschaft (so etwa hier), sodass sich hier allein das vertikale Verhältnis fortsetze. Denn Art. 98 Abs. 1 des Römischen Statuts erkennt die Existenz des horizontalen Rechtsverhältnisses zwischen Vertragsstaaten und Drittstaaten ausdrücklich an und bestimmt, dass die Rechtshilfeersuchen des IStGH seine Vertragsstaaten nicht dazu auffordern sollen, gegen tatsächlich bestehende Verpflichtungen zur Achtung der Staatenimmunität von Drittstaaten zu verstoßen. Der IStGH interpretierte diese Regelung im Fall des Haftbefehls gegen Al-Bashir jedoch als Verfahrensnorm, die nur den Gerichtshof selbst zur Rücksichtnahme verpflichte, ohne dass daraus Verweigerungsrechte der ersuchten Vertragsstaaten bei der Haftbefehlsvollstreckung entstünden oder gar neue Immunitätstatbestände begründet würden. Aus der Sicht des IStGH besteht im Ergebnis also auch unter Berücksichtigung von Art. 98 des Römischen Statuts eine Pflicht der Vertragsstaaten, seine Haftbefehle zu vollstrecken.

Gleichwohl bietet die Norm Anlass dazu, sich möglicher Begründungen einer Immunitätsdurchbrechung gegenüber Drittstaaten auch im horizontalen Verhältnis zu vergegenwärtigen. Hier allein auf den Erlass des IStGH Haftbefehls abzustellen, wäre nach dem Vorstehenden zirkelschlüssig. Dies folgt auch aus der völkervertragsrechtlichen pacta tertiis Regel (vgl. Art. 34 des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens), nach der ein völkerrechtlicher Vertrag nicht unmittelbar die Rechte von Drittstaaten beschneiden darf. Entsprechend liefert auch Art. 27 des Römischen Statuts im horizontalen Verhältnis keine Begründung. Es bedürfte vielmehr zusätzlich eines über das IStGH System hinausgehenden Rechtssatzes, der sich wohl nur aus dem Völkergewohnheitsrecht (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. b) IGH Statut) ergeben kann:

Ob die dafür notwendige von einer Rechtsüberzeugung (opinio iuris) getragene Staatenpraxis in Bezug auf das horizontale Staatenverhältnis tatsächlich besteht, ist nicht zwingend inhaltsgleich aus dem Rechtsverständnis über das vertikale Verhältnis gegenüber den internationalen Gerichtshöfen abzuleiten. Bei der Staatenpraxis, die hierzu oftmals angeführt wird (siehe oben), muss zunächst die Vergleichbarkeit betrachtet werden: In den Fällen Al-Bashirs und Gaddafis ist zu erkennen, dass sich vor dem Erlass der jeweiligen IStGH Haftbefehle bereits der UN-Sicherheitsrat mit bindenden (Art. 25 UN Charta) Resolutionen (Res. 1593 und  Res. 1970) eingeschaltet hatte und den IStGH ungeachtet möglicher Immunitäten zur Strafverfolgung ermächtigt hat. In der Sprache des IStGH ausgedrückt bestand damit auch gegenüber dem Drittstaat ein besonderer „jurisdictional trigger“ iSd. Art. 13 lit. b) des Römischen Statuts.  Auch in Bezug auf die vor anderen internationalen Gerichtshöfen verfolgten Staatsoberhäupter, wie den bereits erwähnten Slobodan Milošević (Jugoslawien),  Charles Taylor (Sierra Leone) oder Jean Kambanda (Ruanda) bleibt zu erinnern, dass die Errichtung der internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda ihrerseits auf Sicherheitsratsresolutionen zurückzuführen ist (vgl. Res 827 und Res. 955) bzw. im Fall Sierra Leones durch ein Übereinkommen mit den Vereinten Nationen legitimiert wurde. Ein Nachweis über Fälle, in denen ein amtierender Staats- oder Regierungschef eines Drittstaates allein in Ausführung eines Haftbefehls unter dem Römischen Statut festgenommen und überstellt wurde, lässt sich nicht beobachten.

4. Hard cases (may) make law

Dies eröffnet einmal mehr die Frage nach den Voraussetzungen an die Staatenpraxis selbst und möglichen Rückschlüssen aus dem aktuell bestehenden Gesamtbild: Im Falle des Haftbefehls gegen Wladimir Putin ist eine Akzeptanz in signifikanten Teilen der Staatengemeinschaft zu verzeichnen, die auch durch die erfolgte Weigerung einer Festnahme durch die Mongolei als Vertragsstaat wohl nicht insgesamt in den Schatten gestellt wird (siehe erneut hier). Diese universelle Akzeptanz des Römischen Statuts könnte und müsste nun im Falle des Haftbefehls gegen Netanjahu aktualisiert werden. Soweit Außenministerin Baerbock und Regierungssprecher Hebestreit bisher lediglich zurückhaltend eine „innerstaatliche Prüfung“ angekündigt haben, ist fraglich, ob dies zur Verfestigung der Staatenpraxis beiträgt. Der kontroverse Fall Netanjahus kann deshalb als Gelegenheit zur Festigung des IStGH und einer deutlichen Staatenpraxis im horizontalen Verhältnis verstanden werden, die im Sinne einer allgemeinen opinio iuris gerade  „ohne Ansehen der Person“  und ungeachtet politischer Bündnisschemata gilt. Völkerrechtspolitisch gilt daher entgegen der landläufigen Weisheit aus dem common law: hard cases (may) make good law!

Zitiervorschlag: Benjamin Rasidovic und Emina Rasidovic, Hard cases make (good) law!? – Zur Immunität amtierender Regierungschefs, JuWissBlog Nr. 77/2024 v. 28.11.2024, https://www.juwiss.de/77-2024/

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Benjamin Netanjahu, Haftbefehl, ICC, Immunität, IStGH, Völkerstrafrecht
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