Alles zu verlieren, nichts zu gewinnen: Wider eine ultra-vires-Kontrolle der IStGH-Haftbefehle

von NICOLAS PORWITZKI

Die Ankündigung des Bundeskanzlers in spe Friedrich Merz den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu nach Deutschland einzuladen und die Haftbefehle des IStGH zu ignorieren, war eigentlich schon abgelehnt, bevor sie ihm einfiel (hier und hier). Wenig überraschend ist deshalb, dass auch der konkrete Vorstoß nach innerstaatlichem und internationalem Recht für rechtswidrig gehalten wird (hier). In der bisherigen Analyse noch nicht vertieft eingegangen, wurde auf die Frage, wie sich die konkrete prozessuale Einkleidung auf eine mögliche Argumentation der Bundesregierung auswirken würde. Sollte wirklich nach einer „juristischen Lösung“ gesucht werden, wie Friedrich Merz verspricht, dann könnte es auf eine ultra-vires-Kontrolle der Haftbefehle hinauslaufen. Diese wäre zum Scheitern verurteilt und das auf Kosten der Stützpfeiler der internationalen Strafrechtsordnung.

Nicht viel möglich, außer ultra-vires-Kontrolle

Der IStGH-Haftbefehl nach ist eine Maßnahme mit rein völkerrechtlichem Charakter. Er begründet eine völkerrechtliche Verpflichtung für die Vertragsstaaten die gesuchte Person zu überstellen (Art. 59 Abs. 1 iVm Art. 89, 91 Abs. 2 Rom-Statut). Wie dieser Verpflichtung nachgekommen wird, bleibt der innerstaatlichen Rechtsordnung überlassen. Deutschland regelt das im Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem internationalen Strafgerichtshof (IStGHG). Aus dem Auslieferungsrecht bekannt ist dabei die Zweiteilung in gerichtliches Zulässigkeits- und exekutives Bewilligungsverfahren.

Das IStGHG stellt außer ne bis in idem (§ 3 IStGHG) keine rechtlichen Einwände bereit, die der Betroffene in der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung geltend machen kann. Diese dient der Geltendmachung tatsächlicher Einwände (bspw. Verwechslung). Insbesondere findet keine mit § 10 Abs. 2 IRG vergleichbare Nachprüfung der IStGH-Haftbefehle statt. Dies verbietet Art. 59 Abs. 4 S. 2 Rom-Statut. Die gerichtliche Zurückweisung eines IStGH-Haftbefehls aus Rechtsgründen ist nach der Konzeption des IStGHG also praktisch unmöglich (vgl. Wilkitzki

Es wäre aber denkbar, dass sich hier mit dem Argument eines „rechtsmissbräuchlichen“ Haftbefehls beholfen wird, wonach der internationale Haftbefehl rechtsfehlerhaft sei und deshalb schon völkerrechtlich nicht zur Vollstreckung verpflichten würde. Dieses Argument ließe sich mittels einer ultra-vires-Prüfung anhand von Art. 24 GG konstruieren, um doch noch eine Prüfungskompetenz der innerstaatlichen Gerichte zu begründen. Hierfür stößt die Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis zwischen innerstaatlichem Recht und Unionsrecht die Tür auf, die auf die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen von Art. 24 GG grds. übertragbar ist. Dabei handelt es sich aber um eine massiv eingeschränkte Prüfungskompetenz mit hoher Darlegungslast. Unsubstantiierten Behauptungen der Rechtsmissbräuchlichkeit muss seitens der innerstaatlichen Gerichte nicht nachgegangen werden ( ). Die ultra-vires-Kontrolle setzt vielmehr einen hinreichend qualifizierten Verstoß voraus.

Fehlende Staatlichkeit, fehlende Gerichtsbarkeit?

Zur Substantiierung könnte die Bundesregierung hier anführen, dass schon die Entscheidung der Pre-Trial Chamber I, die Gerichtsbarkeit des IStGH unabhängig von der Anerkennung eines Staates Palästina auf den Begriff der „State Party“ zu stützen, als ultra-vires abzulehnen wäre. Dafür müsste Deutschland begründen können, warum es objektiv willkürlich sei, die Gerichtsbarkeit auf Palästina zu erstrecken, dessen Beitritt zum Rom-Statut Deutschland ohne Vorbehalte zugestimmt hat und das von der großen Mehrheit der Vertragsstaaten als Staat anerkannt wird. Dabei würde eine Konstruktion angegriffen werden, die gerade ein Versuch ist, die Kompetenzen des Gerichtshofes zu wahren. Dieser sah sich nämlich nicht berufen über die Staatlichkeit von Palästina zu entscheiden.

Immunität von Staatsoberhäuptern im Überstellungsverfahren?

Wahrscheinlicher ist dagegen, dass sich die Bundesregierung auf den Standpunkt stellt, der Haftbefehl sei wegen Verstoßes gegen Art. 98 Rom-Statut ultra-vires ergangen, weil sich der Gerichtshof über die Pflicht hinweggesetzt hätte, keine Überstellungsersuchen zu stellen, durch die die Vertragsstaaten völkerrechtliche Verpflichtungen gegenüber von Drittstaaten verletzen müssen. Eine sperrende völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel könnte aus der völkergewohnheitsrechtlich anerkannten personellen Immunität von amtierenden Staatsoberhäuptern resultieren. Offensichtlich genießen Staatsoberhäupter von Vertragsstaaten gegenüber dem IStGH (Art. 27 Abs. 2 Rom-Statut) grds. keine Immunität. Israel ist aber kein Vertragsstaat.

Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass diese Frage durch die IStGH-Rechtsprechung eigentlich geklärt ist. Im Fall Al Bashir hat der IStGH entschieden, dass es eine völkergewohnheitsrechtliche Norm gäbe, wonach der Überstellung an einen internationalen Strafgerichtshof grundsätzlich keine Immunitäten entgegenstünden, so dass im Überstellungsverfahren auch keine Immunitäten verletzt werden könnten, weshalb Art. 98 Rom-Statut schon kein Hindernis darstellen könnte (Rn. 127ff.). An diese Entscheidung ist Deutschland gebunden.

Nun bleibt die Möglichkeit, dass die Bundesregierung auch diese Rechtsprechung für ultra-vires und damit nicht bindend hält. Dem stehen aber diverse Hürden im Weg. Denn die Rechtsprechung im Al Bashir Fall steht und fällt mit der behaupteten Existenz der völkergewohnheitsrechtlichen Norm.

Hier sei nochmal der strenge Prüfungsmaßstab erwähnt: Ein hinreichend qualifizierter Verstoß könnte nur dann angenommen werden, wenn die Annahme der Existenz dieser Norm, die die Überstellung wegen einer Ausnahme von der persönlichen Immunität gestattet, als solche methodisch nicht mehr nachvollziehbar und objektiv willkürlich wäre. Denn solange die Annahme der völkergewohnheitsrechtlichen Norm zumindest vertretbar ist, ist auch die Auslegung von Art. 98 Rom-Statut nicht objektiv willkürlich.

Konkretisiert werden muss auch, um welche Frage es geht. Maßgeblich ist nicht, ob Staatsoberhäupter Immunität vor internationalen Gerichten genießen, dies ist völkergewohnheitsrechtlich abzulehnen (IGH Arrest Warrants Rn. 61). Ausschlaggebend ist, ob sich diese völkergewohnheitsrechtliche Ausnahme auf die Überstellung durch einen anderen Staat an einen internationalen Gerichtshof erstreckt.

Auf der Hand liegt, dass Deutschland hinsichtlich der möglichen Überstellung Vladimir Putins zur opinio iuris maßgeblich beigetragen hat und innerstaatlich durch § 21 GVG die Annahme der Existenz einer solchen völkergewohnheitsrechtlichen Regelung bekräftigt hat. Auch die übrige Staatspraxis geht jedenfalls soweit, dass die Annahme der völkergewohnheitsrechtlichen Regel sich methodisch nachvollziehbar begründen lässt. Zwar lagen den Fällen Al-Bashir, Gaddafi, Milošević, Taylor und Kambanda Vorbefassungen des UN-Sicherheitsrates zugrunde. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass diese tragende Bedeutung für die Staatspraxis hatten. Hier würde zur Ablehnung einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm von einer Korrelation auf eine Kausalität geschlossen. Im Übrigen macht auch hier § 21 GVG deutlich, dass zumindest Deutschland nicht die Rechtsansicht vertritt, es bedürfe einer Vorbefassung durch den UN-Sicherheitsrat. Dies bekräftigen international die Reaktionen auf den Nichtvollzug des Haftbefehls gegen Putin durch die Mongolei und die innen- und außenpolitische Diskussion in Südafrika, die beide zeigen, dass sich die Staaten unabhängig von einer Vorbefassung des UN-Sicherheitsrates rechtlich nicht befugt sehen auf Immunität im Überstellungsverfahren zu verweisen.

Es ist ohnehin fraglich, ob es entscheidend auf Staatspraxis genau zu diesem konkreten Fall ankommt. Die Argumentation des IStGH zielt nämlich nicht auf eine neue völkergewohnheitsrechtliche Norm, sondern darauf, dass die Immunitäts-Ausnahme zugunsten von internationalen Strafgerichten von vornherein auch zur Überstellung ermächtigt hat. Täte sie das nicht, liefe eine völkergewohnheitsrechtliche Immunitätsausnahme nämlich faktisch leer, weil es ohne einen Staat der völkerrechtlich zur Vollziehung berechtigt ist, auch kein Verfahren geben würde (Al Bashir Rn. 127). Damit gründet sich die Norm in der Argumentation des IStGH nicht aus Staatspraxis unter dem Rom-Statut, sondern aus der gesamten Tradition internationaler Strafgerichtsbarkeit.

Noch einmal: der Prüfungsmaßstab

Diese abweichenden Rechtsansichten überzeugen auch deshalb nicht zur Begründung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes, weil sie weiterhin im Verfahren vor dem IStGH geltend gemacht werden können (Art. 19 Abs. 2, 4 Rom-Statut) und das Überstellungsverfahren zur Lösung dieses Konflikts ein Aussetzen des Vollzugs – wohlgemerkt nach Inhaftierung – ermöglicht (Art. 95 Rom-Statut).

Derartige Instrumente der wechselseitigen Rücksichtnahme erlangen im Rahmen einer ultra-vires-Kontrolle zentrale Bedeutung (BVerfGE 154, 17 Rn. 111). Verstärkt werden die Rücksichtnahmepflichten hier noch durch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Der deutsche Staat ist dadurch verpflichtet, alle Kooperationsmöglichkeiten auszuschöpfen und dem IStGH zumindest die Möglichkeit zu geben über die Frage der Immunität im konkreten Fall zu entscheiden, bevor an eine ultra-vires-Kontrolle überhaupt zu denken ist. Sich von Anfang an unkooperativ zu zeigen, steht der Bundesregierung auch bei etwaigen ultra-vires-Akten nicht zu. Die Festnahme könnte damit selbst bei Zugeständnis all der oben genannten Argumente nicht durch die Annahme eines ultra-vires-Aktes verhindert werden. Die Exekutive ist hier auf die Gerichte angewiesen, sollten diese schon das Bedürfnis für eine ultra-vires-Kontrolle nicht sehen, wäre die Bundesregierung auch dadurch gebunden. Eine eigene Prärogative steht ihr nicht zu.

Rechtspolitisch nichts zu gewinnen

Es kann nicht genug betont werden, wie rechtspolitisch fatal eine ultra-vires-Kontrolle unabhängig von ihrer fehlenden juristischen Stichhaltigkeit sein könnte. Jedes Argument, das den IStGH-Haftbefehl für Netanyahu zum ultra-vires-Akt erklärt, würde auch den Haftbefehl für Putin mit sich reißen. Deutschland würde durch eine ultra-vires-Kontrolle an den Stützpfeilern der internationalen Strafrechtsordnung sägen und dabei die eigene außenpolitische Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Als einer der stärksten Befürworter der internationalen Strafjustiz, sollte nicht unterschätzt werden, welche Folgen eine nur selektive Akzeptanz ihrer Entscheidungen durch Deutschland auf das System insgesamt hätte. Friedrich Merz kann hier nichts gewinnen, eine ultra-vires-Kontrolle ist aussichtslos, aber er kann alles verlieren, wenn er den Stein selektiver Rechtsanwendung erstmal ins Rollen gebracht hat. Es wäre eine zynische Verkehrung in sich selbst, wenn das Handeln im Dienste der Staatsräson erforderte, sich in Widerspruch zu denjenigen Standpunkten zu stellen, die ein Vermächtnis von Nürnberg sind.

Zitiervorschlag: Porwitzki, Nicolas, Alles zu verlieren, nichts zu gewinnen: Wider eine Ultra-vires-Kontrolle der IStGH-Haftbefehle, JuWissBlog Nr. 26/2025 v. 06.03.2025, https://www.juwiss.de/26-2025/

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Bundesregierung, IStGH, Völkerrecht, Völkerstrafrecht
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