von PHILIPP REHM
Am 14. November ist im neuseeländischen Parlament Hana-Rawhiti Maipi-Clarke aufgestanden, hat einen Gesetzesvorschlag zerrissen und gemeinsam mit den indigenen Te Pāti Māori einen traditionellen Haka aufgeführt. Für kurze Zeit bekommt das indigene Volk nun die Aufmerksamkeit der Weltbevölkerung; sonst werden sie immer wieder aus der Öffentlichkeit verdrängt. Dabei sollten gerade in Zeiten des Klimawandels indigenes Wissen und indigene Praktiken hochgeschätzt werden. Genau dieses Wissen wird allerdings immer wieder im und durch das (Völker-)Recht systematisch unterminiert.
Das Umweltvölkerrecht wird generell dafür kritisiert, dass es gegen Umweltschäden und den Klimawandel nicht effektiv vorgeht und im Gegenteil sogar derart gestaltet ist, dass es seinen selbst gesetzten Standards strukturell gar nicht gerecht werden kann. Dies liegt an der zugrunde liegenden dichotomen Beziehung zwischen Menschen und nicht-Menschen im Umweltvölkerrecht: In diesem ist die Natur hauptsächlich eine Ressource zum Vorteil der Menschen und frei zugänglich zur Ausbeutung. Zugleich werden durch den Universalitätsanspruch des Völkerrechts andere (inklusivere) Zugänge, wie diejenigen indigener Völker, verdrängt.
Der genannte Protest von Hana-Rawhiti Maipi-Clarke und den Maōri liegt (nur) eine nationale Streitigkeit über den „Vertrag von Waitangi“ aus dem Jahr 1840 zwischen den Māori-Häuptlingen und der damals noch britischen Krone zugrunde. 184 Jahre später versucht die rechts-konservative Partei ACT durch einen Gesetzesvorschlag diesen Vertrag zu verändern. Expert:innen zufolge birgt eine solche Änderung die Gefahr, dass jahrzehntelange Arbeit historisches Unrecht auszugleichen empfindlich beschädigt werden könnte.
Der konkrete Protest hat also gar nicht unbedingt mit (völker-)rechtlichen Fragen zum Umwelt- und Klimaschutz zu tun. Zugleich aber berührt er das strukturelle Problem der Verdrängung dezentral gelagerten Wissens indigener Völker, welches wiederum ganz unmittelbar mit effektivem Umwelt- und Klimaschutz zusammenhängt. Die Protestaktion kann genutzt werden, um Akteure wahrzunehmen, die durch epistemische Strukturen naturwissenschaftlicher und rechtlicher Wissensproduktion andernfalls verdrängt werden.
Das wertvolle Wissen indigener Völker
Weltweit gibt es etwa 476 Millionen Menschen aus indigenen Völkern. Diese machen ca. 6% der Weltbevölkerung aus. Als Beispiel für die kulturelle Vielfalt indigener Völker lässt sich das Beispiel der Sprachvielfalt nutzen: Von insgesamt etwa 6.000 verschiedenen Sprachen werden die Hälfte von Völkern mit unter 10.000 Menschen gesprochen. Etwa 95% der Weltbevölkerung sprechen hingegen nur 300 verschiedene Sprachen. Zum Nachteil indigener kultureller Vielfalt wird geschätzt, dass in den nächsten 100 Jahren 90% dieser Sprachen ausgestorben sein werden. Anerkannt ist, dass diese verschiedenen Kulturen im Einklang mit ihren Sprachen vom Aussterben bedroht sind.
Dabei sind indigene Völker, hier für die Umwelt und das Klima, ungemein wichtig. Etwa 28,1% der weltweiten Landmasse werden durch indigene Völker verwaltet und bewirtschaftet. Verglichen mit Land, das von nicht-Indigenen bewirtschaftet wird, gilt indigenes Land überwiegend als ökologisch intakt. In diesen Gebieten funktionieren natürliche Prozesse und Ökosysteme mit nur minimalem menschlichem Einfluss. Indigene Völker erfüllen so eine wichtige Doppelfunktion im Hinblick auf das Klima und die Umwelt: Sie verwalten Gebiete, die wichtig für eine gesunde Umwelt sind und sie besitzen Wissen, dass über ihre Gebiete hinaus für nachhaltiges Handeln Anwendung finden kann. Zu letzterem gehört, dass indigene Völker eine enge Beziehung zur Natur und ihrem Land kultivieren. So ist die Beziehung zwischen Menschen und nicht-Menschen bei indigenen Völkern erheblich verwurzelter und nachhaltiger als in Westlichen Kulturen. Diese (teils spirituelle) Form der Beziehung zur Natur wird allerdings klischeemäßig häufig als „subjektiv“ oder „willkürlich“ abgetan und mit „objektivem“ Westlichen Wissen negativ verglichen. Dies ist bereits an sich Zeichen einer problematischen Verdrängung einer großen Gruppe an Menschen.
Strukturelle Unsichtbarkeit in der Naturwissenschaft und im Recht
Klimaforscher:innen versuchen schon lange auf indigenes Wissen zu rekurrieren, gerade weil es sich im Vergleich mit Westliche Kulturen als weitaus nachhaltiger erwiesen hat. Gleiches gilt für die UN, wo erst kürzlich auf die Wichtigkeit indigenen Wissens hingewiesen wurde. Jedoch wird in den Naturwissenschaften bereits länger über einen Westlichen bias gestritten, da indigenes Wissen, wenn überhaupt, lediglich in eigene (Westliche) Methoden integriert wird. Eine distinkte, eigenständige Anerkennung indigener Wissensproduktion findet hingegen nicht statt. Eine solche würde die Dezentralität von Wissensproduktion sowie die Anerkennung auch widersprüchlicher Ergebnisse voraussetzen.
Ganz ähnliche Debatten lassen sich im (Völker-)Recht finden. Dem Völkerrecht wird bspw. durch die Third World Approaches to International Law [TWAIL] vorgeworfen, sehr einseitig Westlich-hegemoniale Ideen umzusetzen, wobei die eigentliche Vielfalt derjenigen Kulturen, die dem Recht unterworfen sind, nicht anerkannt werden.
Die unmögliche Aufgabe aktiv Widersprüche zuzulassen
Im Recht und in rechtlichen Kategorien fällt es schwer aus einer Logik der Universalität und der dichotomen Kategorien gedanklich wie begrifflich auszubrechen. Als Beispiel: Der Staatsbegriff setzt den nicht-Staat voraus. Im Recht gibt es unzählige Binaritäten wie das Öffentliche und das Private, Rechte und Pflichten, das Nationale und Internationale. Immer wenn das Recht allerdings solche Binaritäten produziert und deren Trennung suggeriert, wird sein Gegenstück notwendigerweise miterzeugt und so in Wahrheit auch zusammengehalten: Wer einen Staat definiert, definiert auch den nicht-Staat.
In Bezug auf das Umweltvölkerrecht ist die problematischste Binarität Menschen/nicht-Menschen. Hinzu treten die Gegensätzlichkeit von Subjekt und Objekt, sowie sozial und natürlich. Über diese Begriffe wird eine Weltbeziehung konstruiert, die hauptsächlich dazu beiträgt, dass sich ausbeuterische Kulturen verselbstständigen und eine nachhaltigere und konstruktivere Beziehung zur Natur unmöglich machen. Diese binären Begriffe finden sich in rechtlichen Rechtfertigungen wieder, welche dem Vorwurf (etwa durch TWAIL) ausgesetzt sind, dass asymmetrische Machtverhältnisse den Ausgang dieser Diskurse ohnehin bereits im Vorhinein zugunsten der Westlichen Perspektive festlegen.
Eine andere Beziehung zwischen Menschen und nicht-Menschen wird allerdings von indigenen Völkern gelebt. Diese kultivieren anstelle von harten, binären Gegensätzen, ein fluides Verständnis von Menschen und nicht-Menschen, wodurch deren begriffliche und materielle Einheit hervorgehoben wird. Indigenes Wissen und die Einsicht, einen anderen Umgang mit diesen fundamentalen Binaritäten zuzulassen, setzen voraus, dass sprachlich im Völkerrecht, aber auch im nationalen Recht, ein Begriff des dezentralen Lokalen zugelassen wird.
Dem Drang zum Universellen und Globalen muss hier eine widerspruchszulassende Auseinandersetzung mit dem Lokalen entgegengesetzt werden. Dies lässt sich etwa dadurch erreichen, dass lokale und indigene Gemeinschaften überhaupt erst als Rechtfertigungsautoritäten anerkannt werden. Aus einer Diskursperspektive wäre dies ein großer Fortschritt, da neue Räume der Rechtfertigung erschlossen und neue Teilnehmer an rechtfertigenden Diskursen zugelassen werden. Eine solche Dezentralisierung der Erzeugung von Wissen setzt aber voraus, dass Widersprüche und explizit nicht-Westliche Gegensätze auch im Recht aktiv eingefordert werden. Nicht in einer Form der Integration, sondern in Anerkennung ihrer Eigenständigkeit.
Das neuseeländische Parlament als metaphorischer Ruck
Was ist also im neuseeländischen Parlament geschehen? Menschen sind aufgestanden. Sie haben die parlamentarische Etikette gebrochen und haben ihre Kultur in einem Umfeld praktiziert, das sie sonst als Andere unterminiert. Durch dieses Geschehen wurden sie als eigenständige Gruppe weltweit sichtbar. Zugleich wurde aber auch sichtbar, dass sich indigene Völker ihre Rechte und ihre Anerkennung immer wieder selber erkämpfen. Die mutige Aufführung des Haka kann mithin als metaphorischer Ruck genutzt werden, um die Selbstständigkeit indigener Völker und ihr wertvolles Wissen anzuerkennen, zu schützen und ganz besonders wertzuschätzen. Indigene Völker spielen unter anderem als „Wächter der Natur“ eine so unverzichtbar wichtige Rolle, dass ihre Verdrängung kaum vorstellbar schlimme Auswirkungen auf den Umwelt- und Klimaschutz hat.
Zitiervorschlag: Rehm, Philipp, Eine unmögliche Aufgabe: Die Sichtbarkeit indigener Völker und der Klimawandel, JuWissBlog Nr. 78/2024 v. 03.12.2024, https://www.juwiss.de/78-2024/
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