Überstellungen nach Italien nun rechtlich möglich – Systemische Mängel adé?

von HODA BOURENANE

Anerkannte Flüchtlinge dürfen nach Italien abgeschoben werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem jüngsten Urteil (Urt. v. 21.11.2024, Az. 1 C 24.23) entschieden. Dadurch rückt nun die Frage nach den Kriterien in den Vordergrund, die erfüllt sein müssen, damit das Vorliegen von systemischen Mängeln festgestellt werden kann, die einer Rückführung der betroffenen Personen entgegensteht.

Die Zuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung und Systemische Mängel

Die der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrundeliegende Frage, ob eine anerkannt schutzberechtigte Person in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union rücküberführt werden kann, richtet sich nach der Dublin-III-Verordnung. Diese legt Kriterien fest, anhand derer die Zuständigkeit des jeweiligen Mitgliedstaats für die Bearbeitung des Asylantrags erfolgt. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegt keine Zuständigkeit für Durchführung des Asylverfahrens der Bundesrepublik vor, sofern durch einen anderen Mitgliedstaat – wie hier durch Italien – bereits internationaler Schutz gewährt worden ist. Nichtsdestotrotz kann dieser Grundsatz durchbrochen werden, wenn der betroffenen Person im anderen Dublin-Staat aufgrund des Vorliegens von systemischen Mängeln Menschenrechtsverletzungen drohen.

Bei der Beurteilung ob ein systemischer Mangel vorliegt, wird darauf abgestellt, ob bei der Rückkehr in den Mitgliedstaat, der die Flüchtlingseigenschaft verliehen hat, den betroffenen Personen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh (bzw. des dem entsprechenden Art. 3 EMRK) droht. Um zu ermitteln, ob eine Verletzung des Art. 4 GRCh vorliegt, betrachtet die Rechtsprechung die Bereiche Unterkunft, Ernährung und Hygiene („Bett, Brot, Seife“). Danach liegt eine Verletzung vor, wenn die betroffene Person aufgrund der Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaates nicht in der Lage ist ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen und ihr in dieser Situation der extremen materiellen Not eine Verelendung droht, die mit der Menschenwürde nicht vereinbar ist.

Keine systemischen Mängel in Italien für bestimmte Personengruppen

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beruht auf den Fällen einer syrischen und somalischen Staatsangehörigen, die in Italien bereits die Flüchtlingsanerkennung erhalten haben und in die Bundesrepublik weitergereist sind. Nach ihrer Einreise lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die jeweiligen Asylanträge wegen Unzuständigkeit der Bundesrepublik nach § 29 Abs.1 Nr. 2 AsylG ab.  Die beiden Betroffenen klagten gegen den Unzulässigkeitsbescheid, hatten in den Vorinstanzen allerdings keinen Erfolg. Auch die vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zugelassene Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht bestätigte die Auffassung der Vorinstanzen.

Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hatte von der seit 01.01.2023 bestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Revision zum Bundesverwaltungsgericht als sog. Tatsachenrevision nach § 78 Abs. 1 Nr. 8 AsylG zuzulassen. Die Tatsachenrevision wurde durch den Gesetzgeber eingeführt, um durch eine einheitliche Lagebewertung der Verhältnisse im Herkunfts- oder Zielstaat der betroffenen Personen zu etablieren, die für eine Vielzahl von Verfahren zu Rechtsklarheit führen soll. Die Zulassung setzt voraus, dass eine abweichende Lagebewertung durch das zulassende Oberverwaltungsgericht gegenüber einem anderen Oberverwaltungsgericht oder dem Bundesverwaltungsgericht besteht, vgl. § 78 Abs. 8 AsylG.

In dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall, bejahte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein Westphalen zuletzt ganz allgemein das Vorliegen von systemischen Mängeln bei den italienischen Behörden, insbesondere in den Fällen einer drohenden Obdachlosigkeit. Das Oberverwaltungsgericht Rheinlandpfalz hingegen vertrat, dass nichtvulnerablen, erwerbsfähigen und anerkannten Flüchtlingen bei einer Rückkehr nach Italien zwar die Obdachlosigkeit drohe, dies allerdings keine Ausnahmesituation darstelle. Somit verneinte das Oberverwaltungsgericht Rheinlandpfalz das Vorliegen eines systemischen Mangels. Im Gegensatz zum Oberverwaltungsgericht Nordrhein Westphalen untersuchte es das Vorliegen von systemischen Mängeln für eine klar definierte Personengruppe. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit seinem Urteil nun die Rechtsaufassung des Oberverwaltungsgerichts Rheinlandpfalz und führte unter anderem aus, dass hinsichtlich des hervorgebrachten Risikos der drohenden Obdachlosigkeit keine materielle Notlage vorliegen würde. Es verwies auf das Angebot an temporären Unterkünften sowie Notschlafstellen durch nichtstaatlicher Träger:innen, sowie die Möglichkeit der Sicherung des Existenzminimums durch Erwerbstätigkeit.

Prozessrechtliche Erwägungen und Fazit

Derzeit reagiert Italien nicht auf Übernahmegesuche, sodass die Diskussion darüber, ob diese Personengruppe tatsächlich rücküberführt wird, sich auf theoretischer Ebene abspielt. Unter der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni besteht weiterhin ein Aufnahmestopp für Schutzsuchende aus den EU-Mitgliedstaaten. Dennoch offenbart das Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen Paradigmenwechsel in der Bewertung für welche Personenkreise ein systemischer Mangel vorliegt.

So wurde die Tatsachenlage in Bezug auf Italien für den betroffenen Personenkreis verbindlich festgelegt worden. Es stellt sich im Hinblick auf die zugrundeliegende Lagebeurteilung die Frage, ob sie den Startschuss darstellt, um die Beurteilung der Lage auch für Länder wie Malta oder Griechenland zu reevaluieren. Derzeit sind weitere Tatsachenrevisionen, unter anderem bezüglich der Lagebewertung in Italien für vulnerable Personen (VGH München, Urteil v. 21.03.2024 – 24 B 23.30860) und der Lage in Griechenland für dort als schutzberechtigt anerkannte Personen anhängig (VGH Hessen, Urteile vom 06.08.2024 – 2 A 489/23). 

Ferner bleibt hervorzuheben, dass von der neu geschaffenen Tatsachenrevision erstmals Gebrauch gemacht worden ist. Bei der Bewertung der Lage im Herkunfts- oder Zielland der betroffenen Personen wurden keine neuen Beweismittel eingeholt. Es wurde lediglich Rückgriff auf bestehende Erkenntnismittel genommen. Dies könnte insofern problematisch sein, als dass tagesaktuelle Entwicklungen außer Betracht gelassen worden sein könnten. Insbesondere der Verweis auf die Sicherung des Existenzminimums der betroffenen Personen durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit offenbart eine Lagebewertung auf Grundlage einer hypothetischen Möglichkeit, die losgelöst vom faktischen Arbeitsmarktzugang erfolgt. Auch der Verweis auf die Existenz nichtstaatlicher Hilfsprogramme vor Ort vermag keine Aussage darüber zu treffen, inwieweit die italienischen Behörden bemüht sind eine menschenrechtswürdige Existenz der betroffenen Personengruppe zu fördern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tatsachenrevision und die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts eine restriktivere Handhabung bei der Ermittlung der Zuständigkeit der Bundesrepublik für die Asylanträge anerkannter Flüchtlinge zugrunde legen. Es bleibt offen, inwieweit die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts auch in die Lagebewertung anderer EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich der Abschiebung nach Italien Einfluss finden wird.

Zitiervorschlag: Bourenane, Hoda, Überstellungen nach Italien nun rechtlich möglich – Systemische Mängel adé?, JuWissBlog Nr. 79/2024 v. 05.12.2024, https://www.juwiss.de/79-2024/

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Abschiebung, Asylrecht, Bundesverwaltungsgericht, EuGrCh, Hoda Bourenane, Migrationsrecht
Nächster Beitrag
Doch kein schwaches Parlament – Aber wie lange und zu welchem Preis?
Vorheriger Beitrag
Eine unmögliche Aufgabe: Die Sichtbarkeit indigener Völker und der Klimawandel

Ähnliche Beiträge

von EMANUEL MATTI Im Jahr 2014 wurden 72% aller Anträge auf internationalen Schutz in fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union gestellt. Daher will die Europäische Kommission das „Dublin-System“ evaluieren, um eine „fairere Verteilung“ zu erzielen. Hinsichtlich der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der zur Prüfung eines Antrags auf internationalen…
Weiterlesen
Schwerpunktwoche Migrationsrecht von JUWISS-REDAKTION An diesem Montag findet im Innenausschuss des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung statt. Der Gesetzentwurf schlägt zahlreiche Änderungen des Aufenthaltsgesetzes vor. So soll eine allgemeine, nicht nur für Jugendliche geltende stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung für integrierte Geduldete…
Weiterlesen

LEGALIZE IT!

Die geplante neue Bleiberechtsregelung und ihre Antwort auf irreguläre Migration von JOHANNES EICHENHOFER Am 7.4.2014 hat das Bundesinnenministerium (BMI) einen Entwurf für eine neue Bleiberechtsregelung vorgelegt. Diese sieht vor, dass bislang lediglich „geduldeten“ Ausländern, sofern sie sich „nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert“ haben, erstmals alters- und stichtagsunabhängig…
Weiterlesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.