von SARAH GEIGER
Am vergangenen Mittwoch stürzten die französischen Parlamentarier die Regierung von Premierminister Michel Barnier mit den Stimmen der Linken und des rechtspopulistischen Rassemblement National. Im politischen System der fünften Republik ist das Ereignis keine Trivialität. Verfechterinnen eines starken Parlaments könnten angesichts der legislativen Machtgeste zu Jubel geneigt sein. Doch Freude über ein sich selbst ermächtigendes Parlament scheint nicht angebracht.
Politischer Kontext des Misstrauensantrags
Michel Barnier, Premierminister im Amt für exakt drei Monate, provozierte das Regierungsende zu Beginn der vergangenen Woche. Man erinnert sich an die schwierige Suche nach einem Premierminister während des Sommers, nachdem die von Präsident Emmanuel Macron anberaumte vorzeitige Neuwahl der Nationalversammlung keine klaren Mehrheitsverhältnisse hervorgebracht hatte. Da der Staatschef jedenfalls nach einem engen Verständnis vom Wortlaut der Verfassung frei in seiner Ernennungsentscheidung des Regierungschefs ist, wählte Präsident Macron mit Barnier eine Personalie, die weder den Vorstellungen von ganz rechts noch den Forderungen des linken Parteienzusammenschlusses entsprach.
Fragile Mehrheiten – sofern das Wort noch angebracht ist – können für die Verabschiedung neuer Gesetze hinderlich sein. Erst recht, wenn eine breite Opposition, sei sie noch so heterogen, an der Regierungslegitimität zweifelt.
So zeichnete sich ab, dass Barniers Regierung für ihren Gesetzesvorschlag über die Finanzierung der Sozialversicherung 2025 – selbst nach Zugeständnissen an andere politische Lager – keine legislative Mehrheit finden würde. Die formelle Einbringung des Vorhabens in das Legislativverfahren erschien daher aussichtslos. Beobachtern der französischen Politik dürfte seit Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Macron bekannt sein, dass die französische Verfassung für eine derartige Blockadesituation ein recht unparlamentarisches Instrument bereithält.
Gemäß Artikel 49.3 der französischen Verfassung kann der Premierminister vor der Nationalversammlung „die politische Verantwortung der Regierung für die Abstimmung über […] einen Gesetzentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung übernehmen“. Der Entwurf gilt als angenommen, wenn nicht innerhalb der darauffolgenden vierundzwanzig Stunden ein Misstrauensantrag eingebracht – und sodann von einer parlamentarischen Mehrheit angenommen – wird. Mit anderen Worten: Artikel 49.3 erlaubt es der Regierung, ein Gesetz ohne Beteiligung der Legislative zu verabschieden. Mittels dieser Regelung stellt der Premierminister ein unkooperatives Parlament gewissermaßen vor ein Ultimatum: Entweder das Gesetz wird durchgewunken oder die Regierung ist bereit, zu gehen. Seit Inkrafttreten der Verfassung 1958 kam es auf dieser konstitutionellen Grundlage jedoch zu keinem Regierungssturz.
Darauf vertraute wohl auch Barnier, als er Anfang Dezember ankündigte, für die Verabschiedung des dringend benötigten Gesetzes über die Finanzierung der Sozialversicherung Artikel 49.3 anzuwenden. Allerdings sprach ihm daraufhin die Nationalversammlung das Misstrauen aus. Zustande kam die nötige Mehrheit, indem der rechtsextreme Rassemblement National einem Misstrauensantrag der linken Fraktion zustimmte.
Entsprechend der in Artikel 50 vorgesehenen Rechtsfolge musste Barnier sodann den Rücktritt der Regierung bei Präsident Macron einreichen. In der Verfassungspraxis bedeutet dies, dass der Präsident – wie geschehen – Premierminister und Minister gemäß Artikel 8 der Verfassung entlässt.
Die große Stunde der Parteien?
Wird nun alles anders, besser? Mitnichten.
Zunächst einmal ist zu aktueller Stunde kaum auszuschließen, dass Präsident Macron wieder einen Premierminister ernennen wird, der keine klare parlamentarische Mehrheit hinter sich vereinen kann. Entgegen im Sommer gezogener Vergleiche zwischen dem deutschen und französischen Politiksystem ist eine (langen) Parteiverhandlungen folgende, koalitionsbasierte Regierungsbildung der Funktionsweise der Fünften Republik schlicht fremd.
Der erste Präsident der Fünften Republik, Charles de Gaulle, der die gegenwärtige Verfassung im Jahr 1958 mit dem Juristen Michel Debré entwarf, stand politischen Parteien – milde gesagt – skeptisch gegenüber. Aus den Erfahrungen der Dritten und Vierten Französischen Republik heraus stand de Gaulle für eine starke, möglichst parteiunabhängige Stellung des Staatspräsidenten. Im Jahr 1946 (Beginn der Vierten Republik) wird etwa in Le Monde der durch die Verfassung provozierte „Pseudo-Staatschef“ angeprangert, der Spielball eines Parteiensystems ist. Von einem solch fragilen Staatschef, und mit ihm die Regierung, sollte Abkehr gefunden werden. So war es zwölf Jahre später de Gaulles Bedingung, um ein zweites und letztes Mal eine Regierung unter der Vierten Republik zu bilden, eine neue Verfassung schreiben zu können. Dieses Verfassungssystem sollte Stabilität durch eine starke Exekutive und unbedeutsame Parteien gewährleisten.
Frankreich und Österreich: ähnliche Verfassungen, unterschiedliche Traditionen
Was häufig unberücksichtigt bleibt (s. aber die Arbeiten von Armel Le Divellec, jüngst: Une leçon autrichienne de droit constitutionnel (pour la France), ist, dass de Gaulle sich bei Abfassen der neuen Verfassung am Österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) von 1920 orientierte. Auch das B-VG erlaubt es dem Präsidenten, die Nationalversammlung aufzulösen (Art. 29) – wie der seit diesem Sommer bekannte Art. 12 der französischen Verfassung. In Österreich wird – wie in Frankreich – der (Bundes-)Präsident vom Volk gewählt (Art. 60 B-VG bzw. Art. 6 der französischen Verfassung). Und schließlich ernennt der (Bundes-)Präsident in beiden Staaten den Regierungschef (Art. 70 B-VG bzw. Art. 8 der französischen Verfassung).
Der feine Unterschied zwischen den beiden Systemen liegt jedoch in der tatsächlichen Verfassungspraxis. Der französische Präsident rechtfertigt seine (All-)Macht gerne mit seiner Direktwahl und – so lässt es sich bei Präsident Macron beobachten – erachtet sich daher in der Wahl des Premierministers als (vermeintlich) frei von Parteiquerelen. Der österreichische Bundespräsident folgt demgegenüber dem parlamentarischen Mehrheitswillen.
Während sich Verfassungssysteme also auf dem Papier ähneln, kann die politische Realität völlig divergieren. Dies gründet in tiefliegenden Verfassungstraditionen und Kulturen, die sich nicht einfach ändern.
(K)ein Verfassungswandel à l’autrichienne
Es wäre der nachhaltigste Weg aus der Regierungsblockade in Frankreich, wenn sowohl Staatschef als auch Parlament den Premierminister als Repräsentanten einer parlamentarischen Mehrheit anerkennen würden. Und zwar gerade auch dann, wenn eine solche Mehrheit nur über den koalitionären Zusammenschluss mehrerer Parteien zustande kommt. Darin liegt auch der entscheidende Unterschied zum – Ausnahmefall – der sogenannten „cohabitation“, in dem die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung aus einem anderen politischen Lager als der Staatschef stammte. Zu politischen Zeiten, in denen es im Wesentlichen zwei große politische Parteien gab (Konservative und Sozialisten), kam der Staatschef qua Verfassungstradition zur Vermeidung einer Blockadesituation nicht umhin, einen Premierminister entsprechend der parlamentarischen Mehrheit zu ernennen.
Die Stunde der destruktiven Mehrheit
Doch den Premierminister als steten Vertreter der (zusammengesetzten) parlamentarischen Mehrheit und damit als echten Chef einer parlamentarisch legitimierten Regierung anzuerkennen – das tun die Parlamentarier in Wahrheit selbst nicht. Dies zeigt sich an Parteiforderungen, Präsident Macron müsse aufgrund der Blockadesituation selbst zurücktreten. Hierin liegt eine Vermischung des Schicksals von Staats- und Regierungschef, die es in einer klar parlamentarischen Demokratie gerade nicht geben sollte.
So ist zu befürchten, dass einige Parteien nur so lange an einer Aufwertung des Amtes des Regierungschefs interessiert sind, wie sie selbst keinen Staatschef stellen, der mit der Rückendeckung eindeutiger Parlamentsmehrheit durch einen Premierminister hindurch selbst regieren kann.
Einstweilen, man hat es kürzlich auch in Deutschland gesehen, scheint parteipolitischer Opportunismus gegenüber kooperativem Zusammenwirken den klaren Vorrang zu genießen. Erinnerungen an eine Phase politischer Instabilität werden in Frankreich wach, wenn der ehemalige Premierminister Édouard Philippe vor einer Wiederkehr des „Parteienregimes“ warnt.
Dass destruktives Zusammenwirken vor allem den Extremen dient, wagt man kaum laut zu sagen. Entgegengesetzte Lager, die sich einzig im Parlament zusammenfinden, um eine unliebsame Regierung zu stürzen, gab es auch am Ende der Weimarer Republik.
Zitiervorschlag: Geiger, Sarah, Doch kein schwaches Parlament – Aber wie lange und zu welchem Preis?, JuWissBlog Nr. 80/2024 v. 12.12.2024, https://www.juwiss.de/80-2024/
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